Hans Werner Henze gehörte zu den meist aufgeführten Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Ingeborg Bachmann war die bedeutendste deutschsprachige Lyrikerin und Prosaschriftstellerin. Nachdem sie sich 1952 auf Burg Berlepsch bei einer Tagung der Gruppe 47 kennenlernten, schrieb ihr der Komponist, wie schön und traurig er ihre Gedichte fand. Das war der Beginn einer Freundschaft, die sich detailliert in ihrer Korrespondenz zur Sprache brachte. Arno Widmann hat ihre Briefe mitgelesen.
Es ist eines der ergreifendsten Bücher der letzten Jahre. Man kann den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann (1926-1973) und Hans Werner Henze (1926) nicht lesen, ohne mitgenommen zu werden von der Begeisterung Henzes, ohne sich zurückzusehnen nach einer Jugend, in der alles neu schien und gleichzeitig alles neu zu machen war. „Illustres zartes Bachtier“ spricht Henze Anfang Oktober 1954 Ingeborg Bachmann an. Ein andermal ist sie die „große und nicht schlecht erleuchtete Bachstelze“ oder später auch „liebes Ingelchen“. Die Dichterin ist weniger einfallsreich. Sie sagt meist nur „lieber Hans“. Der Enthusiasmus ist in diesem Briefwechsel eindeutig der männliche Part. Die Lebensfreude auch und die Lust auf Luxus und Arbeit. Die Selbstverständlichkeit, mit der Henze davon ausgeht, dass er sein Genie achten und pflegen, ja verwöhnen muss, um in nimmer müder Arbeit die schönsten Resultate aus ihm herauspressen, nein, nein, entlassen zu können, ist beneidenswert.
Spät erst begreift der nicht Henze-Kenner, dass Henze so schreibt, um seiner Freundin eine Stütze zu sein, dass er ihr ein Ansporn sein möchte, weil er weiß, dass sie seine Selbstzweifel nicht brauchen kann, weil sie von den ihrigen fast aufgefressen wird. Brief um Brief lädt er sie ein, zu ihm zu kommen in seine Wohnung in Neapel, sich vom Personal verwöhnen zu lassen, vom Blick auf den Golf. Er war aus Bielefeld geflohen, süchtig nach Schönheit, nach der, die die Welt ihm bietet und nach der, von der er ahnt, dass er sie der Welt zu bieten hat. Alles muss stimmen. Wenn er in London ist, sieht er sich um nach Teppichen und Nippes für seine Wohnung. Sie muss ihm passen wie seine Handschuhe. Alles muss sich ihm anschmiegen. Jede Faser seines Hemdes, jede Freundschaft, jede Minute seines Lebens muss so sein, dass sie ein Fest ist. Wenn das nicht klappt – so etwas kann nicht klappen –, dann erfindet er Freundschaften, Bekanntschaften, Glanz und Größe. Er tut es für sich, weil er es braucht, um sich wohl zu fühlen, und es arbeitet sich besser, wenn man sich wohl fühlt.
Er tut es auch für seine Freundin. Um ihr zu imponieren, sagt er im Vorwort. Das ist nur die halbe Wahrheit. Er will ihr Mut machen, ihr zeigen: Erfolg ist möglich. Und schön ist er auch. Wenn er sich groß denkt und ein wenig größer noch darstellt, dann ist das ja keine wirkliche Lüge. Jedenfalls nicht für jemanden, der 1948 in Hamburg Margot Fonteyn tanzen sieht, sie aus der Entfernung seines Zuschauerplatzes aus anbetet und schon zehn Jahre später tanzt sie im Royal Opera House in London seine Undine. Dass auch die hochfahrendsten Träume in Erfüllung gehen, das ist Henzes sehr frühe Lebenserfahrung. Aber ebenso vertraut sind ihm Situationen wie diese: „Mein Fehler, von den Mitmenschen alles und uneingeschränkt zu konsumieren, erklärt sich vielleicht aus meiner Angst vor der Einsamkeit. Gestern Abend brachte mich Francesco nach Hause, und dann hatte ich Angst, allein hinaufzugehen, so dass wir noch einmal fort gegangen sind, und erst nach sechs Wodka konnte ich hinaufgehen. Dann habe ich geschrien, geheult, geflucht in dieser schweigenden Leere um mich herum. Ich arbeite nichts.“
Das ist ein ganz untypischer Brief. In den anderen schreibt er Ingeborg Bachmann zum Beispiel: „Leider hast Du noch immer nicht begriffen, wie schön es ist zu arbeiten, und wie nichtarbeiten viel mehr ermüdet als arbeiten. Ich weiß es, ich Glücklicher, und das ist auch der Grund, warum ich mich nie beklage.“ Hans Werner Henze liebt Ingeborg Bachmann. Er will einen Kokon bauen um sie und ihr Genie. Er will sie einlagern in seinen Bau und ihr alles zukommen lassen, und sie soll dann fruchtbar sein und Poesie über ihn ausschütten wie Honig. So schreibt er es an keiner Stelle, aber das ist der sich aus diesem Briefwechsel aufdrängende Eindruck. Henze bewundert und verehrt Ingeborg Bachmann. Er will sie beschützen. Er liebt ihre Gedichte. Ihre Schönheit nährt die seiner Kompositionen.
