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Das Tagebuch von Sonja Borus

Unbeschreibliche Ängste

Christel Wollmann-Fiedler


Sonja, das Kind der Villa Emma in Nonantola im Krieg

Dank der Kinder und Jugend-Alijah ist Sonja Borus als 13-Jährige den Fängen der Nazis entkommen. Ihre Eltern und der Bruder wurden in den Gaskammern ermordet. Während ihrer vierjährigen Flucht nach Israel vertraute sie dem Tagebuch ihre Ängste, Hoffnungen, Sehnsüchte und Zweifel an. Christel Wollmann-Fiedler gibt Einblick in die Seelenqualen eines jungen Mädchens das es schaffte, den erlebten Grausamkeiten zu trotzen.

 

Recha Schweitzer wurde 1892 in Ostfriesland in eine orthodoxe jüdische Familie geboren. Über große Umwege kam sie nach Berlin, zwischenzeitlich heiratete sie den Oberrabbiner Moritz Freier. Als bekennende Zionistin und sozial hoch engagierte Frau wurde Recha Freier bekannt. Schon 1933 gründete sie in der Kantstraße in Berlin–Charlottenburg die Jugend-Alijah. Nach der Reichspogromnacht 1938 schritt sie zur Tat und brachte Kinder und Jugendliche nach Palästina in Kibbuzim und Familien. Albert Einstein schlug sie deshalb 1954 für den Friedensnobelpreis vor – ohne Erfolg.

Die Nationalsozialistische Regierung hatte die Hetzjagd auf jüdische Bürger begonnen. Im Herbst 1939 überfiel die Deutsche Wehrmacht andere Länder, Europa war im Krieg. Für die jüdische Bevölkerung war Untertauchen die einzige Möglichkeit zu überleben. 1940 konnte sich Recha Freier mit ihrer Tochter und einer Gruppe von neunzig Kindern über Wien und Zagreb nach Palästina retten und entging dadurch der Verhaftung und Deportation. Vierzig Kinder mussten in Zagreb bleiben weil ihnen Papiere fehlten – darunter auch die dreizehnjährige Sonja Borus.

Ihre Eltern Beila und Abraham waren der großen Armut in Polen entflohen und führten mit ihren Kindern ein dürftiges Leben in Berlin. Im Herbst 1939 wurde der Vater als feindlicher Ausländer abgeholt und starb an Misshandlungen im Konzentrationslager Sachsenhausen. Der ältere Sohn Samuel floh in den von den Sowjets besetzten Teil Polens und meldete sich nie wieder. Die Mutter versuchte, mit den Kindern zu überleben. In ihrer großen Not vertraute sie ihre Tochter Sonja Recha Freier und ihrer Jugend-Alijah an, um dem Mädchen eine bessere Zukunft zu geben und ihr das Leben zu retten. Sie selbst blieb mit Martin, dem Jüngsten, in Berlin und musste Zwangsarbeit bei Siemens verrichten.

Sonja hatte große Sehnsucht nach der Mutter und dem kleinen Bruder in Berlin. Zu Chanukka 1941 bekam sie ein Tagebuch geschenkt, um sie ihre Gefühle und ihre Gedanken aufzuschreiben zu lassen. Ihre Eintragungen wurden für den Berliner Historiker Dr. Klaus Voigt ein wichtiger Fundus für sein Buch „Villa Emma – Jüdische Kinder auf der Flucht 1940-1945“. Nachdem die Wehrmacht 1943 Italien besetzte, wurde die Villa in Italien zum Rettungsanker für jüdische Kinder, die nicht mehr nach Palästina gebracht werden konnten. (Von Christel Wollmann-Fiedler gibt es einen ausführlichen Beitrag über Klaus Voigt und seine Forschungen zur Villa Emma in Nonantola in der italienischen Provinz Modena: Link

