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Sozialdemokratische Sonnenverehrung (V)

Jamal Tuschick


Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 5. Teil.

Seelisch obdachlos

Nach der Scheidung von Onkel Klaus nahm Tante Almut ihren Mädchennamen wieder an. Sie nannte ihre Befreiung eine Niederlage, um bei der Verwandtschaft und im Bekanntenkreis nicht zu unabhängig rüberzukommen. Dann tat sie auch noch, als sei sie in der Niederlage bis zur Verblödung verjüngt worden. Almut gefiel sich in einem Zustand fiktiver Unreife.

Almut verkaufte weiter immer lustig Käse- und Speckkuchen im Korridor vor der Backstube Schlipp. Ich zählte seit meinem dritten Lebensjahr zur Kundschaft. Zum Bäcker gehen, war eine Leidenschaft. Mir gefiel die Strecke, sie war mit dem schönsten Umweg meiner Kindheit verbunden. Ich bummelte und trödelte und träumte mit offenen Augen. Außerdem war ich ein passionierter Gleisbettgänger, mit einem früh entwickelten Sinn für die Schönheit stillliegender und schwach frequentierter Schienenstränge. Einst hatte das Dorf einen Bahnhof gehabt. Davon übriggeblieben war ein überwucherter Steig über Schienen. Sie führten schnurgerade sonst wohin. In weichen Kurven bogen von der Hauptstrecke Gütertransportwege ab. Sie dienten nur noch selten genutzten Verbindungen zwischen unseren Großbetrieben im Industriegebiet und dem Hauptbahnhof. Eine Strecke hatte ihr eigenes Tal. Die Wände eines künstlichen Canyons engten das Tal ein. Auf den Kämmen wuchsen Brombeersträucher, von der Bevölkerung weitgehend unbeachtet, in dornigen Verschlingungen grimmig zusammen. Nie sah ich da jemanden das Fest einer Beerenlese begehen. Die Fronten des Reiterhofs, meines Kindergartens und eines bäurischen Anwesens begrenzten die innerdörfliche Perspektive. Entlang der Rückseiten floss der Michelbach. Ab und zu patrouillierte der alte Schreiber mit seinem Schäferhund auf dem Pfad zwischen Bach und Feldern. Schreiber sah aus wie Wolfgang Thierse. Er war bei der Stadt im öffentlichen Dienst kein kleines Licht. Er wohnte mit seiner Frau und einem Sohn im Elternhaus. Erfüllt von einem nachstellenden Misstrauen, war Schreiber die Unfreundlichkeit in Person. Sozialdemokrat war er vielleicht nur wegen des richtigen Parteibuchs. Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls habe ich ihn nie etwas Sozialdemokratisches sagen hören, so wenig wie andere regelmäßige Teilnehmer an den Ortsvereinssitzungen. Wir müssen darüber noch mal reden.

Schreiber war ein Freund von Onkel Klaus. Die beiden bauten viel im/am Haus, mal in/an dem einen, mal in/an dem anderen. Selbst die Zwinger auf ihren Grundstücken waren Kleinode mit Schmiedekitsch und Drechselwerk.

Ich weiß nicht, warum Schreiber in meiner Erinnerung nicht erloschen ist. Er war nicht wichtig in meinem Leben. Ich bewahre der Widersprüchlichkeit seiner Persönlichkeit kein besonderes Andenken; ich erlebte extreme Typen; die Provinz ist ein Eldorado des Eigensinns. Seelisch Obdachlose vor Fernsehern in großen Häusern … der Vater eines Freundes war im Polizeidienst angeschossen worden und wartete im Rollstuhl die Jahre ab, die der Täter anders absitzen musste. Als der Schütze wieder freikam, erschoss der Vater erst ihn, bevor er sich selbst erschoss. Beides mit Ansage. Jahrelang täglich.

„Ich warte nur noch, bis das Schwein wieder draußen ist.“

In der Zwischenzeit hatte ihn die Mutter meines Freundes verlassen und einen Kollegen ihres Ex-Mannes geheiratet.

Der Irrsinn grassierte. Wahnsinn muss man sich leisten können. Die meisten Leute im Dorf waren nicht bloß mit dem Überleben beschäftigt. Sie hatten Spielräume, die sie monoman mit aberwitzigen Haustieren, Versandhausreizwäsche und den Konsultationen von Wahrsagern ausfüllten.