Ingeborg Bachmann schreibt ihm am 4. Oktober 1956: „Ich habe immer an Dich geglaubt, und an Dich werde ich glauben bis ans Ende meines Lebens. Und wo und wann sich unsere Wege auch immer kreuzen werden, es wird ein Fest sein. Ich habe eine neue Idee für ein Buch, Gedichte, die ich vor mir sehe, nur dass ich sie noch nicht lesen kann. Ich werde schreiben. Könnte man doch für immer in ein Reich aus Schönheit, Klängen und Worten treten. Ich bin verrückt nach Schönheit.“
Schön, schön, schön. Hans Werner Henze hat mit seiner Schönheitssehnsucht fast von Anfang an immer wieder die Musikkritik gegen sich aufgebracht. Auch das ist nachzulesen in den Briefen und in den Anmerkungen zu ihnen. Von einer „restaurativen Klangkulisse“ schrieb ein Kritiker bereits 1955. Aber Henze hat seine eigenen Vorlieben, und er ist selbstbewusst genug, ihnen zu folgen und nicht dem, was gerade schick ist in seinen Kreisen. Am 24. März 1958 schreibt er an Ingeborg Bachmann, er sei gerade aus Zürich nach Neapel zurückgekehrt, habe die Post durchgesehen, dann eine Platte aufgelegt „‘Serenade für Tenor, Horn und Streicher‘ von Benjamin Britten, die mir wirklich sehr gefiel, dann das Klavierkonzert von Schönberg, das mich sehr deprimierte, also der schöne Britten, den muss man verachten, weil er doch nicht atonal schreibt, und dieses scheußlich klingende Schönberg-Stück muss man verehren....??....??“
Der Rigorismus der Donaueschinger Moderne war nichts für Henze. Zu keinem Zeitpunkt seines Lebens. Er war nicht gewillt, auf Schönheit zu verzichten, auf die bellezza und schon gar nicht darauf, ein Verführer zu sein. Vielleicht fürchtet er die Einsamkeit nicht nur, weil niemand da ist, der ihn liebt, sondern mehr noch, weil niemand da ist, den er verliebt machen könnte. Sein Aussehen, sein Wissen, sein Können, sein Charme – alles liegt in solchen Momenten brach. Arbeiten sollten diese Talente. Am besten alle zugleich.
Henze und Bachmann schrieben einander auf Italienisch und Englisch. (Der Band bietet vorne die deutschen Übersetzungen und in einem Anhang die Originale.) Man wird darin einen Versuch sehen müssen, Deutschland zu entkommen. Wenigstens in dieser der Schönheit geweihten Beziehung. Henze ist einer der besten deutschsprachigen Autoren – wer seine Essays gelesen hat, weiß das schon lange; die anderen erfuhren es bei der Lektüre seiner großartigen Autobiografie – und Ingeborg Bachmann war es sowieso. Ihre italienischen Briefe bleiben weit unter ihren sprachlichen Möglichkeiten. Aber das macht nichts. Henze schwelgt in der neuen Sprache. Er scheint sie zu singen, setzt sich über elementare Regeln hinweg und genießt den Gestus des Neapolitaners. Es ist ein Maskenspiel, bei dem man dem Naziton, der einem in der Muttersprache immer wieder auch von den eigenen Lippen kommt, entgeht, in dem man aber auch freier von der Liebe und der Kunst sprechen kann.
In der eigenen Sprache sind diese Wörter und alles, das mit ihnen zusammenhängt, eins mit der Bedeutung, die man ihnen im Laufe des Lebens zu geben gelernt hat. Die kleinsten Nuancen geben Auskunft. Jeder weiß sofort über einen Bescheid. In der Fremdsprache dagegen sind diese Wörter noch nicht privat geworden. Sie sind allgemein geblieben. Sie verraten nichts über einen und desto mehr kann man mit ihnen über sich verraten. Den Satz „Ich bin verrückt nach Schönheit“ hatte Ingeborg Bachmann nicht geschrieben. Sie schrieb Henze: "Vado pazza per la bellezza".
(Der Beitrag erschien zuerst im „perlentaucher“ am 29.12.2005)
Ingeborg Bachmann, Hans Werner Henze
Briefe einer Freundschaft
Mit einem Vorwort von Hans Werner Henze
Herausgegeben und kommentiert von Hans Höller
538 S., geb.
ISBN: 3492046088
Piper Verlag, München, Zürich 2004
Erstellungsdatum: 23.09.2024