Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 7. Teil.
Es gab zwei zentrale Spielfiguren im Gedächtnistheater der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gemeinsam führten die Verdrängung und das Andenken (an die eigenen Opfer) Zangenbewegungen auf, mit denen die Schuld in die Mangel genommen wurde. Ich habe Jahrzehnte nicht mehr daran gedacht. Zu selbstverständlich war es damals und zu absurd erschien es später. Schuld hatten die Amis, hatte der Russe. Auch die Itaker. Wir waren frei von Schuld. So bizarr das klingt, aber die Ursuppe für den „Schuldkult“ war schon gekocht, bevor die Überlebenden der organisierten und angesagten Vernichtung selbst eine Position im Verhältnis zur Bundesrepublik finden konnten. Besonders deutlich wurde das bei der Behandlung der „Landfahrer“. Sinti und Roma verstanden nicht wenige als eine Plage, die in der Kürze des Tausendjährigen Reichs nicht rechtzeitig ausgemerzt worden war. Während sich keiner mehr traute, öffentlich „die Judenfrage“ zu stellen, stellte man sich in deutschen Ämtern sehr wohl „die Landfahrerfrage“.
In den1970er Jahren bestimmten zwar Linke den Diskurs, die Revanchisten waren aber in der Mehrheit und nannten die Befürworter der Ostverträge Vaterlandsverräter. Mein Vater war nicht nur Vaterlandsverräter, sondern auch Nestbeschmutzer, weil er die deutsche Schuld anerkannte. Etwas so vollkommen Offensichtliches wie unsere Schuld ließ sich in der Schläfrigkeit des Alltags mit lethargischen Bewegungen unter Wasser halten.
Wir Deutschen hatten angeblich legitime Ansprüche auf die verlorenen Ostgebiete. Die Bestreitung dieser Ansprüche war beinah das Schlimmste. In diesem Klima fanden die sozialdemokratischen Vereinssitzungen im Bürgerhaus statt, wo sich auch grimmige kalte Krieger trafen.
Iris bat mich lange, aber schließlich nahm ich sie mit in einen Hexenkessel, in dem die einen offensiv revanchistisch und die anderen nur defensiv etwas anderes waren. Man fragt sich heute, wo war die außerparlamentarische Opposition?
Wo waren die Studenten?
Sie waren nicht da. Unser mit einem Dorf verbundener sozialer Brennpunkt interessierte sie nicht. Sie engagierten sich in der Gesamtschule, leiteten die Hausaufgabenbetreuung und verpassten das Gros der Schüler. Die Siedlungs- und Dorfjugend ignorierte schulische Nachmittagsangebote. Selbst Holgers Kraftunterricht in einer Art Unterstand, der als Raucherecke fungierte, besuchten regelmäßig nur wir Wenigen. Ich kriege das Wir nicht mehr zusammen. Jedenfalls waren Holger und ich die einzigen politisch Gebundenen. Gerade fällt mir ein, wie oft gesagt wurde, dein Vater ist mit der SPD verheiratet.
Die Fragwürdigkeit der Parteiarbeit in einer Welt der Kleingärtner und Heimwerker …
Die Vorurteile gegen Studentinnen („die sind flachbrüstig“) waren so groß, dass man sich von ihnen noch nicht einmal beim Flaschendrehen küssen lassen wollte. Geküsst wurde entlang von Demarkationslinien, die alten Grenzziehungen entsprachen. Intime Freundschaften zwischen Siedlungsjugendlichen und Jugendlichen aus benachbarten Gebieten waren gefährlich. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, in der Nordstadt andere Ziele als Supermärkte oder Fachgeschäfte anzusteuern. Es gab jede Menge fremder Planeten, die in den Erzählungen der Altvorderen eine unglaubliche Patina bekamen.
Wenn ich an Geschichten über die Brücke am Kwai, Kehrs Trinchen oder die Kesselschmiede denke – Kneipennamen wie Donnerhall. Auch mein Vater kannte diese Rothenditmolder Wirtschaften nur vom Hörensagen.
