Im September 2025 nahm die steirische Wahlberlinerin Sissi Tax für ihr Buch „das abc der sissi tax“ den Licher Literaturpreis entgegen. Mit ihrer spielerischen Prosa, heißt es in der Begründung der Jury, „entfacht ein regelrechtes Sprachfeuerwerk und eröffnet damit einen faszinierenden Zugang zur Sprache. Aus der assoziativen Reihung ganz unterschiedlicher Stichwörter entstehen originelle Bedeutungszusammenhänge, in denen sich der Reichtum der Sprache, auch der des Alltags, enthüllt.“ Ruth Sonderegger ist vertraut mit der literarischen Arbeit Sissi Tax‘. Ihre Laudatio auf die Preisträgerin spricht davon.
Sehr geehrte Jury des Licher Literaturpreises 2025, sehr geehrter Stifter des Preises, sehr geehrte Licher und Licherinnen, liebe Sissi,
es besteht kein Zweifel daran, dass es viele – als mehr oder weniger prestigiös angesehene – Literaturpreise gibt und Sissi Tax hat sie, auch daran kann in meinen Augen kein Zweifel bestehen, alle verdient. Der in Lich beheimatete Preis ist aber zweifelsohne derjenige, der dem Werk von Sissi Tax am nächsten kommt. So nah, wie man diesem Werk nur kommen kann. Er, der Licher Literaturpreis, scheint wie für sie gemacht. Denn Lich führt direkt in das hinein, womit und woran Sissi Tax arbeitet: Sätze, Wörter und vor allem Wortteile; Wortteile wie -ung, -haft oder eben -lich. Solche Kleinigkeiten macht Sissi Tax für Ihre Leserinnen so groß, dass sie eine Ahnung davon bekommen, wie viel vom Kleinen abhängt; zum Beispiel von -lich. -lich, ein Suffix, ein nachgestelltes Wortbildungselement, kann mit Adjektiven die wildesten, zum Teil ganz und gar verbotenen Verbindungen eingehen und ist eng verwandt mit -ig und -isch und -bar. Auf der Webseite Perfekt-deutsch.de/wissen/suffix findet sich dazu die durchaus steile These, dass die Bedeutung der erwähnten Suffixe – also auch die von -lich – darin besteht, einem Wort eine Eigenschaft oder eine Zugehörigkeit zu verleihen. Das hört sich in Zeiten, in denen den einen Staats- und andere Zugehörigkeiten verweigert und entzogen werden, während andere exklusive Zugehörigkeiten geltend machen, geradezu ungeheuerlich an. Denn -lich entscheidet der erwähnten These zufolge über Zugehörigkeit oder Eigenschaftslosigkeit.
Perfekt-deutsch.de/wissen/suffix stellt aber nicht nur große Thesen über -lich in den Raum, sondern auch Übungen zu den lich-lichen Suffixen zur Verfügung. So werden die beispielhaften Wörter Kind, Freund, Mut, trinken und klein mit der Aufforderung verbunden: „Fügen Sie ein passendes Suffix an den Wortstamm an und bilden Sie ein neues Wort. Es kann mehrere Lösungen geben.“ Die mehreren Lösungen, denen Sissi Tax sich mit Haut und Haar und ganzem Herz verschrieben hat, könnten kindig, freundbar, mutisch, trinklich und kleinig sein. Jedenfalls ist ihre Sprache sicher nicht auf kindisch, freundlich, mutig, trinkbar und kleinlich beschränkt. „das ziem-lich“, so schreibt sie fast am Ende ihres heute gewürdigten abc-s, „das ziemlich aufgebend, kommt unziemlich ins spiel. lässt sich unziemlich ins spiel bringen. gerät unziemlich ins blickfeld. und nicht allein unziemlich, nein, ja, auch ungeziemt gerät da ins blickfeld und folglich ein ungezähmt. […], mit hinreichender ziemlichkeit für gewisse stunden. ziemlicher geht es nicht.“ (das abc der sissi tax, S. 91) Man wünscht sich – oder zumindest ich wünsche mir deshalb –, dass Schülerinnen mit Sissi Tax‘ abc statt mittels perfekt-deutsch.de in die Sprache eingeführt würden.
Damit sind wir schon mitten in jenem Buch, für das Sissi Tax heute der Licher Literaturpreis verliehen wird. Sein Titel lautet das abc der sissi tax, der Untertitel schlicht und größenwahnsinnig zugleich: wörterbuch. Ich möchte von Anfang an das Ernsthafte, ja Tages- und Alle-Tage-Aktuelle nicht nur des neuen Wörterbuchs, sondern aller Texte von Sissi Tax betonen. Und zwar deshalb, weil ihre – durchaus viel zu wenigen – Rezensent*innen Begriffe wie Spiel, Witz oder gar Bedeutungsauflösung zu schnell bei der Hand haben. Klar sind Taxtexte verspielt, gewitzt und so stark, dass sie noch die bestüberwachtesten Bedeutungsgrenzen aufzulösen imstande sind. Aber Taxtexte sind auch allerernsthafteste Sprach- und, was fast dasselbe ist, Sozialforschung. Denn es geht um Gesellschaft, um unser Zusammenleben mit den Wörtern und das Zusammenleben der eigensinnigen Wörter mit uns sogenannten Sprecher- und Schreiberinnen.
