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Dominik Grafs „Sein oder Spielen“

Spielen müssen sie ja letztlich doch selbst

Ewart Reder


Dominik Graf. Foto: Internationale Filmschule Köln

Filmregisseure äußern sich, wenn sie den Spielraum dafür haben, professionell mit ihren Inszenierungen. Seltener sprechen oder schreiben sie über ihre Arbeit oder reflektieren nach der kurzen, aber doch sehr ausdifferenzierten Ideengeschichte des Spielfilms ihre Position und ihr Ethos, wie Dominik Graf das tut. Dabei geht es selbstverständlich auch um die Rechtfertigung der eigenen Entscheidungen. Den Bericht aus dem Getriebe des Illusionsapparates hat Ewart Reder gelesen.

 

Die Titelfrage hat es in sich. Ihre shakespearische Anlautung mag noch Ironie sein – der Autor wird seinen Humor durch das Buch hindurch lesefördernd betätigen. Inhaltlich sind die drei Titelwörter Schwergewichte: „Sein oder Spielen.“ Liest man die Unterzeile „Über Filmschauspielerei“, ahnt man den Zusammenhang. Um die Brecht-Stanislawski-Kontroverse geht es, vordergründig, um die Frage, ob Schauspieler sich mit ihren Rollen identifizieren (sie sein) oder die Rollen nur vorstellen (sie spielen) sollen. Man erfährt, dass die Stanislawski-Rezeption in den USA bald an einem Scheideweg stand: Soll ich mich als Schauspieler in meine Rolle verwandeln, soll sie mein neues Ich sein? So wollte es Schauspielschulleiter Lee Strasberg. Oder soll die Rolle mich inspirieren durch das, was anders ist als ich, sodass zwischen dem Anderen und dem Eigenen ein Raum entsteht, den ich bespielen kann. Das empfahl die Schauspielerin Stella Adler.

Dominik Graf, Regisseur und Autor von „Sein oder Spielen“, neigt Adler zu, lässt aber auch Strasberg und Brecht / Eisenstein ihr Recht. Konkret wird das Problem bei jedem Casting: Sollen es Schauspieler oder Laien machen? Grafs Antwort reißt das Problem in seiner Tiefe auf, zeigt, was alles dranhängt: „Ich plädiere durchaus für die absolute Unverzichtbarkeit von gleichzeitig gutem und ‚schlechtem‘ Spiel, von Laientheater, von extremer Unterschiedlichkeit – und das direkt neben dem angeblich ‚Normalen‘, dem – ebenso lebenswichtigen – Identifikations-Spiel. Weil im Film das Abbild der Gesellschaft im Mikrokosmos den Makrokosmos spiegeln sollte. Und die Welt ist ein Irrenhaus“.

Film ist nie bloß Film, heißt das. Sein Zelluloid, beziehungsweise seine Datensätze bedeuten die Welt. Und seine Verfertigung ist pulsierendes, kompliziertes und gefährliches Leben. Zumal heute alle spielen, gibt der Autor schon eingangs zu bedenken – Social-Media-Accountinhaber, Partnersuchende, Sportler, Politiker. Trump habe das Stenogramm seiner Mimik, den ‚brutal‘ ausgefahrenen Unterkiefer nach einer schockierenden Aussage, von Chaplin, der Hitler damit nachmachte, der Mussolini damit nachmachte. Die Lächerlichkeit bleibt Episode beziehungsweise der Zwang zum Dauerspielen ist stärker, die Uralttricks klappen wieder. Auch als Gegenbewegung zu solcherart Symbolinflation fing der Film an ‚realistisch‘ zu sprechen: zu nuscheln, sich dialektal zu färben, durcheinanderzureden. Es musste sein, hilft einem Graf zu verstehen, das Hohle des allgegenwärtigen Schauspielens musste gebannt werden und steckte längst nicht mehr nur im Pathos. Die „Wandlungsfähigkeit“ vieler Schauspieler etwa sei blanke Eitelkeit, ein Protzen mit professionellem Können. Na denn, es werde genuschelt! – wenn es der Wahrheitswiederfindung dient.