Es gab dann eine sozialdemokratische Ortserkundung in diesem Quartier. Wir stellen uns auf einen Spielplatz und ein Referent erklärt, was da mal gestanden hat: die 1594 erbaute evangelische Kirche, die in der Gründerzeit an die Katholiken fiel und schließlich als Speicher, Stall, Schuppen, Arsenal der Müllabfuhr und als Asyl für Obdachlose diente. Bomben sprengten 1943 das Dach ab. In den Fünfzigerjahren wurde die Ruine dem Erdboden gleich gemacht.
Wir hätten den Nachmittag in Kehrs Trinchen bei Eisbein und Bier ausklingen lassen können. Wir fuhren aber lieber alle wieder in unsere Ecke der Stadt und liefen da auseinander.
Ich lieferte Iris Material. Sie betrieb durch mich ihre Volkskunde. In den 1980er Jahren erkannte ich, dass ihre proletarischen Bühnenfiguren Vorbilder in der Dorf- und Siedlungs-SPD meiner Kindheit und Jugend hatten. Ich kapierte mit großer Verspätung, worauf die Tochter eines auf Landesebene bedeutenden Sozialdemokraten mit großbürgerlichem Habitus abfuhr; was sie für ihren inneren Haushalt brauchte. Dazu gehörte der Kartoffelsalat meiner Mutter nicht zuletzt.
Iris lud sich mit der Scheißhausenge meiner Verhältnisse auf.
„Man muss durch Schauspieler Texte jagen wie Stromstöße.“ „Wenn ich tot bin, wird mein Staub nach dir schreien“. Heiner Müller
Alles ging ins Mürbe und glitt ab. „Der Geruch der Revolution ist ein Parfüm aus Stallmist“– ätzend & güllig: so steht es geschrieben in Heiner Müllers „Auftrag“. Der Titel spielt mit dem Vers „Erinnerungen an eine Revolution“ in der Unterzeile. Für Gläubige war Müller ein Kommunist zum Fürchten. Nach einer Vorstellung des „Auftrags“ in Lyon beging der kommunistische Kritiker sofort Selbstmord.
Die Abwägungen des „Auftrags“ fanden auf der Probebühne des … in der Regie von Iris statt. Sie begannen mit dem Ende in einer Ananas Bar voller Airbag-Titten – postlagernd Port Royal. Das Arrangement erinnerte mich an ein quietschendes Klassenzimmer in der Alten Schule.
Im „Auftrag“ handeln drei temporär republikanische Brandstifter, ihren Namen nach heißen sie Debuisson, Galloudec und Sasportas.
Debuisson, Galloudec und Sasportas sollen in revolutionärer Absicht einen Aufstand der unter Zwang eingeführten Bevölkerung von Britisch-Jamaika lostreten. Die Delegierten des französischen Konvents erfahren dann, dass die Revolution von Napoleon für beendet erklärt wurde. Nach dem 18. Brumaire 1799 steht fest: „Unsere Firma steht nicht mehr im Handelsregister. Sie ist bankrott“.
„Die Freiheit trägt jetzt Uniform“, und Debuisson, Galloudec und Sasportas haben keinen Auftrag mehr. Das führt zu interessanten Gesprächen über das „Joch der Freiheit“ und ein „Heimweh nach dem Gefängnis“.
„Die Revolution ist die Maske des Todes. Der Tod ist die Maske der Revolution“.
Debuisson, Galloudec und Sasportas wissen: „Die Freiheit ist auch nur eine Hure“. Trotzdem treiben Sasportas und Galloudec der Sklaven Erhebung weiter voran. Die aus dem Schultheater mitgenommene Ingveld spielte Sasportas stets auf der Flucht und in der Deckung seiner Verkleidungen. Die Niedrigkeit bleibt zutraulich bei ihm. Mit Sasportas muss man sich als Debuisson im weißen Anzug nicht abgeben. Zumal jetzt nicht mehr, im Jetzt von 1800, da die Gleichheit aus der Mode gebracht von Bonaparte. Als geborener Sklavenhalter kann man seinen Standesdünkel … „Die Sklaverei ist ein Naturgesetz“ … wieder aus dem alten Hut eines Tropenhelms zaubern. Ist man Debuisson, scheint einem fern das „Licht auf dem Galgen“. Auf diese A. Seghers-Erzählung bezieht sich Heiner Müller im „Auftrag“.
Es war kein Zufall, dass Debuisson daher kam wie Holger. Ich greife vor, Holger wurde 1984 in Griechenland überfahren. Erst nach dem Tod des ewigen Hessenmeisters und Juso-Greises erkannte ich, wie sehr Holger auch noch als Erinnerung in die nordhessische Landschaft gehörte.