Sonja vertraute dem Tagebuch Befindlichkeiten und Sehnsüchte an. Es sind die Gefühle eines Kindes, das in fremde, unvertraute Länder und Lebensverhältnisse gerettet wird. Weit weg von der bereits in Gaskammern ermordeten Familie beschreibt sie ihr Heimweh, ihr Verlangen nach der Mutter und dem kleinen Bruder. Am 5. Juli 1942 erfahren wir aus ihren Tagebucheintragungen, dass sie und ihre Gefährten vom slowenischen Lesno Brdo nach Nonantola gehen werden. Sie vergleicht und beschreibt das Begehen Jüdischer Feiertage hier und in Berlin, schwärmt über Ausflüge nach Ljubljana ins Theater, über Filme und Bücher. Wir erfahren, wie kritisch diese inzwischen fast Fünfzehnjährige ihre Umgebung wie auch die Charaktere der Menschen sieht, mit denen sie ihr Leben teilt.

Tägliche Begleiter sind die Tränen. Ihr junges Seelenleben schwankt hin und her, Zweifel holen sie ein. Befindlichkeiten und Sehnsüchte, beginnende Freundschaften und Liebeleien, Eifersüchteleien und Enttäuschungen quälen das junge, erwachsen werdende Mädchen. Ganz persönliche Gedanken vertraut sie diesem Tagebuch an, schreibt über ihr „hässliches“ Aussehen, hat kein Vertrauen zu sich selbst. Es sind die Gefühle eines Kindes, dem die Familie genommen wird, das in fremde, völlig unvertraute Länder und Lebensverhältnisse gerettet wird. Wir erfahren über Sonjas Einsamkeit und Verlassenheit, und immer wieder über ihre Sehnsucht nach Zuhause. Die Sehnsucht nach der Mutter wird für Sonja eine Lebensbegleiterin, das Erwachsenwerden kommt von heute auf morgen, weit weg von der Familie. Die unsichere Zukunft in Eretz Israel, dem Land der Rettung, liegt ihr bereits schwer auf der kindlichen Seele.


Abtei von Nonantola Foto: Ich, Sailko BY-SA 3.0. wikimedia commons

 

Sonja schreibt am 26. Juli 1943, dass Mussolini abgesetzt wurde und einen Monat später bereits deutsche Soldaten zu sehen sind. Am 11. September 1943 steht im Tagebuch, dass Italien mit England Frieden geschlossen hat und sich die Deutschen rächen werden an den Juden! Die Kinder verlassen die Villa Emma, die Jungen werden im Priesterseminar neben der Abteikirche untergebracht und die Mädchen bei den Nonnen des Hospitaliterinnenordens. Beim Umzug ist ihr Tagebuch verlorengegangen. Scham über das Geschriebene kommt auf, weil es nun von anderen gelesen werden kann. Eines Nachts geht sie in die Villa zurück und kann das Buch retten. In der Gemeinschaft mit den anderen Mädchen und den Nonnen fühlt sich Sonja sehr unwohl und möchte gerne bei Bauern wohnen. Doch die deutschen Soldaten sind bereits im Ort, wohnen Wand an Wand mit den Heiligen Schwestern und dürfen die Kinder auf keinen Fall entdecken. Gefängnisähnlich erscheint Sonja die Situation.

Ob die Schweiz die jüdischen Kinder aufnehmen wird, ist ungewiss. Unweit von Nonantola im Dorf  Rubbiara wird Sonja in die bäuerliche Familie des Pfarrers Don Arrigo Beccari aufgenommen und fühlt sich dort besser. Don Beccari und der Amtsarzt Dr. Giuseppe Moreali kümmern sich um die Waisenkinder und haben die Flucht der Kinder in die Schweiz eingeleitet, täglich finden nun Fluchten statt. 27 Kinder und Erwachsene, darunter Sonja Borus, verlassen am 12. Oktober 1943 Nonantola. Mit dem Zug über Modena und Mailand reisten sie weiter nach Varese. Die Anspannung und Angst ist groß. Sonja, seit drei Jahren auf der Flucht vor den deutschen Nazis, den Judenverfolgern, schreibt über unbeschreibliche Ängste.

