Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 8. Teil.
Monika Zeiger war eine zentrale Randerscheinung in der Gegend meiner Kindheit. Sie verkaufte Frikadellen, die sie Buletten nannte, und Currywürste in einem Imbiss an der Nürnberger Straße. Sie war in der SPD als unruhiger, frei assoziierender Geist.
Monika repräsentierte das prekäre Milieu. Obwohl sie in ihrer Fettbude mehr verdiente als andere im öffentlichen Dienst oder bei VW. Sie war weit und breit die einzige Genossin, die nicht von einem Gatten politisch konfirmiert worden war. Sie hatte keine Zeit, an Vereinssitzungen teilzunehmen.
Bis 1978 waren das reine Männerveranstaltungen. Als mein Vater zwei Jahre später den Vorsitz an Simones Mutter abgab, verkörperte Margot Schilling die neue Zeit.
Mein Vater stieg aus der Lokalpolitik so aus wie später aus dem Berufsleben. Knall auf Fall. Er machte keine halben Sachen, auch nicht als Windsurfer. Eine Abspaltung der örtlichen SPD kannte bald an Europas Küsten die besten Surf-Reviere. Wie auf Italienfahrt in den 1960er und 1970er Jahren fuhr man Kolonne, nur eben nicht mehr im Käfer. War man nicht auf Achse, hielt man sich zuhause fit. Die Vermögensumverteilung hatte stattgefunden. Nun ging es um Gesundheit und Ernährung.
Meine Eltern leben noch. Sie haben gute Renten. Für sie sind die Rechnungen der alten Republik aufgegangen. Das Rattenrennen war für sie schon zu Ende, bevor sich die Konturen der Berliner Republik und eine Erosion des Demokratischen im neoliberalen Furor zu erkennen gaben.
Nicht die Werke der Schwestern Brontë oder eine Schwärmerei für Jane Austen hatten Simone Schilling eine Existenz am Schreibtisch nahegelegt. Henry James gab ihren Sehnsüchten passende Betonungen. Simone wollte Philologin werden und dem Andenken wenig populärer Schriftsteller dienen.
Einen Vater hatte sie nie gehabt und entbehrt. Simone war als zehnjährige Berlinerin und einzige Tochter der alleinerziehenden Stadtplanerin Margot S. in den ältesten Siedlungsraum des Kasseler Beckens geraten. Simones Mutter war einem akademischen Ruf nach Kassel gefolgt. Sie löste meinen Vater an der Spitze des SPD-Ortsvereins ab. Zehn Jahre behielt Margot den Vorsitz. Das waren die letzten Schmidt- und noch eine Menge Kohljahre. Kein Mensch redete mehr von einem Wandel durch Annäherung. Die UdSSR wurde von einem Schauspieler im Weißen Haus, der sich von George Lucas‘ Krieg der Sterne inspirieren ließ, plattgerüstet.
Reagan bezeichnete das implodierende Imperium als Reich des Bösen. Er dämonisierte den Gegner.
Simone jobbte im Heimwerkerparadies. An allen Trends vorbei favorisierte sie Filme im Love Story Stil. Sie liebte ihr Skateboard. Kurz nach dem Abitur zog sie mich an Land. Uns verband die Bodenständigkeit. Im Gegensatz zu vielen, für die Berlin das Wenigste war und Amerika ein reguläres Ziel, blieben wir in Kassel. Wir sahen allerdings eher aus beträchtlicher Ferne die Stadt unter ihrer Dunstglocke.
Die vorstädtisch wachsenden, auf Buntsandstein, Keuper- und Muschelkalkrücken gesetzten Dörfer sind älter als der historische Kern Kassels.
Ich leistete meinen Zivildienst mit Essen auf Rädern im Landkreis ab. Ich hatte eine Heimschlaferlaubnis und Anspruch auf Vollverpflegung. Mir stand alles zu, was den Dienst angenehm machte. Simone wusste daraus besonderen Nutzen zu ziehen. Zu Lasten der öffentlichen Hand bezog sie mit mir eine Jagdhütte, die zur Försterei Fahrenbach gehörte. Ich habe nie malerischer gewohnt. Im Garten stand der schiere Knorz in surrealen Verschlingungen.
Die Eingesessenen nannten die Gegend das Alte Land.
Ich verbrachte meine Freizeit in der Söhre, dem Königsforst, der seit Karl dem Großen amtliche Erwähnung findet und die längste Zeit als feudaler Wirtschaftsraum genutzt wurde. Die Landgrafen und Kurfürsten jagten da. Ein reiches Revier galt ihnen mehr als die Belange der Bauern, die Wildschweine von ihren Äckern nur harmlos vertreiben durften, was schließlich auch den Verheerenden klar war.
Auch die Wuchsschäden kratzten keinen Fürsten, obwohl er vom Holz nicht zuletzt lebte. Auf der hundert Meter langen Bahn einer Sturmschneise sah ich zum ersten Mal einen Hirsch in seiner natürlichen Umgebung. Ich stand gegen den Wind.