Ich fragte Iris:
„Warum hast du damals, als vierzehnte Debütantin in einer Reihe von Schülerinnen Holger nicht ausgelassen?“
„Er war so was wie der Kartoffelsalat deiner Mutter. Auf seiner Etage eine Weile die Hausherrin zu spielen, zählte zur Initiation einer höheren Tochter zu Kassel.“
Heiner Müller verband den Mercedesstern über Berlin mit dem herausgehauenen Zahngold der Ermordeten. Die Geschichte findet statt „zwischen Gewalt und Vergessen.“ „Heimat ist (doch nur), wo die Rechnungen ankommen.“
Holger verband Stalin mit Schmidt. Er predigte „Kein Mensch, kein Problem“ (J. Stalin) und „Mein Herz gehört dem Kopf“ (A. Schmidt). Er machte seine sozialistischen Schäfchen mit der russischen Spielfigur des „überflüssigen Menschen“ vertraut. Der Überflüssige fällt ins Fach des lamentierenden Selbstmörders. Beispielhaft ist ein von der Provinz verfluchter Lehrer. Auf dem Theater reißt er sich das Hemd auf, nachdem er seine Familie um den Hof gebracht und so ins Unglück gestoßen hat.
Der ewige Mieter Holger erklärte: „Zu einem vollwertigen Bürger befördert erst Eigentum. Kein Eigentum bedeutet Ausschluss und Ausschuss.“
Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war in der SPD umstritten. Die Forderungen der Vertriebenenverbände hatten sozialdemokratische Resonanzräume. Ich erinnere an Herbert Hupka und dessen bewegtes Leben. Willy Brandt kam zwanglos den Sicherheitsbedürfnissen der östlichen Nachbarn entgegen. Nicht wenige Genossen vermissten Gegenleistungen – und Zwang.
Warum etwas freiwillig festschreiben, dass man sich anderenfalls vielleicht doch noch mal unter den Nagel reißen konnte. Was war nicht alles im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation tausend Jahre zum Nachteil Polens und Litauens territorial verschoben worden.
In der Dorf- und Siedlungs-SPD meiner Kindheit und Jugend fehlte jedes weltpolitische Verständnis. Dass sich mit westdeutscher Zugänglichkeit die Disharmonien zwischen Polen und der Sowjetunion vergrößern ließen, überstieg den Horizont der Leute. Sie hielten Brandt für einen Vaterlandsverräter, der die Ansprüche der Gegenseite hochschraubte; ganz so als gehöre Deutschland zu seinem persönlichen Portfolio. Die Leute maulten, die Willy-Euphorie war im Frühjahr Zweiundsiebzig verebbt. Hupka wechselte zur CDU. FDP-Abgeordnete versprachen Oppositionsführer Barzel bei einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Brandt ihre Stimmen. Barzel wähnte sich schon auf dem Thron der Republik. Der Tag der Abstimmung, ein leuchtender 27. April, sollte sein Tag werden. Für die Vereidigung war eine Stunde festgesetzt. Doch machte die Geschichte einen Bogen um Barzel, während sie Brandt wieder einlud.
Je länger Gras über die Sache wuchs, desto mehr Stimmenkäufer kamen ins Spiel der Spekulationen. Die Staatssicherheit der DDR zahlte nach einem Vortrag des großen Bruders zwei Mitgliedern des Bundestages je fünfzigtausend Deutsche Mark zur Vereitelung eines Regierungswechsels, den sie dann mit ihrem Kundschafter des Friedens Günter Guillaume doch herbeiführte. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte.
Gewiss wusste Guillaume, welche Kandidaten auf zu großem Fuß lebten und folglich für Zuwendungen empfänglich waren. Die Schwäche eines Menschen durchzieht den Charakter. Das Defizit trägt viele Namen. Der Wunsch nach Anerkennung ist ein Fass ohne Boden. Wer einen Schmeichler nicht in die Schranken weist, lässt sich auch bestechen. Prassend schlittert er über die Strecke seines Niedergangs.
