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Gedicht von Andreas Altmann

Über Tag über Nacht

Andreas Altmann


 

Einen Tag und eine halbe Nacht hat es geschneit.

Mit jeder Stunde wurde die Landschaft stiller, bis sie

den Atem anhielt. Schicht um Schicht deckte sich

das Gedächtnis zu. Die Worte haben sich im Schnee

eingenistet und halten sich den Finger an den Mund.

Auch im Zug leuchtet das Schweigen heller. Tiefer

liegen jetzt die Begrabenen. Das macht Schritte

schwerer im hohen Weiß, als wäre ein Anfang leichter

ohne Geschichte. Tiere verraten den Jägern die Spur.

Bäume tragen die Last und senken die Blicke. In Eis

nächten bin ich aufgewachsen an der Brust meiner Mutter.

Dann habe ich sie nicht mehr wiedergesehen. Je offener

das Land, desto flacher der Schnee. Er steht auf dünnen

Beinen und kommt nicht vom Fleck. Denke ich an Vater

und Mutter, weil das Leben zu Ende geht oder das Herz

langsamer schlägt. Ich schlafe gut in den letzten Jahren.

Ich kann Träume an die Hand nehmen und in dunkle

Gassen führen, in denen ich sie dann allein lasse, wenn sie

mir etwas einreden wollen. Bald komme ich zum Haus.

Es wird kalt sein. Und ich werde der Erste sein,

der in meine Spuren tritt, ohne rückwärts zu gehen.

 

 

 

Erstellungsdatum: 07.05.2025