Unsere nächsten Nachbarn waren vietnamesische Flüchtlinge, Boatpeople. Xuan arbeitete in Lohfelden als Koch im Restaurant eines Verwandten, den er Onkel nannte. Er lief jeden Tag quer durch den Wald, er war ein leidenschaftlicher Fußgänger. Seine fluffige Art zog mich an.
1978 zog die Besatzung eines deutschen Frachters vierhundertfünfzig Vietnamesen aus dem Südchinesischen Meer. Die Landesflüchtlingsverwaltungen, bis dahin vor allem für Aussiedler zuständig, hatten ein neues Thema. Der Motor einer neuen Migrationsdebatte war Ernst Albrecht. Der niedersächsische Ministerpräsident regierte gern aus seinem Dorf Beinhorn bei Hannover in die Welt hinein. Er holte gleich mal tausend Bootflüchtlinge in sein Bundesland und deklarierte das als Folge einer Familienratsentscheidung. Albrecht schickte Wilfried Hasselmann nach Malaysia, um die malaysischen Behörden auf Trab zu bringen. Die Geschichte ist ein Brummkreisel. Hasselmann diktierte der Presse dem Sinn nach: Jetzt könne man sich wieder gut fühlen als Niedersachse.
Xuan gehörte zu jenen an Land Gezogenen, die am 3. Dezember 1978 in Hannover-Langenhagen eine Maschine der Luftwaffe verließen. Nach der Kapitulation 1975 hatten die Sieger Xuan vorübergehend in einem Umerziehungslager untergebracht und den Betrieb seiner Familie enteignet. Insgesamt kamen zweiunddreißig nahe Verwandte in Deutschland an. Sie konzentrierten sich in Lohfelden im Landkreis Kassel, wo ein Onkel von Xuan ein vietnamesisches Restaurant eröffnete, in dem Xuan kochte.
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Der Garten hinter unserem Blockhaus glich einer Lichtung. Ein Ginkgo ragte als monumentaler Solitär auf. Ein Fürst musste die Pflanzung veranlasst haben. Nicht weit weg stand eine Rotbuche, die als Prinzessinbaum in das kollektive Gedächtnis eingegangen war. Doch nur Wenige wussten sie zu finden.
Unter der Grasnarbe lag einiges, so wie letzte Zeugnisse der Rodung Lobesrode, die erst als Wüstung in die Annalen eingegangen war. Die Aufgabe der Siedlung war von der Pest im 12. Jahrhundert erzwungen worden. Mit solchen Erwägungen riss ich mich selbst zurück, sobald ich etwas dringend fand.
Die forstwirtschaftliche Hauptstraße lag auf der Strecke eines frühmittelalterlichen Passionsweges. Man war sonst wo in Thüringen zur Wallfahrt aufgebrochen, um sein Ziel in der Söhre zu erreichen. Es gab keinen Hinweis mehr auf den heiligen Ort, der bereits eine ältere Kultstätte überformt haben mochte. Noch vor dem Dreißigjährigen Krieg war Schluss mit jeder Überlieferung. Ende Geländer. Übriggeblieben war allein die Forstmarke Stückkirchen. Sie charakterisierte einen Buchenhain auf dem Grund der Siedlung Hessenhagen, die das 12. Jahrhundert erst wegen Ernteausfällen und dann wieder wegen der Pest nicht überstanden hatte.
Abgesehen von wenigen Bauern und Forstleuten arbeitete kein Mensch mehr in der Söhre. Ein aufgegebener Steinbruch und die verwitterten Spuren des Braunkohleabbaus erinnerten daran, wie notwendig eng einmal Arbeit und Leben räumlich miteinander verbunden gewesen waren. In der Gegenwart von 1980 waren die meisten Erwerbstätigen Pendler, die ihre Eigenheime in die Söhre gebaut hatten.
Im Ort gab es ein Wirtshaus. Wir verkehrten in der Alten Feuerwehr. Ich aß gern Gulaschsuppe, das Standardgericht der Stammgäste. Manchmal erweiterte Bernd Seiler den Kreis. Er hörte Rory Gallagher und schwor auf seine Kreidler Zündapp. Bernd war clever und verpeilt. Kiffen im Wald war für ihn ein Gipfel des gelungenen Lebens.
Bernd war ein Kind der Arbeiterreihenhaussiedlung im Lilienthal, gestaltet nach Volkswohlmaximen in Opposition zu dem ungesunden Wohnen in Mietskasernen. Im Liliental nannte man die Eigenheime wie anderenorts auch Pappschachteln.
Aufgewachsen in einer Pappschachtel und umstellt von Verwandten: hatte sich Bernd auf eine Insel der Erforschung zukünftiger Phänomene geflüchtet. War er breit, verkündete er, wie in Zukunft Staaten ihre Grenzen totalitär sichern würden. Bernd beschrieb Grenzsicherungen mit Satelliten, Radar, Drohnen (unbemannte Kleinflugkörper) und Wärmebildkameras. Außerdem bewältigte Bernd als Einzelbetreuer eines Schwerstbehinderten (und Überlebenden des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms) ein ganz anderes Pensum als ich mit meinem Essen auf Rädern im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt. Bernd hatte einen Bruder beim Bund; einen Zwölfender, der sämtliche Führerscheine auf Staatskosten gemacht hatte und nach seiner Dienstzeit eine Fahrschule aufmachen wollte.