Im Fall von Julius Steiner ist nichts interessanter als die Behauptung Brandts, der Parlamentarier habe doppelt kassiert. Karl Wienand, 1972 Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, soll im Auftrag der Doppelspitze Brandt/Bahr Steiner mit fünfzigtausend Mark bewogen haben, sich der Stimme zu enthalten.
Brandt, der 1969 knapp Kanzler geworden war, erlebte am 19. November 1972 seinen größten Triumph. Bei einer Wahlbeteiligung von über neunzig Prozent (das Wahlalter war gerade von einundzwanzig auf achtzehn Jahre herabgesetzt worden) wurde er mit 45,8 Prozent der abgegebenen Stimmen (in einer vorgezogenen Wahl) im Amt bestätigt. Doch der von den eigenen Leuten hart angegangene Tribun war zermürbt. Als im November 1972 das Kabinett zusammengesetzt wurde, ließ sich Brandt in der Bonner Universitätsklinik auf dem Venusberg die Stimmbänder schälen. Der Kanzler stellte seine Vorstellungen von dem neuen Kabinett in einem Brief dar, den Fraktionschef Herbert Wehner im kleinen Kreis vorlesen sollte. Wehner nahm die Post an sich und „vergaß“ sie in seiner Aktentasche. Er nutzte die Rekonvaleszenzabsenz, um Fakten zu schaffen.
Brandt regierte gegen Wehner. Wehner wollte keinen Wandel durch Annäherung. Ihm gingen die Ostverträge zu weit. Er förderte die Aufrechterhaltung des Status quo. Er stand Erich Honecker näher als Brandt.
Wehner hatte in Moskau mehr begriffen als Honecker im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Beide wurden für Breschnew zu Gefährdern seiner Pläne. Der KPdSU-Chef brauchte einen Brandt im Zenit. Das ging über Wehners Duldungskraft.
Egon Bahr schreibt: „Brandt und Wehner waren Feinde“ in der Deutschlandfrage.
Der gesellschaftliche Aufbruch von Achtundsechzig hatte seine durchgreifende Wirkung 1972 verloren. Der Bewährungssieg der SPD ergab sich auf dem Vorfeld einer neuen Restauration unter Schmidt, der als Antipode des Kanzlers auftrat, und die Fama vom amtsmüden Brandt verbreitete. Der Macher Schmidt passte in die neue Zeit als „Vorstandsvorsitzender der Deutschland AG“. Er herrschte mit größerer Zustimmung seiner Gegner als sein Vorgänger, der ständig unter der Gürtellinie angegriffen worden war. Barzel musste noch abserviert, der junge Kohl erst einmal an Franz Josef Strauß vorbei installiert werden. Schmidt konnte Luft holen, Fehler machen. Der RAF-Aktionismus rettete ihm den politischen Arsch. Alles, was sich als Hamburger Sturmflut und übergesetzlicher Notstand verkaufen ließ, war gut für Schmidt. Schmidt war ein guter Schauspieler.
„Es ist mir egal, wer unter mir Bundeskanzler wird.“ FJS
In diesem Klima hörte ich 1979 zum ersten Mal, dass unsere aus den verlorenen Ostgebieten Vertriebenen in der DDR „Umsiedler“ genannt wurden.
„Über die Weichsel mit dem Treck bei Eisgang
War meine erste Reise. Die Pferde gingen
Zu den Fischen, gezogen von den Wagen, und
Die Bauern, weil sie ihrs nicht lassen wollten
Gingen den Pferden nach, und was der Pole
Nicht hatte kriegen sollen, die Weichsel hats.“
Heiner Müller, „Die Umsiedlerin“
Auch Heiner Müller hatte einen sozialdemokratischen Vater, dem Schwerstes zugemutet worden war; so dass er dem Sohn schwach erschien. Der schwache Vater ist eine Erfahrung, die zur Chiffre wird. Heiner Müller verkennt vorsätzlich Machtverhältnisse, wenn er sein Verhalten während der Verhaftung des Vaters, ein Vierjähriger gibt vor, zu schlafen, als Verrat deklariert. Männer der Sturmabteilung holen den Sozialdemokraten aus der Wohnung, Sohn Heiner datiert den Vorgang nach seinem Belieben auf den 31. Januar 1933. An diesem Tag klappen die Nationalsozialisten Weimar zu, Affe tot und Tschüss, der Schriftsteller Müller ermächtigt sich, den Symbolgehalt des Datums in seine Biografie zu gießen. Andere zerbrechen an seiner Stelle, auch ein sächsischer Schuhmacher, der als verdämmernder Großvater in Müllers Œuvre geistert, zerbricht.
