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Theater für Kinder

Vogel anderswo

Stephan Wolf-Schönburg


Szenenfoto aus Anderswo

„Zuhause und Anderswo“ waren die  ersten Gedanken von Stephan Wolf-Schönburg, als er ein Stück über Flucht für Kinder entwickeln wollte. Eben nicht zuhause zu sein, sondern anderswo und in den Augen der Anderen von anderswo zu kommen. Wie kann das Trennende überwunden und zum Verbindenden werden? Ein zentrales Element war für ihn von Anfang an, die Sprache des Anderen, des Ankommenden, des von wo anderswo Seienden, denen, die ein Zuhause haben, näherzubringen. 

Schon in der einleitenden Szene dieses Figurentheaterstücks, das von einer Person erzählt und gespielt wird, wird den Kindern die arabische Sprache und damit die Kultur des Anderen nähergebracht. Die Geschichte von Nunu und seinem Freund dem Vogel Anderswo, die durch Krieg und Flucht aus Syrien voneinander getrennt werden und wieder zusammenkommen, ermöglicht dem jungen Publikum sich in die Nöte und Ängste der Geflüchteten hineinzuversetzen und während sie dem Vogel Anderswo auf seiner Flucht folgen, auch Wege der Solidarität zu erfahren. Leichterhand werden sie auch am Ende vom Erzähler oder der Erzählerin angeregt, sich mit Neugier und Interesse dem Anderen, dem Fremden zuzuwenden und so aus Zuwendung auch Erkenntnis zu gewinnen.
„Der Vogel Anderswo“, bei Felix Bloch Erben verlegt, wird auch in seiner achten Spielzeit wieder durch Leipzig fliegen.

Den, der da kommt, verstehen.

Ein Ausschnitt vom Anfang des Stücks:

Aber ich wollte euch ja eigentlich eine Geschichte erzählen, eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der in Syrien wohnt, wo ich herkomme. Der kleine Junge heißt Nunu und wohnt in der Stadt Damaskus, die heißt auf Arabisch: Dimaschk.

Und Nunu hat einen kleinen Vogel. Und dieser Vogel wohnt in einem kleinen hübschen Käfig, aber die Käfigtür ist immer auf. Und so kann Nunus kleiner Vogel kommen und gehen, kommen und fliegen, wann immer er will. 

Die Mutter von Nunu fragt immer: Nunu, Nuunuuu, wo ist denn dein Vogel? Und Nunu sagt: Oh gerade war er noch da, er hat mir ein Lied vorgesungen und ich habe ihn gefüttert, aber jetzt ist er anderswo, er kommt sicher heute Abend wieder nach Hause. Oder: Nunu kommt vom Spielen nach Hause und sucht seinen Vogel und sieht ihn nicht und fragt seine Mama: Mama, wo ist denn mein Vogel? Und seine Mama sagt: Ach, der ist sicherlich wieder anderswo. Ach weißt du was Nunu: Warum nennen wir in nicht einfach „Anderswo“. Und von dem Tag an hieß Nunus Vogel „Anderswo“. Das heißt auf Arabisch „Makaan maa“. 

Und so sitzt Nunu oft an seinem Fenster und legt ein Stückchen Apfel aufs Fensterbrett, wenn „Anderswo“ nicht in seinem Käfig sitzt und ruft „Makaan maa. Makaan maa!“ Und seht ihr, da kommt er schon geflogen. 

Abends zuhause füttert ihn Nunu immer mit Körnern und Nüsschen und gibt ihm frisches, kühles Wasser zu trinken, weil die Tage in Damaskus sind sehr sehr heiß. Anderswos Käfig steht neben Nunus Bett und immer vorm Einschlafen singt ihm Anderswo noch ein kleines Schlaflied und dann legt sich Anderswo zu Nunu aufs Kissen und die beiden schlafen ruhig und tief ein und träumen von Abenteuern in der Wüste mit wilden Räubern, die schnell wie der Wind auf glänzenden Pferden durch den Sand reiten.

Eines Tages. Die Schule ist aus. Anderswo hat einen Ausflug gemacht in den Wald vor der Stadt und kommt glücklich und erschöpft von seinen Erlebnissen mit Waldvögeln und Eichhörnchen nachhause und sieht schon von Ferne sein Apfelstückchen auf dem Fensterbrett liegen und saust hoch aus der Luft hinab und pickt schon an dem süßen kleinen Apfel.