Anfangs war das Laienspiel im Film eher ein Trick der Regisseure, um sich in den Vordergrund zu schieben. So hart sagt Dominik Graf es nicht, trotzdem, der sogenannte Autorenfilm der Siebziger war das Kino, das er und seine Generation hinter sich lassen beziehungsweise bringen wollten. „Die Nebenfiguren waren zu Hauptfiguren berufen worden. Denn der neue Star war in dieser Konstellation nun eigentlich der/die AutorIn bzw. RegisseurIn.“ Mit dem ungelenken Spiel ihrer Darsteller schlugen die Halbgötter der Klappe zwei Fliegen: Die Regie wirkte demgegenüber gekonnter und aus dem mimisch-gestischen Gestümper vor der Kamera ließ sich hinter ihr eine ‚Ästhetik‘ basteln beziehungsweise behaupten. Graf und Konsorten seien insofern fast ersehnt worden, als viele dieses Kino satthatten. Speziell die in ihm beschäftigten Frauen waren neugierig auf eine reflektiertere und umgänglichere Machergeneration.

Die brachte ihre eigenen Fragen und Sehnsüchte mit, definierte sich keineswegs über den Gegensatz zu „Fassbinder, Schlöndorff, Herzog (sie seien hier mal als Pauschaltruppe benannt)“. Bei Graf war es das eigene Kinoerlebnis – noch vor der Tatsache, dass die Eltern beruflich schauspielten – was ihn zum Film trieb. Immer interessant und oft mitreißend erzählt der Autor von Regiegrößen wie Roeg, Godard oder Bresson, von bedeutenden Schauspielerinnen und Schauspielern wie Martina Gedeck, Götz George und vielen anderen, widmet unter anderem dem Casting und der Mimik eigene Kapitel, nimmt seine Leser mit an den Set, öffnet ihnen ungeahnte Kameraaugen. Den prägenden Eindruck auf ihn machte Hollywood, jedenfalls im Verbund mit seinen Dissidenten. Das Erlebnis, das ein starker Film bot, die Aura, die seine Schauspielerinnen und Schauspieler besaßen, zeichneten vor, wonach der junge Regisseur auf die Suche ging. Geht es um solche Dinge, kann Graf sogar kulturkritisch klingen, was sonst nicht seine Art ist: „Hierarchien sind momentan in der Kunst nicht gut beleumundet. Die Welt ein Stückchen gleicher machen … Aber was wäre, wenn man doch wollte, dass das Publikum fasziniert ist, sich verliebt und gar begehrt?“ Der Film ist dem Leben zu ähnlich, als dass er sich leisten könnte, auf dessen Grundakkord zu verzichten: Leidenschaft – Leiden – Lernen (wollen). Mit konventioneller Ästhetik hat das nichts zu tun. Kein amerikanischer Regisseur wird von Graf höher herausgehoben, begehrlicher analysiert als John Cassavetes, der Abweichler. Stars wollte der keine, weil mit denen ein komplettes – und komplett falsches – Mindset mitgeliefert würde: der Individualismus. Großaufnahmen definierte Cassavetes von Grund auf neu: als Versammlungen eines Schauspieler-Kollektivs, nicht einzelner Stars. Mit solchen Mitteln transportierten seine Filme neue und aufregende Inhalte, ein interdependentes Lebensgefühl. Aber eben ein Gefühl! Da liegt die Verbindungslinie zu den Anfängen und Triumphen von Hollywood.