Zum Beispiel Klaus. Er verachtete Buchwissen. Wohl wissend, dass ich von den Büchern überhaupt nicht wegzukriegen war, predigte er meinen tauben Ohren die Freuden des tätigen Lebens. Er war so strunzstolz auf seine Heimwerkerleistungen. Er liebte es, überlange Kabel hinter sich herziehend, mit einer Schlagbohrmaschine auf seinem Grundstück spazieren zu gehen. Er wallfahrte und lustwandelte im Eigentum.

Wir, das heißt meine Familie, waren arme Schlucker. Mein Vater hielt sich mit etwas so Sinnlosem wie der Parteiarbeit auf. Das war Zeitverschwendung. In der Zeit konnte man einen Zaun geradeziehen oder was für die Frau bauen, solange man sie noch hatte.

Die Frau konnte einem eh leichter zu viel werden als das Haus und noch eine Garage, die zunächst nur als Stauraum und für eine günstig erstandene Tiefkühltruhe neben die natürlich zum Haus gehörende Doppelgarage demnächst gebaut werden wollte.

Wir hatten keine Garage. Noch lebten wir in der Siedlung. Mein Vater hatte viel zu lange zum Stamm der Fahrradfahrer und Busnutzer gehört. Ein Befremden nahm den vertrauten Anblick von Vätern an Haltestellen oder auf Fahrrädern aus der Selbstverständlichkeit. Mit solchen Vätern war nicht alles in Ordnung.

Es gab keinen „normalen“ Mann im richtigen Alter, der nicht Vater gewesen wäre. Kinder gehörten dazu. Man war nicht komplett ohne Familie. Die Anstrengung, als Kinderloser Achtung zu ernten, hätte jeden fertiggemacht. 

Das machte es allen leicht. Auch Almut und Klaus waren normal mit ihren zwei Plagen, die, und genau da trennte sich die Spreu von Weizen, beim Vater geblieben waren. Almut wohnte jetzt bei ihrem Bekannten in Bergshausen und pendelte ins Dorf. Sie nahm den Bus, sie zahlte den Preis. Sie blieb sich treu und verkaufte so sonnig wie eh und je Plundergebäck und Bienenstich. Den Speckkuchen gab es nur mittwochs.

Ich vergaß mich in den Backstubengerüchen. Die Mischung aus Pflaumenmus und Nougat schmeckte meiner Nase am besten.

Ich trug das Brot davon und nagte am Knust, so dass es hoffentlich nicht auffiel. Frisches Brot war für mich eine Delikatesse. Nur war frisches Brot nach einem verbreiteten Aberglauben ungesund. Deshalb gab es kein frisches Brot.

Abschied und Aufbruch

Iris Leise bekannte sich zum Christentum ihres evangelischen Vaters. Sie erklärte sich im Geist der kämpfenden Kirche Lateinamerikas. Der Reigen vollzog sich zwischen Weltrevolution, ausreichend Schlaf und Hava Nagila. Was haben wir Hava Nagila gesungen. Wie oft bin ich weggeschickt worden, weil Iris schlafen musste.

Maurische Festung

Mit dem Journalisten Egon Bahr als jungem Skeptiker wäre auch der Spion, der aus der Kälte kam, gut besetzt gewesen. Bahr war ein Schattenmann im Kalten Krieg – der Garant für die Unantastbarkeit seines Chefs Willy Brandt, dem regierenden Bürgermeister von Berlin. Damals, in den 1960er Jahren, glich die Frontstadt einem Vulkan vor dem Ausbruch. Über den rauchenden Kratern ging Tag und Nacht ein Informations- und Desinformationsgewitter nieder. Es gab mehr Agenten als Gastwirte in diesem „Schaufenster des Westens“.

Das erzählte Heinrich Leise im überdachten Lichthof jener maurischen Festung, mit der er seinem Faible für alles Arabische ein Denkmal gesetzt hatte. Der Fremdkörper stand auf einer Brache zwischen Plattenbauten und den Schmuckstücken der documenta urbana. Mit Heinrichs Tochter Iris durchstreifte ich fast täglich die Dönche – ein Naturschutzgebiet am Rand des Habichtswaldes. Ich gehörte zur Familie, kümmerte mich um die Fahrzeuge und den Transport schwerer Gegenstände. Der praktische Nutzen eines jungen Mannes, dessen Vertrauenswürdigkeit außer Frage stand, wurde hochgeschätzt und wie eine tierische Leistung mit Nahrung und Streicheleinheiten entgolten. Heinrichs Frau, die katholische Margarete, fasste den Verehrer ihrer Tochter gern an.

