Der Philosoph, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Tomas Collmer, der versuchte, mit Hegel, Marx, Adorno, Luhmann, Lacan, Deleuze, Derrida und anderen eine offene Dialektik zu entwerfen, der experimentelle Romane wie „Friedhofsruhe“ oder „Die Leerheit“ verfasste, eine Abhandlung über die Poesie von Jim Morrison und über die Sprache von Edgar Allan Poe sowie über Burroughs und die Cut-up-Technik schrieb, ist im letzten Jahr gestorben. Ein Nachruf von Ní Gudix.
Nun ist auch Thomas Collmer verstorben. Am 16. Oktober 2023, und das Internet bekam es nicht mit. Noch über ein Jahr nach seinem Tod stand auf seiner Wikipedia-Seite nichts Derartiges zu lesen, und es gab auch nirgends im Internet Nachrufe oder eine Todesanzeige.
Die Analogen hatten seinen Tod früher mitbekommen als die Digitalen. Die, die bei ihm per Post einen „Rollercoaster“ hatten bestellen wollen und die dann von seiner Mitbewohnerin oder seinen Verlegern per Brief über den traurigen Stand der Dinge informiert worden waren.
Thomas Collmer war selbst zeitlebens ein Analoger. Dass er völlig unbemerkt vom Internet-Zirkus abtreten konnte, das war bestimmt ganz in seinem Sinne.
Thomas Collmer, der Hegel-Spezialist, der Philosoph, Schriftsteller, Maler und Lebenskünstler. Kennengelernt haben wir uns 1997. Ich war damals 22, studierte in Konstanz und schrieb für Bruno Runzheimers „Impressum“. Runzheimer sandte mir „Pfeile gegen die Sonne“ zu, Collmers Masterpiece über Jim Morrison aus dem Maro-Verlag, und fragte, ob ich das rezensieren wolle. Ich wollte, klemmte mich dahinter und las den dicken Schmöker aufmerksam und genau. Bruno gab mir die Adresse von Thomas in Hamburg, und wir hatten dann einige Jahre einen sehr intensiven Briefwechsel. Ich veröffentlichte auch im „Rollercoaster“, einer nonkonformistischen Zeitschrift, die Thomas mit einem Freund ins Leben gerufen hatte, und bekam von Thomas weitere seiner Bücher geschenkt, u.a. „Poe oder der Horror der Sprache“ und „Ring ohne Mitte“.
Im September 2000 besuchte er mich in Konstanz, und zu Silvester 2000/2001 fuhr ich zu ihm nach Hamburg. Er wohnte damals in einer winzigen Einzimmerwohnung in der Dennerstraße, die quasi nur aus Bücherregalen, einem Schreibtisch und einer Matratze bestand – mehr hatte keinen Platz. Eine winzige Küche ging ab, ein winziges Badezimmer mit einer halbmaroden Dusche, und die Balkontür konnte man nicht öffnen.
Diese beiden Besuche, als er nach Konstanz kam und als ich nach Hamburg kam, habe ich in wunderbarer Erinnerung. In Konstanz machten wir lange Wanderungen am Bodenseeufer, fuhren mit dem Schiff nach Friedrichshafen, seiner Geburtsstadt, und mit dem Zug in die Schweiz, wo wir ebenfalls viel spazieren gingen und in Weinstuben zusammensaßen. In Hamburg liefen wir mit Böllern und Raketen an Silvester durch die Gegend, tranken mal hier einen Sekt und da einen Schnaps, gingen ins Kino und fotografierten uns gegenseitig vor dem Star Club.
Danach kam es dann zu einer Pause in unserer Korrespondenz. Thomas war tief in seinem Hegel vergraben, und ich erreichte ihn nicht mehr mit meinen Briefen.
2003 schrieb er mir wieder und erzählte, dass er einen „Unfall“ gehabt und danach ein halbes Jahr im Krankenhaus gelegen habe. Später berichtigte er das: Es sei kein Unfall gewesen, sondern ein Selbstmordversuch. Er habe sich vor die S-Bahn werfen wollen, aber dann „reflexartig“ die Beine angezogen, so dass er „nur“ mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus kam.
Er musste das Schreiben wieder neu lernen. Seine Handschrift war anfangs krakelig und sah aus wie die eines Kindes. Er bekam starke Schmerzmittel, weshalb er in den Briefen nun viel milder war als früher, gelassener und weniger zersetzend.
Collmer war 1956 in Friedrichshafen am Bodensee geboren und in Hamburg aufgewachsen. Seine Mutter hatte im Krieg ihren ersten Mann verloren und war bei Thomas’ Geburt bereits 36 Jahre alt; sein Vater war ein Pastor, mit dem die Mutter eine kurze Affäre gehabt hatte. Erst im Alter von 14 Jahren erfuhr Thomas von der Identität seines Vaters. So hat er es mir erzählt.
Das Verhältnis zu seiner Mutter war schwierig, er hatte wenig Kontakt zu ihr. Nach seinem Selbstmordversuch 2002 lebte er eine Weile bei seiner hochbetagten Mutter, die ihn pflegte. Als die Mutter 2009 starb, kümmerte sich Thomas um die Beerdigung und die Auflösung der Wohnung und schrieb mir davon.