Die brüderliche Zielstrebigkeit erlebte Bernd als Angriff. Bei Simone suchte er Deckung. Mich nahm er in Kauf. Ich war zwar Simones Freund, aber nicht der einzige.
Simone baute ihre Position bei den Phans aus. In Xuans Haus kam Wasser aus Hähnen. Es gab Strom. In unserem Hexenhaus gab es das nicht. Simone badete bei den Phans oder in der Villa Kunterbunt ihrer Mutter. Im Übrigen beschränkte sie sich auf Katzenwäsche.
Da ich tagsüber im Kurierdienst der Arbeiterwohlfahrt Senioren mit warmen Mahlzeiten versorgte, hatte ich genug Duschgelegenheiten. Manchmal stieg ich im Stadtbad Mitte ab und schwamm schnell drei-, viertausend Meter. Bei meinen Eltern nahm ich frische Wäsche mit, oft auch fertige Mahlzeiten in Tupperware.
„Stippvisite im Hotel Mama“, nannte meine Mutter das. Sie hätte mich gern ganz zu Hause gehabt. Sie hatte selbst noch als Dreißigjährige die Reservoire ihrer Eltern ausgeschöpft, mich ausstaffieren lassen und Kohle eingesackt.
Ich besuchte auch meine Großeltern und nahm Maß am künftigen Erbe. Ich schleppte ab, was im Wald und auf der Heide gebraucht wurde, vom Bosch Schlagbohrer über Sägen und Äxte bis zur Betonmischmaschine. Mein fast blinder Großvater baute manisch weiter. Er hielt jeden erreichbaren Mann dazu an mitzubauen. Nach der schweren Ölkrise von Neunundsiebzig strebte er die totale Autarkie an.
Mein Großvater, der alte Legastheniker, sah mit Feldherrenblick fern. Er trug Tag und Nacht ein Nachthemd, tagsüber wurde das Rumpfüberschüssige in die Hose gestopft, und in jeder Jahreszeit lange Schiesser Feinrippunterhosen. Träger sicherten die Überhose.
Zum Abendbrot gab es diametral geschnittene Schnittchen, Gewürzgurken und Mixed Pickles. Saurer Blumenkohl löste bei meinem Großvater den Wunsch aus, die Geschichte vom Hering zu erzählen.
Für mein Leben gern lauerte ich in einem Sessel am Wohnzimmertisch. Mein Großvater belastete ein Sofa. Es gab unglaublich gute Sachen, Schinken in rauen Mengen. Fleisch- und Waldorfsalat. Bündner Fleisch. Kalter Schweinebraten mit Pfefferkruste. Blutwurst. Leberkäse. Hähnchenschenkel auf die Hand. Mein Großvater schwankte zwischen Behagen und Schmerz. Der verbrauchte Leib erlaubte keine Entspannung. Der Schmerz peitschte meinen Großvater über einen Parcours von unbefriedigenden Positionen.
Wie er sich auch drehte und wendete, der Schmerz setzte sich an die Spitze der Bewegung.
Meine Großmutter hatte stets schon in der Küche gegessen. Während mein Großvater und sein ältester Enkel es sich schmecken ließen, saß sie in ihrem persönlichen Fernsehsessel, einem hydraulischen Monster, zwei Meter vor dem Bildschirm und konzentrierte sich auf die ARD- und ZDF-Ausstrahlungen. Bereits das Vorabendprogramm war amtlich. Es zählte zu den guten Sitten, die nicht verfallen durften.
Für meinen von Ressentiments regierten, in seinen Stimmungen lebenden, seine Schwächen archaisch ignorierenden Großvater war die reine Anschauung nichts. Er musste von allem Besitz ergreifen und die Dinge formen, auch wenn er sie nur verbog. Aus schierem Instinkt wusste ich, dass er meinem von Gerechtigkeit besessenen, auf ein Miteinander spekulierenden, im Kleinen wirtschaftenden, zur Bescheidenheit ratenden Vater haushoch überlegen war.
Das Menetekel von Tschernobyl folgte dem AKW-Unfall bei Harrisburg mit erheblicher Verzögerung.
Mein Vater war gegen Atomwaffen und für die friedliche Nutzung von Kernenergie. Der amerikanische Gau von 1979 änderte nichts an diesem gebetsmühlenhaft vorgetragenen Zweitakter.
Mein Vater war gegen den NATO-Doppelbeschluss, konnte aber mit der Friedensbewegung ästhetisch nichts anfangen. Wir hatten die Kommunisten in unserer Siedlung besiegt, weil sie sich in Handgreiflichkeiten erschöpft hatten. Die strickenden Lehrer boten keine Angriffsflächen.
Lektorat: Christiane Meyer-Thoss
Erstellungsdatum: 05.01.2025