Margarete war nichts peinlich. Ihre Zuneigung fand ich so verlockend wie befremdlich. Heute noch ist es mir nicht möglich, eine narrative Prise mit Anspielungen auf die erotische Doppelladung einzustreichen. Mich überforderte das Interesse einer erwachsenen Frau. Margarete war eine geborene Dupont. Ihre hugenottischen Vorfahren waren in der evangelischen Hochburg Kassel katholisch geworden. Die Nachkommen protestantischer Religionsflüchtlinge hatten in der Diaspora freiwillig die Religion ihrer Verfolger angenommen. Margarete war in ihrer Familie konfessionell isoliert. Glaubensfragen wurden diskutiert. Das kannte ich auch nicht von meinen Eltern. Wir waren „ungläubig wie die Heiden“.

Heinrich stammte aus dem Göttinger Bürgeradel und hätte das bequeme Leben eines CDU-Provinzgranden führen können. Er hatte sich aber herkunftswidrig – und deshalb für mich unplausibel – für die SPD entschieden und diente nun dem handfesten, proletarisch basierten, hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner („Dachlatten-Börner“) als Kultur- und Nahost-Experte.

In meiner Jugend schloss sich, vereinzelter Gegenbeispiele zum Trotz, Reichtum und Linkssein aus. Die Reichen waren rechts und bewegten sich in anderen Kreisen. Besonders paradox erschienen mir deshalb die Verhältnisse der Leises. Heinrich entsprach meiner Vorstellung von einem Grandseigneur. Heinrich liebte die Palästinenser. Er ordnete die Wege ihrer akademischen Hoffnungsträger in Deutschland auf eine sehr persönliche Weise. Margarete trat auf wie eine Ministergattin. Hessen war ein Erbhof der SPD, die bürgerlichen, nicht über die Gewerkschaften aufgestiegenen Spitzenkräfte der Partei verhielten sich wie Schranzen. Sie tradierten die Beamtenüberheblichkeit der kurfürstlichen und landgräflichen Bediensteten, die ja von Gott persönlich auf ihre Plätze als Gärtner und Bergbauinspekteure gestellt worden waren.

Bella Ciao

In Marburg stieg Hannes Wader zu. Er war unser Pete Seeger. Wir sangen „Bella Ciao“, bis wir in Frankfurt am Main einfuhren und uns die Lederjackenträger der Putztruppe frenetisch einen großen Bahnhof bereiteten.

Im Zug beanspruchte ich so wenig Platz wie möglich, während Madeleine mit ihren Sachen das Abteil okkupierte. Sie kam aus einer Familie von Benson & Hedges-Rauchern. Sogar die Klos in Madeleines Elternhaus hatten originelle Formen und erinnerten an S. Dalis zerlaufene Uhren. Der alte Benson trug Protzuhren und die weißen Hemden mit der schwarzen Rose der Markenbewussten. Er hatte Schuhe für zu Hause, um nicht zum Pantoffelhelden zu werden. Er war der einzige Konsument aus Leidenschaft in dem Milieu meiner Kindheit und Jugend. In seinen Garagen und Kellern verwandelten sich Gegenstände in Plunder. Der bloße Anhäufungswahn suggerierte seelische Verwahrlosung. Benson trat stets mit Kippe und Glas auf. Die Stimme rauchte. Im Wohnzimmer gab es eine modische Vertiefung, Sitzsäcke und eine Kaminattrappe. Täglich wurde gründlich saubergemacht. Dafür hatte man Personal.