2010 wollte er mich in Berlin besuchen, er wollte auch wieder Texte von mir im „Rollercoaster“ publizieren. Leider kam es dann nicht dazu. Kurz vor seinem geplanten Besuch, ich hatte bereits alles vorbereitet, hatte die Schlafcouch ausgezogen und Weißwein eingekauft (Pinot Grigio, seinen Lieblingswein), rief er an: er habe furchtbare Grippe, er könne nicht kommen. Der Kontakt brach erneut ab und wurde nicht wieder aufgenommen; Briefe von mir beantwortete er nicht mehr.
Die Freundschaft mit Thomas Collmer war oft schwierig. Für mich gab es quasi zwei Thomasse: einen offenen, vielseitig interessierten Thomas und einen „zugehegelten“, der nur die Dialektik gelten ließ. Er war ein harter Kritiker und legte hohe Maßstäbe an Texte und auch an Personen an. Im Briefwechsel und auch im Gespräch mit ihm musste man mitunter aufpassen, was man sagte und wen man womit zitierte, wenn man nicht eine Kritiksalve nach der anderen bekommen wollte. Manchmal konnte ich ihm frei von der Leber weg schreiben, und er schrieb glücklich zurück, er fühle sich „voll und ganz verstanden“. Manchmal erhielt ich auch seitenlange Kritikbriefe, in denen er mich und meine Texte mithilfe von Hegel, Marx, Marcuse und Nietzsche zusammenfaltete und die damit endeten, dass ich seiner Ansicht nach „nichts, aber auch gar nichts begriffen“ hätte. Wenn ich in den Anfangsjahren unserer Freundschaft seine Flyer in der Uni Konstanz auslegte, monierte er das, denn er schriebe nicht für den „Akademikerbetrieb“.
Er war in der großen Zeit des Antikapitalismus und Nonkonformismus der Siebzigerjahre großgeworden und hatte da seine Prinzipien. Er hatte aus ideologischen Gründen nie einen Führerschein gemacht; er boykottierte Aldi-Produkte; er verweigerte sich technischen Neuerungen wie Internet und E-Mail; er reagierte allergisch auf Dinge wie Werbung, Kommerz, Vermarktung, Geld. Als ich ihn kennenlernte, hielt er sich durch Nachhilfeunterricht und gelegentliche Lehraufträge an der Uni Hamburg über Wasser, da seine Bücher und Zeitschriftenbeiträge kaum Geld einbrachten. Einmal erzählte er mir, dass er gerade in einer Hamburger Buchhandlung ein Exemplar von „Pfeile gegen die Sonne“ verkaufen konnte und dann sofort mit dem Geld losgegangen sei, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sein großes Hegel-Werk war zudem in einem Druckkosten-Zuschuß-Verlag erschienen und kostete ihn viel Geld, aber als ich mit ihm darüber sprechen wollte, wehrte er böse ab: „Profit“ sei ihm egal, für ihn zähle nur, dass sein Buch mit allen Fußnoten und ohne kommerzielle Kompromisse gedruckt wurde. „Don’t adjust yourself“ war sein Motto, pass dich nicht ans „System“ an, und das hielt er eisern durch. Als ich ihm mal zum Spaß vorschlug, er solle zum Fernsehen gehen und Werbeslogans dichten, erntete ich bitterböse Blicke. Er, der Jünger von Horkheimer, Adorno und Marcuse, der Unangepasste und Nonkonformist, fand das nicht witzig.
Mich faszinierte trotz aller Meinungsverschiedenheiten immer wieder die Energie, mit der sich Thomas in seine Arbeit stürzte. Nach seinem Selbstmordversuch und seiner Rekonvaleszenz dauerte es dann auch nicht lange, bis er wieder bis über beide Ohren hinter seinem Hegel verschwunden war. Seine literaturwissenschaftlichen und philosophischen Werke waren vor allem sehr detailliert, sehr genau und mit unzähligen Fußnoten gespickt. Sich kurz zu fassen oder Beitrage zu kürzen, behagte ihm gar nicht; ich vermute, dass er auch deshalb seine Zeitschrift „Rollercoaster“ und seinen Eigenverlag gegründet hatte: damit er seine endlosen Texte ohne marktkonforme und verkaufsstrategische Einschränkungen ungekürzt veröffentlichen konnte.
Neben dem Schreiben gab es noch das Zeichnen, das erwähnt werden muss. Er konnte Porträts zeichnen, das war großartig. Ich bekam von ihm mehrere Porträts geschenkt, u.a. von James Dean und John Lennon. Er malte auch abstrakt und veröffentlichte seine Bilder im „Rollercoaster“.
Er hat nie gejammert und nie Nabelbeschau betrieben, er hat einem nie seine Krankheiten aufs Auge gedrückt. Bis zuletzt schrieb und publizierte er; was er geleistet hat, ist enorm. Ich werde dich nie vergessen, Thomas.
(Die meisten der Bücher Thomas Collmers sind vergriffen. Erhältlich sind noch „Cut-up und Dialektik" (Stadtlichter Presse) und „Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison" (Maro Verlag).
Erstellungsdatum: 07.11.2024