Aber etwas ist anders. Er sieht Nunu nicht in seinem Zimmer. Er hört nicht die Mutter in der Küche singen. Und die Luft riecht anders. Anderswo fliegt in die Wohnung hinein. Welch eine Unordnung! Die Schränke sind offen und leer, die Betten sind nicht gemacht. Und kein Nunu. Keine Mama. Kein Papa! Anderswo fliegt von Raum zu Raum. Die Küche ist leer, auf dem Küchentisch liegt ein angebissenes Marmeladenbrot. Nunus Zimmer ist leer. Das Wohnzimmer ist leer. Das Zimmer von Mama und Papa ist leer. Die Balkontür ist auf. (Geschützfeuer und Kriegsgeräusche sind zu hören) Aber auf dem Balkon da sitzt keiner und Anderswo schaut hinunter auf die Straße und sieht viele, viele Menschen, Familien mit Kindern, die Straßen hinuntereilen und alle haben Taschen und Koffer und haben Angst und rennen. Und der Himmel ist voller Rauch und Lärm und schnelle böse Flugzeuge rasen durch den Himmel und werfen Bomben in die Häuser und viele Häuser brennen. Es ist Krieg und Kinder weinen und die Straßenhunde ziehen den Schwanz ein und verstecken sich, wo sie nur können.

Da bekommt es auch Anderswo mit der Angst zu tun und fliegt davon durch den Rauch und den Lärm. Und die Flammen, die aus den Häusern schlagen, verbrennen ihm fast seine Flügel. Immer wieder schaut er zurück und Nunus Fenster und Nunus Haus werden immer kleiner und kleiner und bald sind sie nicht mehr zu sehen. Die Stadt verschwindet in der Ferne und unter Anderswo breitet sich die glühende Wüste aus und die Sonne scheint mit heißem Licht. Anderswo ist jetzt schon müde und sehr, sehr traurig, weil ihm sein Nunu fehlt. Weit und breit kein Baum zu sehen, auf dem er sich ausruhen könnte. Kein Dorf, keine Stadt, nur SandSandSand. Kaum kann er noch fliegen und seine Flügel sind schon ganz matt.

 


Nach rettender Begegnung in einer Oase und über dem Meer landet der Vogel Anderswo in den Bergen:

Anderswo sitzt auf einer Felsspitze und schaut auf Bergketten, in dunkle Täler und Wälder. Er wird von einer Wolke gestreift und als der Nebel sich lichtet, sieht er, dass um ihn herum ganz viel weißer Sand wie ein Teppich ausgebreitet ist, der in der Sonne leuchtet. 

ANDERSWO              Oh, wie schön, so weißen Sand hab ich noch nie gesehen.

Er hüpft von seiner Felsspitze herab auf den weiß leuchtenden Teppich.

ANDERSWO             Brrrrr. Uuuh. Das ist aber kalter Sand. Bei uns zuhause ist der Sand heiß und hier ist er kalt.

Da hört er plötzlich ein leises Kichern. Zwischen den dunkelgrünen Tannen schießt etwas hervor und kugelt und kringelt sich kichernd im kalten Sand. Ein kleines, braunes Murmeltier.

MURMEL                   Saahahaahaand. Sahahahahand. Hihihihihiiii. Das ist doch Schniiii. Ich meine Schnee.
ANDERSWO             Schnee? Ach, das ist Schnee. Ja, achso, davon habe ich schon mal gehört.
MURMEL                   Haste nicht.
ANDERSWO             Hab ich doch.
MURMEL                   Haste nicht.
ANDERSWO              Hab ich doch.
MURMEL                   Haste nicht.
ANDERSWO              Habe ich wohl schon mal.
MURMEL                   Ist doch ganz egal. Hauptsache du bist hier. Ich bin Murmel und ich wohne hier und du kommst sicherlich von anderswo.
ANDERSWO              Ich heiße Anderswo.
MURMEL                   Anderswo von anderswo. Ich lach mich tot. Du bist ja köstlich. Sag mal Anderswo von anderswo, wenn du schon keinen Schnee kennst ...
ANDERSWO              Ich ...
MURMEL                   Jaja. Ist klar. Dann frierst du vielleicht und hast ein bisschen Hunger. Komm mit in meine Höhle, da gibt’s was zu mampfen und schön schlafen kannst du auch.