Es geht durch Wälder und Berge bis zur Tresa, dem Grenzfluss der Region Lombardei und dem Kanton Tessin. Vor dem Überqueren und Durchschwimmen der Tresa überkommen Sonja Todesängste. Sie werden abgelöst von einer unendlichen Freude über die gelungene Flucht, über das Ankommen und Aufgenommenwerden in der Schweiz im Oktober 1943. Die geordneten Verhältnisse und die Ordnung im Internierungsheim in Rovio oberhalb des Luganer Sees, die Pünktlichkeit des Tagesablaufes beeindrucken das junge Mädchen. Sie erwähnt das in einem der wenigen freudigen Sätze. Auch hier leidet sie unter der Angst, dass die Deutschen in die Schweiz einfallen könnten.

Mit viel Fantasie beschreibt das Berliner Kind Sonja die landschaftliche Pracht dieses freien, gastlichen Gebirgslandes. An den schneebedeckten Bergen konnte sie sich kaum satt sehen. Inzwischen werden die Kinder nach Belmont bei Montreux gebracht und danach im Jugend-Alijah-Heim in der Villa des Bains in Bex im Rhonetal auf Eretz Israel vorbereitet. Mit anderen zionistischen Gruppen treffen sie sich in Sommerlagern. Vom Krieg in Europa ist in den Schweizer Bergen nichts zu spüren. Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder hilft mit finanzieller Unterstützung. So kann Sonja eine Tante in Luzern besuchen und sich an ihrem neuen Kleid erfreuen. Die Launen und Gezänke unter den Mädchen gehen mehr oder weniger weiter. Zu Rosch HaSchana im September 1944 ist sie siebzehn Jahre alt und seit vier Jahren auf der Flucht. Am 26. November 1944 endet vorerst das Tagebuch von Sonja Borus.

Die Kinder und Jugendlichen werden eingehend auf die Alijah in Palästina vorbereitet. Am 11. Juni 1945 befinden sie sich auf dem langersehnten Weg nach Eretz Israel. Von Barcelona aus fährt sie das Schiff nach Haifa, wo sie am 18. Juni 1945 in den Hafen einfahren. Am letzten Oktobertag 1945 berichtet Sonja bereits aus dem Kibbuz Eilon nahe der libanesischen Grenze, später kommt sie im Kibbuz Ruchama an wo sie am 18.8.1949 den letzten Tagebucheintrag schreibt. Sonja Borus wird bis ins hohe Alter in diesem Kibbuz leben.

Ihr Vorwort (2011) in der von Klaus Voigt herausgegebenen deutschen Ausgabe (2014) ihrer Tagebuchaufzeichnungen ist ein Vorwort des Dankes, obwohl ihre gesamte Familie in den Gaskammern ermordet wurde, die Mutter und der kleine Bruder in Auschwitz. Die Sehnsucht nach Mutter und Bruder begleitet Sonja bis ins hohe Alter. Ihre eigene, ganz persönliche Familie, die sie in Israel gründen durfte und konnte, bereitet ihr bis heute große Freude. Trotz aller Grausamkeiten, die sie erleben musste, blieb sie eine Optimistin. Nur so konnte sie überleben und ihr eigenes Leben in die Hand nehmen, um eine Zukunft zu haben.

Die Freundin Lilli Lewin schrieb ihr 1941 in das Tagebuch:

„Zeige der Welt nur ein lachend Gesicht
Denn weinende Augen versteht sie nicht.
Wenn Dir das Herz auch brechen will,
Lache, lache – und weine still“

Dieser Vers wird das Lebens- und Überlebenscredo von Schoschana Harari, wie sich Sonja Borus später in Israel, im Kibbuz Ruchama in der Negev Wüste, nennt. Vor zwei Jahren starb sie mit sechsundneunzig Jahren in Ruchama und wurde auf dem kleinen Friedhof im Kibbuz beerdigt.

Sonja Borus
Sonjas Tagebuch
Flucht und Alija in den Aufzeichnungen von Sonja Borus aus Berlin 1941-1946
Herausgegeben von Klaus Voigt 
Bibliothek der Erinnerung, Bd. 24 
192 S., geb.,
ISBN: 978-3-86331-204-6 
Metropol Verlag, Berlin 2014
 
 
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Erstellungsdatum: 23.06.2025