Müller bricht nicht.
Verrät er den Vater noch einmal mit seiner Entscheidung für die DDR? Jedenfalls geht ein Ehrgeiz dahin, für die Trennung von den Eltern, dem KZ-gebeugten Kurt Müller droht im neuen Deutschland Hohenschönhausen, die allerläppischsten Erklärungen abzugeben. Müller ist der DDR willkommen mit seinen sozialistischen Hoffnungen. Er wähnt sich in den Reihen und auf dem Stand der Sieger. Er traut seinem Staat zu viel zu. Nach der ersten Aufführung der „Umsiedlerin“ am 30.9.1961 an einer Karlshorster Studentenbühne setzt seine Stigmatisierung ein. Müller fliegt aus dem Schriftstellerverband. Er wird in der DDR zum ungespielten Autor und bleibt das zwölf Jahre.
„Die Umsiedlerin“ war Gegenstand eines Vortrags in der Tagungsstätte auf dem Biedenkopf (bei Marburg). Es sprach Patrizia Funke, eine Religionswissenschaftlerin, die in der politischen Bildungsarbeit Fuß gefasst hatte. Ihre Eltern waren aus der DDR geflohen, aber die Vertriebenen blieben in Patrizias Wahrnehmung Umsiedler.
Ich fand es stets wichtig und erhebend, dass auch Heiner Müllers Vater Kurt in der SPD war. Ich heiße selbst (unter anderem) Kurt nach meinem Großonkel Kurt Tuschick. Er stammte aus der ersten Ehe meines Urgroßvaters, eines bei der Reichsbahn beschäftigten Landvermessers, dessen Vater aus der nordpolnischen Bory Tucholskie (Tucheler Heide) als katholischer Missionar in das evangelische Kassel gekommen war.
Das wurde in meiner Familie wieder und wieder erzählt, wie bereits die nächste Generation dieses sendungsbewussten, aber kaum sendungsstarken Mannes vom alten Glauben abfiel und sich der protestantischen Mehrheit anschloss, keinesfalls einer Not gehorchend. Man wollte nicht anecken und es lieber so halten wie die Nachbarn. Dabei gab es katholische Verhaue in Kassel sowie im Landkreis.
Da war kein Wille, nichts Beharrliches. Kein zinsbringendes Erbe verband sich mit der altvorderen Religion. Sie nutzte nichts. Die vom Polnischen noch geprägten Konvertiten heirateten die Normalität nach Kasseler Maßstäben. Die erste Frau meines Urgroßvaters kam so lange nieder, bis sie sich nicht mehr erhob. Der Witwer ging mit vier Töchtern und sieben Söhnen in die zweite Ehe, um neun weitere Kinder in die Welt zu setzen. Man nannte das eine reiche Ernte. Die ältesten neun Söhne besuchten ohne Ausnahme bis zum Abitur dasselbe Gymnasium. Der Rest wurde nach dem Tod des Patriarchen aus der Schule gepflügt und in deklassierende Konstellationen eingefügt. Dies erwies sich als notwendig, obwohl die älteren Geschwister für die jüngeren nach Kräften aufkamen. So nahm Großonkel Kurt meinen viel jüngeren Großvater an Sohnes statt. Der alte Kurt versorgte den Halbbruder, verschaffte ihm eine Lehrstelle und half ihm, den inneren Schweinehund zu überwinden.
Die Kinder aus der zweiten Ehe waren sozial nur noch halb so groß wie die Erstgeborenen.
Das war ein anhaltendes, Jahrzehnte nachwirkendes, sich hier- und dorthin verzweigendes Unglück. Die Familie war nicht aus einem Guss, sondern vom Zerfall bedroht. Die bereits vom alten Kurt begrüßten sozialdemokratischen Maximen mögen unter solchen Umständen besonders tröstlich gewesen sein. Man glitt ab bis auf den Grund der ehrbaren Arbeiterschaft. Mein SPD-Großvater arbeitete in einer Drahtfabrik und lebte unter den Nazis so geduckt wie Müllers SPD-Vater. Er lebte mit der Faust in der Tasche, wie mein Vater gern sagt.