Und da liegt die Trennlinie zum experimentellen Autorenfilm. Pasolini traute dem Filmbild keine Wahrheit zu. Flach, zweidimensional, wie es war, konnte es nur Illusionen erzeugen. Den Weg zum Herzen des Zuschauers, diametral zum Bild, sollten die Erzählung und die Musik finden, hoffte er gestützt auf Eisensteins „Manifest der Asynchronizität“. Ähnlich verhalten beurteilte Godard die Macht seiner Bilder. Interessant, wie einem literarischen Avantgardisten dies beim Godard-Gucken spontan aufging – Jürgen Ploog über Godard: „Seine Bilder sind filmisch wenig ergiebig, fast dokumentarisch. Sie halten die Sätze zusammen, die ihren eigenen Raum bilden. Die Bilder sind wie eine Fläche, hinter der sich der Abgrund der Wörter auftut. Wirklich ein Film in Worten.“ (Aus unveröffentlichten Tagebüchern Jürgen Ploogs, Dank an der Stelle an Wolfgang Rüger, der mir Auszüge zur Verfügung stellte.) Gegen derlei postmodernen Skeptizismus stellt Dominik Graf einen Satz von Alejandro Jodorowsky: „Film ist eine Sammlung von Bildern, die direkt ins Herz und in die Seele gehen.“

Ebenso zustimmend zitiert Graf den Filmwissenschaftler Helmut Färber: „Das Einzigartige an der Kinematographie ist, daß sie in jeder Einstellung, jeder Aufnahme, die Teil eines Films wird, etwas zu bewahren vermag, was ohne die Aufnahme da war und ist“. Man denkt an Sätze, mit denen Pasolini sein neuartiges Kino ankündigte: „Die Taten der Welt werden nur mitgeteilt werden. Sie sind die einzige Poesie.“ Von den Akteurinnen und Akteuren vor der Kamera erwartet Graf konsequenterweise eine Kraft, die nicht aus dem Schauspielunterricht, sondern aus dem Leben kommt. Früh interessierten ihn der Geschlechterkampf, der Überlebenskampf, auch das Verbrechen als Sujets, in denen ein Mensch auf das zurückgeworfen ist, was in ihm steckt. Zugleich will er wissen, wo seine, die bundesrepublikanische Gesellschaft aktuell steht, greift immer wieder heiße Eisen auf und sucht eine Darstellung, die hinter die Fassade führt. Einige seiner besten Filme erhielten keine Förderung, weil sie „zu wahr“ erzählen, schreibt die FAZ über „Das unsichtbare Mädchen“. Und Eva März in der Süddeutschen Zeitung resümiert: „Fast scheint es, als wäre Dominik Graf im deutschen Film das, wofür im französischen Kino Claude Chabrol steht: Ein Chronist der bürgerlichen Abgründe.“

Den Schauspielern verlangt dieses Programm einiges ab. Emotionalität ist nötig, damit ein Graf-Film rauskommt. Insofern ist Filmarbeit riskant, steht auch quer zu psychologischen Strategien, mit denen die und der Einzelne sich sonst in der multiplen Gefahrenlage ihrer Welt behaupten. Gepanzerte Menschen können viel, aber nicht schauspielen – zu diesem wichtigen Aspekt ein längeres Zitat: „Verletzlichkeit und emotionale Instabilität sind schwer auszubalancieren, zweifellos, aber sie schaffen allen großen und kleinen KünstlerInnen auf der Welt auch eine Transparenz … Sehnsucht nach Liebe, die man SchauspielerInnen im Kino ansieht, kann nicht ersetzt werden durch ausgestelltes Ich-Bewusstsein, durch ‚Ich weiß wer ich bin und was ich will‘ und festgeklopfte Ich-AG-Karriere-Strategien. Die Gewagtheit, die Abstürze, die unerfüllten Sehnsüchte, die Tränen – die muss man im Film sehen, glauben können. Einiges kann man nun mal nicht spielen. Und die permanente Offenheit, die der Beruf fordert, ist unersetzlich.“