Ich durfte schon einmal über Sissi Tax schreiben und habe damals, als es vor allem um ihre Trilogie manchmal immer (1995), je nachdem (2001) sowie und so weiter (2007) ging, u.a. das Folgende über ihre Wort- und Gesellschaftsforschung behauptet: „Das dichterische Denken, das sich in Sissi Tax’ Texten ereignet, verläuft nicht über Fragen oder Hypothesen [hin] zu Erklärungen, Antworten und Prognosen. Es ist eine Laborarbeit, in der sie vorgefundenes Sprachmaterial […] variiert, verdreht, abwandelt. Mit diesen Forschungsmethoden untersuchen die Texte, wie es um die [soziale] Chemie der Wörter bestellt ist: welche Wörter quasi natürlich […] eine Einheit bilden, […] zwischen welchen Wörtern die Verhältnisse nicht so klar sind und was auf keinen Fall geht in einer bestimmten so genannten ‚Umgangssprache‘.“ (Sonderegger, 2010, S. 300) Eine der Kaskaden natürlicher Verhältnisse zwischen Substantiven und Adjektiven liest sich etwa wie folgt, wobei das denkbare, ja erwartbare Ende all der langjährigen Beziehungen zwischen bestimmten Wörtern von Anfang an im Raum steht: […] eines morgens wird es geschehen sein oder eines morgens war es geschehen oder eines morgens war es geschehen darum. um zum beispiel den tollen käfer, die tolle biene, den tollen hecht, den feschen hasen oder zum beispiel den weißen hirsch, den rosaroten panther, das scheue einhorn, oder zum beispiel das tapfere schneiderlein, das fleißige lieschen, das gebrannte kind, die kluge else, die sanfte lena, das einfache herz, oder zum beispiel … den dritten mann, den verrückten professor, den betörenden matrosen, den blauen engel, die blonde venus, die lustige witwe oder zum beispiel die schöne xenia. (und so fort, S. 31 ff.) Erst in einer solche Anhäufung von quasinatürlichen Wortbeziehungen wird offensichtlich, wie automatisch manche Dinge flott und fesch sind. Andere hingegen nie und nimmer.
Die Kehrseite der dezidiert eindeutigen Verhältnisse sind weniger eindeutige oder […] gänzlich verbotene Verhältnisse. Zur Erforschung der Grenzen dazwischen […] konstruiert Sissi Tax Wortreihen, in denen das Mögliche mit dem weniger Möglichen sowie mit dem ganz und gar Unmöglichen wild vermischt auftritt. So provozieren ihre Versuchsanordnungen unweigerlich die Frage, warum die Möglichkeitsbedingungen derart willkürlich verteilt sind, wo die Grenzen genau verlaufen und woher sie kommen. Die einem anderen preiswürdigen österreichischen Schriftsteller entführte paradoxe Fügung „untrennbar unverbunden“, welche eines der sprachlichen Beziehungsexperimente von Sissi Tax eröffnet, fasst ihre Forschungsfragen kompakt zusammen.“ (Sonderegger, 2010, S. 301)
Bisweilen lassen sich die variierenden Versuchsanordnungen der Taxtexte von grammatischen oder semantischen Regeln leiten, manchmal von Lautverwandtschaften oder figürlichen Bedeutungen der scheinbar wörtlicheren. Aber sie sind nie nur harmlos oder bloß verspielt. Sie erzählen immer auch Sprachgebrauchs- und Missbrauchsgeschichten voller Gewalt und Machtkämpfen. Zugleich weisen sie über den „Zwangscharakter der Sprache und ihrer Bewohnerinnen“ hinaus und erzählen von unvorhersehbaren Welten, die man mit zugerichtetem, [und missbrauchten] Wortmaterial erschließen oder vielmehr: zusammenreimen kann.“ (Sonderegger, 2010, S. 304). Gerade das abc ist voller Fluchtlinien, die vom Entkommensein, Enthobensein, Entwundensein, Entbundensein und dergleichen mehr handeln. Selbst den – ich zitiere – „deutungshoheitshäuptlingen“ (abc, S. 9), zeichensetzungs-satzungen (abc, S. 26) und „verblendungszusammenhängen“ (abc, S. 76) entkommen Sissi Tax‘ Texte federleicht. So kann, neben vielem anderen, aus einem repressiven Klassizismus ein wohltuender Materialismus der Körperpflege werden: „ja, freilich und überhaupt, das schöne das gute das wahre. und erst recht das schöne das gute die ware. und ja, die schönen guten waren. die da waren […] namentlich als das einzig wahre schönheitsgeschäft“. (abc, S. 23)
