Seit 150 Jahren gibt es nunmehr die Münchner Opernfestspiele. Im Mittelpunkt steht dieses Jahr Mozarts Don Giovanni in einer Neubetrachtung von Regisseur David Hermann. Das Ergebnis: eine auf den ersten Blick verwirrende und ungewohnt ironische Sicht auf das „Dramma giocoso“. Auf den zweiten Blick ein den Intentionen von Komponist Mozart und Librettist Da Ponte entsprechendes Bühnenspektakel, das die beabsichtigte Vielschichtigkeit von Lebens-Dramen, -Freuden, -Lügen und -Absurditäten spielerisch aufgreift. Andrea Richter hat gestaunt, gelacht, gelitten und die ungebremste Spiel- und Sangesfreude der Beteiligten genossen.
Die düsteren Moll-Anfangsakkorde der Ouvertüre weisen ja bereits auf das Ende des Wüstlings hin. Und sofort öffnet sich in München zur Musik passend der Blick in die Hölle, wo sich Proserpina, die Frau von Hades-Gott Pluto, auf den Weg zu ihrem „Jahresurlaub“ auf der Erde machen will, da es in ihren Augen dort weit amüsanter zugeht als in der Unterwelt, wie dem eingeblendeten Text zu entnehmen ist. Warum Regisseur Hermann diese beiden Unterwelt-Gestalten als stumme Rollen einbezieht, erschließt sich demjenigen, der es nicht schon wusste, erst am Schluss: Im finalen Sextett heißt es nämlich: „Es bleibe also jener Schurke bei Proserpina und Pluto“. Nun ja, ob man sie deshalb während der gesamten Oper wirklich braucht, mag dahingestellt bleiben. Andererseits eröffnen sie die Möglichkeit zur Erweiterung des Rollenverständnisses insbesondere des Don Giovannis. Denn Proserpina sucht ihn aus, um sich nach Kräften zu amüsieren. Sprich, als Donna Anna sich während des lustvollen Liebesspiels kurz ins Bad verzieht, bemächtigt sich Proserpina Don Giovannis Körper, um möglichst viele Affären erleben zu können. Mit der Folge, dass Don Giovanni nun „ferngesteuert“ wird. Er legt das Korsett des eindeutig männlichen Gehabes ab und plötzlich tritt auch seine weibliche Seite hervor, so dass seine Gender-Eindeutigkeit verschwindet. Nun vergnügt sich Proserpina in Don Giovannis Körper weiter mit Anna im Bett. Als der Komtur sie erwischt und glaubt, seine Tochter sei von dem Wüstling vergewaltigt worden, will er ihm, sprich Proserpina, an den Kragen gehen. Pluto eilt seiner Frau zu Hilfe und bringt den Komtur um, nicht etwa Don Giovanni. Das alles passiert zu den Klängen der Ouvertüre.