Die Faust in der Tasche gehört zum Themenkreis die Gedanken sind frei. Wie es in dir aussieht, geht keinen was an.
Das stelle ich mir manchmal vor: Wie unsere (der Plural bezieht sich auf Heiner und mich) zutiefst sozialdemokratischen Großväter zwischen Abstieg und Tod mit zusammengebissenen Zähnen (die Lippen ein Strich) und der Faust in der Hosentasche die nationalsozialistische Finsternis überlebten.
Heiner Müllers „Umsiedlerin“ reagiert auf Motive in Anna Seghers gleichnamigen Erzählung (1950). Erzählt wird eine lange Geschichte. Sie fängt mit der Bodenreform 1945 an und endet mit der Kollektivierung landwirtschaftlicher Betriebe. 1960 ist das ein abgeschlossener Prozess. Müller lässt sämtliche sozialen Schichten antanzen, die Verwerfungen des Kriegs schreiben die Partitur der Verteilungskämpfe. Ein Bürgermeister stieg vom Melker auf, es geht aber nicht allen gut. Den Neubauern Ketzer ernährt sein neues Land nicht, er beendet die Verelendung im Sozialismus mit Suizid. Auf der Parteilinie schließen sich Sozialismus und Selbstmord aus, Müller, weit davon entfernt, Dissident zu sein, bringt es bloß nicht fertig, sich von der Wirklichkeit zu verabschieden. Aus dieser Wirklichkeit zieht er den Umsiedler Fondrak, der sich unter Kommunismus „Bier aus der Wand“ vorstellt und lieber in den Westen geht, als eine Neubauernstelle anzutreten. Obwohl Fondrak die Umsiedlerin Niet geschwängert hat.
Müller will seine „Umsiedlerin“ als Komödie verstanden wissen, so versteht sie aber keiner. Seine Konflikte sind alltäglich. Sie drehen sich um Traktoren, Motorräder, Arbeitskräfte, Bier, Frauen und Ideen, die erst einmal kapiert werden müssen: „Was die Mehrheit/Beschlossen hat, das kann die Mehrheit auch /Umschmeißen.“
Ein Bauer wird zum „Umzug aus dem Ich ins Kollektiv“ gezwungen. Auch er möchte mit sich Schluss machen. In der LPG beantragt er umgehend einen Krankenschein: „Zehn Jahr saß er uns im Genick, der Hund / Zwei Jahr und länger ließ er sich dann bitten / Und wieder stößt er sich an uns gesund. / Ich wollt‘, ich hätt‘ ihn nicht vom Strick geschnitten.“
Niet übernimmt Ketzers Hof. Das ist der utopische Moment bei Müller. Die Umsiedlerin repräsentiert eine Bereitschaft zum Aufbau der jungen Republik.
Das Stück wird zu schnell abgesetzt, es steht doch alles darin.
In Seghers’ „Umsiedlerin“ (1950) spielen die dürftigen Verhältnisse der Migranten die Hauptrolle. Als ihre Landsleute Niet fragen, warum sie sich anstrenge, als sei sie „daheim“, antwortet sie: „Weil man gerecht war.“ Der Zugriff glückt mit beiden Händen, die Gesellschaft und das Individuum ziehen an einem Strang. Niet bleibt nicht „Flüchtling“, sie findet einen Platz im Trubel ihrer Gegenwart. Müller zeigt sie (und jeden) nicht übertrieben optimistisch. Doch ist er auf keinen Eklat gespannt: „Wir waren ganz heiter, fanden das so richtig sozialistisch, was wir da machten.“
Noch in der Nacht der Premiere werden Schauspieler verhört. Man legt ihnen nah, sich mit „der verbrecherischen Regie“ herauszureden. Müller wirft man „Nihilismus“ und „Schwarzfärberei“ vor, sein Spezi Tragelehn fährt zur Bewährung in den Braunkohletagebau ein. „Die Umsiedlerin“ verschwindet in einem Futteral des Schweigens. Erst 1976 inszeniert Fritz Marquardt „Die Umsiedlerin“ als Mumienschanz unter dem Titel „Die Bauern“ an der Berliner Volksbühne.
Lektorat: Christiane Meyer-Thoss
Erstellungsdatum: 01.01.2025