Sissi Tax‘ Fluchtwege sind umso erstaunlicher, als der ganze sprachliche und weltliche Abgrund nicht nur unserer Zeit in ihren Texten allgegenwärtig ist. Fast nichts trennt, Zitat aus dem abc, „wörterbuch, buch und buchenwald“ (abc, S. 75). Deshalb bin ich auch ein großer Fan der sehr abgründigen, viel zu wenig bekannten Texte von Sissi Tax, an die man nicht genug erinnern kann: Ihre Litanei für die Zwangsarbeiterinnen „des stahl- und walzwerks flick in henningsdorf bei berlin im nördlichen brandenburg“ (Tax 2005), auf deren Bezwingung die Flick Collection beruht, mit der sich heute das Museum Hamburger Bahnhof schmückt; oder Sissi Tax‘ Text über Graz, „gesehen und gefühlt von köflach aus“, wie der Untertitel lautet und von einer Vergangenheit handelt, die nie aufgehört hat, Gegenwart zu sein: „und dann kam aus graz zu jener bestimmten zeit für die tausendjährige längere zeit das heraus, was der wille des volkes gewesen war, seine erhebung am hauptplatz und um ihn herum, was wiederum zum heiminsreich führte, was wiederum zum reichinsheim geführt hat, führt und geführt haben wird bis in alle ewigkeit amen.“ (Tax, 2003, S. 256) Eine Variation dieser Geschichte von schier unfassbarer Leichtigkeit findet sich auch im abc wieder: „den segen für wen erhalten, den segen von wem erhalten. segen von, segen für. auf jeden fall, dem haudegen der haussegen, er möge so segensreich wie möglich wie reich ins heim kommen, wie es sage und schreibe heißt.“ (abc, S. 36)
Das abc der sissi tax fügt ihrem unablässig über sich selbst hinausgehenden Textuniversum durchaus neue Verbindungstechniken und alle Weltgegenden untergründigst verbindende Wörter hinzu: persönliche und in Satzungen geregelte, dialektale und höchstsprachliche, provinzliche und imperiale, deutsche und nichtdeutsche, sodass man im abc auch ein Gegenprojekt zu allen Nationalsprachen – von Sissi Tax als ziemlichkeitshoheitsgebiete bezeichnet (abc, S. 91) – sehen kann. Ich sage nur, Zitat, „sterzgelb kukuruzstaudengrün bluesblau.“ (abc, S. 15)
Wer Sissi Tax kennt, weiß um die von ihr gerne vergebene Auszeichnung „weltberühmt in dieser Gegend“ (abc, S. 87), die selbstredend auch in ihr abc aufgenommen wurde, zumal sie mir das heute ausgezeichnete Buch in a nutshell zu enthalten scheint. Gut, dass das kosmosprovinzialpolitische abc der sissi tax nicht alle Buchstaben des ABCs berücksichtigt und offenbar mit einer Freud unvollständig bleibt, sodass wir auf mehr abc der sissi tax hoffen können. Vorläufig schließe ich mit zwei Glückwünschen: Was für ein verdientes Glück, dass du, Sissi, den Licher Literaturpreis erhältst; und was für ein Glück, dass Lich Sissi Tax‘ Text gefunden hat. Mit einem Wort: taxlich!
Quellen:
Tax, Sissi, manchmal immer, Graz–Wien, Droschl Literaturverlag, 1995.
Tax Sissi, je nachdem, Graz–Wien, Droschl Literaturverlag, 2001.
Tax, Sissi, „grazeraussen, grazerinnen. gesehen und gefühlt von köflach aus“, in: Graz von aussen, hrsg. von Klaus Hoffer und Alfred Kolleritsch, Graz-Wien, Droschl Literaturerlag, 2003, S. 255-262.
Tax, Sissi, „HEIL DICH DOCH SELBST – DIE FLICK-COLLECION WIRD GESCHLOSSEN“, hg. von: www.flickconnection.de am 1. April 2005 als Beilage der tageszeitung erschienen.
Tax, Sissi, und so fort, Graz–Wien, Droschl Literaturverlag, 2007.
Tax, Sissi, das abc der sissi tax. wörterbuch, Klagenfurt-Wien, Ritter Literaturverlag, 2025
Sonderegger, Ruth, „Taxtexte: Untersuchungen an Wörtern“, in Hildegard Kernmayer (Hg.), Schreibweisen. Poetologien 2. Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen, Wien: Milena 2010, S. 298-314
Siehe auch:
Bernd Leukert: Sissi Tax‘ „das abc der sissi tax. wörterbuch“
Erstellungsdatum: 16.10.2025