Köstlich, wie daraufhin Konstantin Krimmel die Mann-Frau-Trans- wie-auch-immer-Elemente und deren Gestaltungsmöglichkeiten auslotet, um das Spiel mit der Lust manieriert voranzutreiben. Dabei reicht sein/ihr Menschen-Jäger-Verhalten von völlig verstört und verängstigt ob der eigenen Rolle bis eben hin zum bekannten charmant-grausamen Verführer und Grobian. Immer „ganz Mann“ und als Diener zwar gehorsam, dennoch an den Machenschaften seines Herrn zweifelnd, gibt Kyle Ketelsen dagegen einen stimmgewaltigen und -flexiblen, herrlich bodenständigen Leporello ab, der einerseits erfolglos versucht, seinen immer irrer werdenden Herrn einzufangen, respektive dessen empörtes Umfeld zu beruhigen, andererseits aber mitmacht. Nicht so die wegen der permanenten Untreue ihres Mannes Don Giovanni ebenso permanent empört klagende Ehefrau Donna Elvira, verkörpert durch eine großartige Samantha Hankey. Sie ist in dem Spiel die einzige Person, die unter geltenden Wert-Umständen keine moralische Schuld auf sich lädt. Allerdings kann sie einem gerade deshalb manchmal mit ihrer Gradlinigkeit etwas auf die Nerven gehen, und Erfolg hat sie damit sowieso nicht. Donna Anna, Vera-Lotte Boecker, macht als verlogenes Biest eine glänzende Figur, und man versteht Don Ottavio, Giovanni Sala, völlig, der in dieser Inszenierung nicht etwa den schmachtenden, sich den Rachegelüsten der Verlobten umstandslos Hingebenden abgibt, sondern sehr stark auf Distanz zu ihr bleibt, weil er ihren Lügengeschichten nicht glaubt. Konsequenterweise entfällt deshalb seine wunderbare Arie „Dalla sua pace la mia dipende…“ aus, denn von ihrem Glück hängt das seine offensichtlich nicht ab. Im Gegenteil: Die Trennung des Paares liegt von Anfang an in der Luft. Ob zwischen Zerlina, Avery Amereau, und Don Giovanni tatsächlich etwas läuft oder nicht? Unklar, aber auch insofern unwichtig, als ihre Hochzeit mit Masetto für die in Don Giovanni hausende Teufelsgöttin Proserpina einen weiteren Anlass bietet, ihren Hedonismus langsam auf die Spitze zu treiben und alle Mitwirkende in absurde Kostüme und Masken zu stecken, mit deren Hilfe noch mehr Verderbliches getrieben werden kann. In einem von Don Ottavio geführten Strafprozess gegen Don Giovanni, der sich als Leporello entpuppt, zieht sich im 2. Akt das Netz gegen ihn/sie langsam zu. Der Komtur meldet sich zu Wort. Proserpina, die genau weiß, dass ihre Hades-Auszeit auf Erden sowieso bald beendet sein wird, geht noch einmal aufs Ganze und lädt ihn als Don Giovanni zum opulenten Essen mit Musik ein. Der Komtur erscheint in knallrotem Krankenhaus-Patienten-Kittel (hinten offen!) und es kommt zum Show-Down: Don Giovanni wird ins Höllenfeuer gezogen, Proserpina kehrt zurück zu Pluto. Die Anderen bleiben das Finalsextett wunderbar singend ratlos in der Oberwelt zurück. Wie wird es mit ihnen weitergehen?
Eine vordergründig betrachtet gewagte Inszenierung, weil David Hermann das im Allgemeinen vor allem als dramatische Oper auf die Bühne gebrachte Werk als Opera buffa (komische Oper) mit starken dramatischen Passagen behandelt. Also anscheinend anders als es die Bezeichnung „Dramma giocoso“ mit dem Schwerpunkt auf „Dramma“ vorzugeben scheint. Damit entspricht er aber durchaus Mozarts Willen, der es selbst als Opera buffa bezeichnete. Heute weiß man, dass der Terminus „Dramma giocoso“ lediglich von Verlegern für die Einordnung der Abdrucke von Texten komischer Opern benutzt wurde, also weder vom Komponisten Mozart noch vom Librettisten Da Ponte. Tatsächlich gibt es bei näherer Betrachtung auch nur zwei wirklich dramatische Momente im Werk: am Anfang und am Ende, wenn Don Giovanni jeweils auf den Komtur trifft. Nach seiner Höllenfahrt bleiben die anderen Protagonisten zwar ziemlich perplex, aber nicht grundsätzlich unglücklich zurück, denn für sie geht das Lebens-Spiel weiter. Und auch die Gestaltung der Charaktere spricht stark für eine Tendenz Richtung komisch. Der Titelheld wurde von Da Ponte textlich und von Mozart musikalisch bereits so angelegt, dass er auch für damalige Verhältnisse völlig übertrieben, rein testosterongesteuert und empathiefrei agiert. Ebenso unglaubwürdig die unüberschaubar große Riege der Damen und Frauen, die ihm reihenweise verfallen und ihre Partner betrügen. Anders als beispielsweise im Hollywood-Fall Weinstein, geben sie sich ihm freiwillig hin, da er äußerst charmant, romantisch und überzeugend sein kann, wenn er glaubt, so seinem Ziel näher zu kommen. Er ist also im Grunde genommen nichts weiter als eine Männlichkeits-Karikatur, die als Schwungrad für ein Gesellschaftsspiel bestehend aus Betrug, Täuschungen und endlosem Hedonismus dient. Und alle machen mit. Selbst seine tief enttäuschte, mit hoch dramatischen Verzweiflungs-Arien ausgestattete Frau Elvira, die versucht, andere Frauen vor ihm zu warnen und ihn zu retten, natürlich nur, um ihn endlich für sich allein zu haben. Angesichts der Verhältnisse und seines Charakters ein von Anbeginn sinnloses Unterfangen, wodurch sie selbst zur Karikatur der moralisch anscheinend Überlegenen wird.