Sie gehen zu den dunkelgrünen Tannen und gleich ist es ganz finster, sodass Anderswo in der Dunkelheit fast nichts mehr sehen kann und sich ein wenig fürchtet, aber er sagt nichts, damit Murmel nicht schon wieder lacht. Und so kommen sie bei einem dicken Baum an und unten an seinem Stamm ist eine kleine Öffnung und da schlüpft Murmel hinein. Plötzlich sind sie in einer gemütlichen kleinen Höhle. An einer Wurzel, die an der Decke der Höhle aus der Erde wächst, sitzen hunderte kleine Glühwürmchen und machen die Höhle ganz hell. Die Glühwürmchen summen und brummen.

GLÜHWÜRMCHEN  Mmmmmurmel! Wwwwwen brrrrrrrringst du dennnnnn da?
MURMEL                   Das ist Herr Anderswo von anderswo und heute unser Gast. Und das mein lieber Anderswo sind meine Freunde die Glühwürmchen. Sie wohnen im Winter bei mir und spenden mir dafür ihr Licht.

Leckere getrocknete Würmer hängen von der Decke und Nüsschen und Bucheckern liegen in kleinen Nischen in der Höhlenwand bereit. Murmel und Anderswo schmausen bis ihre Bäuche dick und rund sind. Dann legen sie sich in Murmels Bett aus weichem Moos und Anderswo singt ihm ein kleines Schlaflied vor wie seinem Freund Nunu.

MURMEL             Das ist aber schön ...

Und schläft schon dabei ein, und so schlummern beide leise schnarchend in der warmen Höhle.
Am Morgen bereitet Murmel noch ein leichtes Frühstück mit herrlichen, getrockneten Würmern, damit Anderswo das Fliegen nicht zu schwer wird. Danach führt Murmel ihn zum Abschied nach draußen.

MURMEL             Jaja, mein lieber Freund, hier oben ist es viel zu kalt für dich mit dem vielen Schniiii-hihihihiiiii. Und wenn du von den Bergen herunterfliegst: Im Tal kommt schon langsam der Frühling an und da gibt’s keinen Schniiii-hihihihiiiii.

Anderswo muss auch kichern und zum Abschied umarmt er Murmel ganz fest und fühlt dabei nochmal sein kuscheliges Fell, das ihn in der Nacht gewärmt hatte.

ANDERSWO       Vielen Dank, mein lustiger Freund. Für die warme Nacht bei dir und das köstliche Essen.

Und er schwingt sich auf in die Lüfte und lässt sich in der Morgensonne vom Wind in die Täler hinabtragen und sieht Wälder und Seen und Rehe und Hirsche und Kühe und Schafe und viele kleine Dörfer. Es wird auch immer wärmer, und auf den Wiesen und an den Bäumen sieht er bunte Blüten blühen.


Ein bedrohlicher Sturm treibt den Vogel Anderswo weiter:

Als er wieder aufwacht, hat ihn der Sturm in eine große Stadt getragen. Der Sturm ist weitergezogen und die Sonne scheint schon wieder. (eine Bachkantate erklingt) Anderswo sitzt in der Spitze eines Kirchturms und von unten aus der Kirche schallt wunderbare Musik nach oben und viele Kinder singen mit zauberhaften Stimmen. Anderswo hört auf die Musik und freut sich und schaut über die Stadt und sieht andere Kirchtürme und noch mehr Türme und ein ganz hohes Haus, das glänzt im Sonnenlicht und hat eine dreieckige Spitze.

Plötzlich wird er aus seiner Ruhe herausgerissen und die herrliche Musik wird übertönt. Ein Schwarm Krähen stürzt mit lautem Gekrächz und Gekreisch auf ihn zu. 

KRÄHEN             Was machst du hier? Was willst du hier? Wer bist du denn?
ANDERSWO       Ich heiße Anderswo, bin weitgereist und ruhe mich hier ein wenig aus.
KRÄHEN             Das ist unser Turm. Anderswo verschwinde jetzt nach anderswo. Verschwinde jetzt nach anderswo. Nach anderswo. Anderswo. Anderswo.

Der Krähenschwarm stürzt auf Anderswo zu und vor lauter Geflatter der schwarzen Flügel und dem Blitzen der glänzenden, kräftigen Schnäbel wird Anderswo ganz schwindelig und er presst sich voller Angst in eine Nische des Turmfensters, als eine Krähe, die größte von allen, auf ihn zuschießt. 

Was wird jetzt geschehen? Naht Rettung? Wird Anderswo den Tod finden oder ein Zuhause oder ganz etwas Anderes?

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Siehe auch:
Theater Junge Welt Leipzig