Die Wahrheit ist manchmal nur ein Strich in der Landschaft. Nun saßen wir im Zug nach Frankfurt am Main. Zum ersten Mal sollte ich jene sagenhafte Kommune kennenlernen, die Madeleine aufgenommen hatte und von der sie ständig sprach. Alle Kommunarden studierten pro forma Soziologie an der Goethe Universität und betrieben im Kollektiv die Karl Marx Buchhandlung, in dem mir unbekannten Stadtteil Bockenheim. Madeleines Frankfurter Favorit war der Perser Dilan. Der Iran stand vor dem Ende seiner Monarchie. Eine Götterdämmerung bahnte sich an. Schah Reza Pahlavi hatte so lange als Jetset-Märchenkönig am Sehnsuchtshorizont deutscher Hausfrauen die Stellung gehalten. Einer musste für sie stellvertretend wie Gott in Frankreich leben und eimerweise Kaviar verputzen. Reza würde nie wieder in Sankt Moritz an den Hängen posieren. Ein Foto zeigt Madeleines Vater neben dem Schah, so volkstümlich. Der alte Benson war ein hohes Tier in einem Bergbaukonzern, der ausgerechnet in Kassel sein Stammhaus hatte. Er hatte mit seiner ersten Familie in Teheran gelebt, sich nach der Rückkehr scheiden lassen und mit Madeleines Mutter noch mal von vorn angefangen. Die Zweitfamilie hatte den Charakter eines Zweitwagens. Die erste Frau residierte in einem Schloss im Druseltal. Ihre Söhne waren Zöglinge gewesen und lebten nun in Cambridge als formidable Wissenschaftler. Sie spielten in einer anderen Liga als das Einzelkind Madeleine. Selbstverständlich kam Dilan aus einer bedeutenden Familie. Selbstverständlich war er Revolutionär. Er versprach sich alles von Ajatollah Chomeini, dessen Rückkehr nach Teheran bevorstand. Ja, der Ajatollah war ein Hoffnungsträger der Linken, so wie die Mudschaheddin die Guten waren. Aber da war auch noch Roland, Madeleines Sexgenosse seit frühster Jugend. Das war keiner, der sich einfach so vom Brot schmieren ließ wie eine Wurst, von der man genug hatte. Roland und ich waren Brüder im Geiste des Jungsozialismus in einer provinziellen Spielart. Ich war heiß gespannt auf die Bockenheimer Kommune mit ihren Zeitgeistsiegern. Diese Frankfurter sahen richtig aus und sagten die richtigen Sachen. Sie trieben die außerparlamentarische Opposition vor sich her und bereiteten einem breiten Strom das Bett künftiger Regierungsbeteiligung.

Die Schrankfrau

Während die Genossen sauf- und rauflustig um die Häuser zogen, blieb ich in der Kommunenküche an Katja hängen. Katja war die Schrankfrau. In ihren ärgsten Zuständen verkroch sie sich in einem masurischen Bauernschrank, der den Treck ihrer ostpreußischen Großeltern überstanden hatte, anstatt unterwegs verfeuert worden zu sein. Die massive Holzarbeit verlieh Katjas fiebriger Existenz beruhigende Konturen.

Katja saß im Schrank, ein Türflügel stand offen. Das war ein Erfolg, der sich meinem guten Einfluss verdankte. Jedenfalls behauptete das Katja, die einigermaßen bequem in ihrer Holzhöhle auf einem Omakissen saß, mit angezogenen Knien. Ich saß davor auf einem Schawellsche. So sagt man in Frankfurt zur Fußbank.

Katja kaute Haare. Sie zog ihr Haar durch den Mund und betrachtete das nasse Resultat. Durch hundert Schleier der Selbsttäuschung begann ich zu ahnen, dass die Konstellation gar nicht so absurd und zufällig war, wie ich es gern gehabt hätte. So wie es immer eine Katja gab, gab es eben auch immer so einen wie mich – einen Kommunikationsverweigerer im Muskelschrank.

Auf dem Umweg einer Liebeserklärung an ihre Großmutter gelangte Katja zu den verlorenen Ostgebieten, nach denen in der Siedlung meiner Kindheit die Straßen benannt worden waren, um die Erinnerung an das vormals Deutsche lebendig zu halten. Das war kommunaler Revanchismus im Geist der SPD.

Katja repetierte im Schrank den Text ihrer Großeltern. Sie vermisste eine Landschaft, die sie nie gesehen hatte. Sie trug die Sehnsüchte ihrer Altvorderen weiter. Sie wiederholte deren Verlustmeldungen, obwohl das strengstens verboten war.

Die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen, die Katja mit keinem persönlichen Erlebnis verbinden konnte, war noch unerforscht. Man glaubte, dass die Verdrängungsleistungen der Kriegs- und Kriegskinder-Generation folgenlos geblieben seien. Die sozialen Metastasen in den Kindern der Kinder wucherten unerkannt.

Ich hatte Hunger. Es gab nur kalte Nudeln. Plötzlich stand Katja hinter mir und wollte auch kalte Nudeln. Bald dekorierte sie die Anrichte mit ihrer im Schrank wiederhergestellten Person. Sie roch nach herzlicher Aufnahme. Sollten die anderen doch auf den Magistralen des revolutionären Vergnügens prahlen, ich kannte den Schleichweg in Katjas Bett.

 

Lektorat: Christiane Meyer-Thoss

Erstellungsdatum: 07.12.2024