Hermanns ironisch-spielerischer Umgang mit dem Stoff entspricht demnach dem Ursprungsanliegen von Mozart/Da Ponte. Er nimmt sich nur die Freiheit, die komische Seite des Lebens und seiner Facetten besonders zu betonen. Genau wie Mozart selbst es in seinem eigenen Leben tat und sich damit als Politisch-Inkorrekter häufig genug Ärger einhandelte. Das keineswegs negierte oder übersehene Drama bleibt auch in Hermanns Inszenierung erhalten: in der Musik. Sie spiegelt in jedem Moment die sehr unterschiedlichen inneren Zustände der Protagonist:innen wider. Rasend schnell wechseln die Szenen, die Leute, die Orte, die Kostüme, die Gefühle, aber immer ist entweder aus der letzten und/oder der nächsten Szene jemand da, der der Zuschauerin in dem Geschehens-Wirbel Orientierung und den Solist:innen Räume für ihre Entfaltung gibt, was sie bestens zu nutzen wissen.
Mit der Geschwindigkeit der Szenenwechsel hält die der Bühnenbildwechsel mit, was bedeutet, dass es sich pausenlos ändert. Den Rahmen bildet ein moderner Betonbau, der in so viele Einzelteile zerlegt werden kann, dass er einmal ein Wohn-, dann ein Büro-Haus, dann eine Straße mit mehreren Häusern, dann einen Park oder einen Festsaal darstellt und immer wieder den Blick in die Hölle eröffnet. Unglaublich, wozu Bühnentechnik fähig ist.
Vladimir Jurowskis Dirigat war ein etwas zu „sachliches“ und vor allem insofern erstaunliches, als er mit den Sänger:innen auf der Bühne so gut wie nichts zu tun hatte. Er gab ihnen, soweit vom Zuschauerraum aus ersichtlich, kaum Einsätze, widmete sich ausschließlich dem Orchester. Wurden die Bühnenbewohner aus dem Souffleurkasten dirigiert? Wie auch immer: Sie machten ihre Sache gut und erhielten den verdienten Applaus.
Kyle Ketelsen (Leporello). Foto: Geoffroy Schied
Don Giovanni
Dramma giocoso in 2 Akten
Musik: Wolfgang Amadeus Mozart
Text: Lorenzo Da Ponte
Uraufführung 1787 im Ständetheater Prag
Besetzung
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Inszenierung: David Hermann
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Sibylle Wallum
Licht: Felice Ross
Choreographie: Jean-Philippe Guilois
Dramaturgie: Olaf Roth
Chor: Christoph Heil
Don Giovanni: Konstantin Krimmel
Der Komtur: Christof Fischesser
Donna Anna: Vera-Lotte Boecker
Don Ottavio: Giovanni Sala
Donna Elvira: Samantha Hankey
Leporello: Kyle Ketelsen
Zerlina: Avery Amereau
Masetto: Michael Mofidian
Pluto: Andrea Scarfi
Proserpina: Erica D´Amico
Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor
Nationaltheater München
Weitere Vorstellungen:
22., 25. und 30. Januar 2026
Erstellungsdatum: 09.07.2025