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Abdelaziz Baraka Sakin: „Der Rabe, der mich liebte“

Über den Ameisenweg zurück

Andrea Pollmeier


Abdelaziz Baraka Sakin, Foto: Verlag Klingenberg

Der sudanesische Autor Abdelaziz Baraka Sakin zählt zu den bedeutenden Stimmen der arabischen Literatur und erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie 2022 vom Institut du Monde Arabe und 2023 in Montréal den Prix BaoBaB. Seit 2012 lebt Sakin im österreichischen Exil. Dort war er 2022/23 Stadtschreiber von Graz. Hier entlang führt auch die „Ameisenroute“, der risikoreiche Fluchtweg von der Hauptstadt des Sudan Khartum durch die Wüste nach Europa. Sakin gibt in seinem Werk „Der Rabe, der mich liebte“ außergewöhnlichen Einblick in die Lebensrealität der Flüchtenden. Andrea Pollmeier empfiehlt den Roman.

 

 

Der „Dschungel“ heißt ein Gebiet in der Nähe von Calais, über das Inhaber gültiger Reisepässe und Ausweise meist nur diffuse Kenntnis haben. Hier verstecken sich diejenigen, die über gefährliche Routen tausende Kilometer weit bis zu diesem Nadelöhr an die Küste Frankreichs geflohen sind. An dieser Stelle hoffen sie, unentdeckt auf einen Lastwagen zu gelangen, der sie durch den Channel hindurch nach England bringt.


In seinem im Klingenberg Verlag erschienen Roman „Der Rabe, der mich liebte“ erzählt der 1963 im Sudan geborene Autor Abdelaziz Baraka Sakin von diesem tragisch-prekären Ort. Am Beispiel von zwei Jugendfreunden, Adam und Nuri, die von Sudans Hauptstadt aus über den „Ameisenweg“ via Graz nach Calais kamen, macht Sakin erkennbar, wie eng während der Flucht schicksalhafte Tragik und glückhaftes Überleben ineinander verflochten sind. Während das Asylgesuch Nuris anerkannt wird und er sein Leben in Frankreich neu begründen kann, wird der Weg des hoffnungsvollen und begabten Freundes, der schon als Kind Edgar Allen Poe und Kafka las und Linguistikprofessor in England werden wollte, im Wahnsinn enden.


Die Erzählung folgt einem multiperspektivischen Pfad, indem mehrere Personen, die Adam auf der Flucht begegnet sind, von ihren Beobachtungen erzählen. Durch die sich ergänzenden Schilderungen entwickelt sich ein vielschichtiges Bild, das mit zunehmender Genauigkeit auch eine immer stärker werdende Empathie für diesen jungen Mann hervorruft. Schritt für Schritt wird nicht nur Adams aussergewöhnliche Persönlichkeit erkennbar, sondern auch die Art, wie das Netzwerk der sudanesischen Gemeinschaft auf der Flucht füreinander einsteht und innere Regeln trotz ihrer anarchischen Lage fortwirken.

Schon zu Beginn ist klar, Adam, hat es nicht geschafft. Die beiden jungen Männer, die sich auf ihrer Flucht durch Todesgefahren hindurch unterstützt hatten und deren Wege sich im „Dschungel“ trennte, begegnen einander nach zwei Jahren durch Zufall und wie Fremde. Der eine, Nuri, ist auf einer „routinemäßigen“ Geschäftsreise und trifft am Bahnhof in Graz hinter einer Glastür, die Reisende von Zurückbleibenden trennt, seinen Freund, der dort mit inzwischen verwirrtem Geist sitzt und bettelt. Mit diesem emotional belastenden Bild setzt die Erzählung zunächst ein. Inglez ist innerhalb von zwei Jahren vergreist, dünn wie ein Bambusrohr, grauhaarig und vernächlässigt, die ehemals schwarz glänzende Haut wirkt fahl und gelblich. Zwar spricht er noch immer ein feines Englisch und die gutmütigen Augen sind wie „unveränderliche und fälschungssichere Identitätsausweise“ ungetrübt, doch ist dies nun bedeutungslos. Schon diese erste, ikonische Szene, mit der die Erzählung in der intimen Ich-Perspektive beginnt, zeigt: Glück und Unglück, Erfolg und Scheitern liegen während einer Flucht bedrängend nah beieinander.  

Doch bleibt es nicht bei dieser für zahllose Fluchterzählungen charakteristischen Erkenntnis. Dem Rückblick des Freundes folgt die Schilderung von „Mama Eva“, einer jungen Österreicherin, die sich nach einer gerade erlittenen Fehlgeburt um Inglez kümmert. Sie berichtet, wie sie Inglez begegnet ist. Ihr innerer Monolog zeigt ihn im Ist-Zustand, ohne Vorgeschichte. Sie kann nur intuitiv erahnen, welch noble Haltung Inglez von Kindheit an angetrieben und bewahrt hat.

Immer wieder lässt Sakin, der 2012 aufgrund staatlicher Repressionen seine Heimat verlassen hat und seither in Österreich lebt, aus der Perspektive Dritter von komplexen, oft ambivalenten Ereignissen erzählen. So beschreibt Nuri, wie es ihm gelingt, mit einem Schultrick auf einer italienischen Polizeiwache die Dublin-Gesetze zu umgehen. Inglez hingegen wird erfasst und anhand seiner Fingerabdrücke von nun an stets nach Italien zurück geschickt. Auch hilfsbereite Menschen wie Mama Eva, caritative Organisationen oder Grazer Polizisten, die den obdachlos Gewordenen kennen und in Obhut bringen wollen, werden dies nicht verhindern können.

Die integre Kraft, die Adam antreibt, zeigt sich nicht nur in seiner Art, anderen zu helfen. In einer diskreten, poetischen Sprache, die von der Übersetzerin Larissa Bender einfühlsam aus dem Arabischen ins Deutsche übertragen worden ist, schildert Sakin, wie sich zwischen den Zelten im Dschungel eine Konventionen überschreitende Liebesbeziehung entfaltet, die menschliche Nähe über gesellschaftliche Normen stellt. Ein Liebesbrief gibt Einblick in die innersten Gefühle des Geflüchteten und macht spürbar, dass an den Fluchtzentren nicht nur Körper, sondern Menschen ausharren, um ihre Träume zu verwirklichen. Während Adams Geliebten jedoch mit seiner Unterstützung die Flucht nach England gelingt, wird er selbst nach einem gescheiterten Flug über den Ärmelkanal versuchen, zu Fuß in den Sudan zurückzufliehen.

Es ist kein spoilern, wenn man bereits zu Beginn der Erzählung um das Scheitern von Adams Hoffnung weiß. Denn Dank der erzählerischen Kraft Sakins, der 2022/23 zum Stadtschreiber von Graz ernannt  wurde, bleibt die Spannung fokussiert auf die Momente, die das Scheitern verursachen. Härte und Kälte des Fluchtgeschehens werden so auch für Außenstehende in besonderer Weise transparent.

Abdelaziz Baraka Sakin
Der Rabe, der mich liebte
Roman, 136 Seiten
Aus dem Arabischen übersetzt von Larissa Bender
Hardcover, fadengeheftet
ISBN 978-3-903284-27-2
Verlag Klingenberg, August 2024

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Erstellungsdatum: 05.11.2024