Dass Graf nicht wüsste, in welchem Business er tätig ist, dass er dessen toxische Aspekte nicht erkenne oder gar bestreiten wolle, kann niemand behaupten. Man nehme nur „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ nach dem Roman von Erich Kästner, für viele Grafs Meisterwerk, die Summe dessen, was der Regisseur ausprobiert hat, was er drauf hat. Da geht es im Kern um die Zerstörung einer Liebesbeziehung durch das Filmgeschäft. Graf lässt seinen lebenslangen Superstar Götz George den Filmproduzenten Makart so spielen, dass jede Aufnahme von dessen Gesicht die Machtgeste in aller Obszönität ausstellt. Das Pippi in seinen Augen kann vom Alkohol herrühren oder, noch ekliger, von der Rührung über sich selbst, wenn er den Geliebten der Schauspielerin mit zu sich an den Tisch einlädt. Immer ist klar: Die Schauspielerin gehört ihm, Makart. Und die ‚spielt mit‘ im doppelten Wortsinn, fügt sich in die Gegebenheiten ihres Berufs. Wie Saskia Rosendahl zuvor die ausufernden Bettszenen mit Tom Schilling gestaltet hat, bekommt einen neuen Sinn: dass sie diese Innigkeit und natürliche Wildheit nie wieder zeigen wird. Der Verlustschmerz grundiert den kompletten Rest des Films. Dass der Film nur eine Filiale der Geschäftswelt ist, dass deren Brutalität hier zeitgeschichtlich verallgemeinert und klug aktualisiert wird, relativiert nichts von der Besonderheit der Machtverhältnisse, in denen Schauspielerinnen arbeiten müssen. Eher irritieren da Passagen in Grafs Buch wie diejenige, in der mit Bezug auf den Źuławski-Film „Nachtblende“ von Regie-Accessoirs die Rede ist: „Männer, die den ganzen Tag in Bademänteln herumlaufen – ‚Schlafröcke‘ nannte man diese Kleidungsstücke, die es so heute nicht mehr gibt. Und in denen einst Caster und Regisseure eines anderen Zeitalters ihre SchauspielerInnen zum Vorsprechen im Hotelzimmer empfangen haben.“ Wie „anders“ jene Zeiten waren, können nur die Betroffenen sagen.

Graf beschreibt die Art, wie er mit Schauspielerinnen und Schauspielern arbeitet, in ebenso klugen wie sympathischen Worten. „Ich mache viele Vorschläge, aber ich dominiere nicht bei den SchauspielerInnen. Spielen müssen sie ja letztlich doch selbst ...“ Am liebsten drehe er mit Leuten, die er kenne, deren Entwicklung er verfolgt und mitgeprägt habe. Er sei in besonderer Weise neugierig und erwartungsvoll, was da noch komme. Oft gefallen sie ihm in Filmen von Kolleginnen oder Kollegen besser als in den eigenen, da sind die Fehler, die er mit ihnen gemacht hat, nicht passiert. Überhaupt ist Bescheidenheit ein Vorzug seines Buchs, Kritikerlob und Preise etwa können ihn nicht umstimmen, wenn er einen eigenen Film für misslungen hält. Das Buch ist ein Vergnügen, weil es lebendig aus einer Welt berichtet, die den meisten verborgen bleibt, weil es die Grundfragen dieser Welt leidenschaftlich diskutiert und weil es auf jeder Seite nachvollziehbar macht, warum einer seine Gewissheiten, seine Gemütsruhe und seinen Stolz drangibt, um in dieser Welt zu leben, beziehungsweise um sie mit seiner Arbeit hervorzubringen. Vielleicht das größte Vergnügen macht das Buch, indem man lesend einem Menschen zuhört, der viel und wach und oft schnell gelebt hat und die Fähigkeit besitzt, davon zu erzählen. Das ist sehr anregend.

Dominik Graf
Sein oder Spielen
Über Filmschauspielerei
391 S., mit 90 Abb., geb.
ISBN: 978-3-406-82299-5
Verlag C.H.Beck, München 2025
 
 
 
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Erstellungsdatum: 08.12.2025