Dass wir, wenn es um Gefühle geht, Analphabeten sind, muss ja nicht bedeuten, dass unsere Gefühle alphabetisierbar sind. Wer wollte Standardgefühle, die im Gefolge der Benennbarkeit entstehen, eintauschen gegen das Unsagbare, oft Unsägliche? Einst sprach man von der Verdinglichung der Gefühle, mit der nicht nur Hollywood Geschäfte machte. Ingmar Bergman hat in den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Spannung zwischen Verständigung, Verständnis und Ratlosigkeit gestaltet. Martin Lüdke hat die „Szenen einer Ehe“ in Form eines Bühnenstücks im Schauspiel Frankfurt gesehen.
In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben zumindest die westlichen Gesellschaften auf dieser großen weiten Welt große Teile ihre Vergangenheit abgeschüttelt. Extremer Wandel, marginale Veränderungen. Eine andere Welt. Die Moralvorstellungen veränderten sich, die Bahnsteigkarten wurden abgeschafft; Volkswagen prägten das Straßenbild, der Urlaub verlagerte sich in den Süden; die „Pille“ kam in Umlauf; der Einfluss der Kirchen schwand; die Mobilität wuchs, Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft.
Und. Und. Und.
Man kann von einer Zeitenwende sprechen. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert sprach vom Ende des 19. Jahrhunderts. Kein Wunder, dass in diesen Jahren die Psychologie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen in den Vordergrund trat. Und noch weniger erstaunlich, dass die Menschen ihre Probleme auspackten und anfingen, darüber zu reden. Die Gesellschaften hatten auf solche die „Szenen einer Ehe“ regelrecht gewartet. Und jetzt? Heute?
Vor jeder Therapie steht die Diagnose.
Ingmar Bergmans berühmte Fernsehserie, 278 Minuten lang, wurde bei ihrer ersten Ausstrahlung, 1973, in Schweden von genau der Hälfte der schwedischen Gesellschaft gesehen. lm Anschluss an die Sendung stieg die Zahl der Scheidungen signifikant an. Die Institution der Ehe war, was u.a. die katholische Kirche nur unwillig zur Kenntnis nehmen wollte, sichtbar angekränkelt. Bergmann führte es vor. Nur das! Aber man erkannte sich in diesen Szenen einer Ehe.
Die Serie kürzte er anschließend zu einem 155 Minuten langen Film, der auch bei uns sehr erfolgreich lief. Und daraus entstand jetzt, ein halbes Jahrhundert später, als zweite Premiere der neuen Spielzeit, eine Bühnenfassung, weniger als zwei Stunden lang.
Sebastian Schug, der Regisseur, hat, nicht zu ihrem Schaden, die Vorlage also weiter gestrafft. Nur ein einziger Schauplatz, die Wohnung des Paars, auf der schmalen Vorderbühne, noch vor dem Eisernen Vorhang; nur die beiden Protagonisten, Marianne und Johan; er – ein mittelmäßiger Wissenschaftler, sie – eine eher erfolgreiche Anwältin. Zwei, nie sichtbare, Kinder. Ein Kammerspiel, in dem eine „Liebe“ vorgeführt wird, die sich allmählich, vorerst unbemerkt, von innen auflöst. Und, um die Pointe am Ende vorwegzunehmen, nichts besser werden lässt, sondern, paradoxerweise, buchstäblich zum Ausgangspunkt, also auch ins Bett, zurückführt. Und tatsächlich geht das Stück überhaupt zurück auf Bergmans eigene Erfahrung.
Was anfänglich, besonders bei Sarah Grunert, noch etwas nach gesprochen Text klingt, mag daran liegen, dass erst einmal die Probleme des Paars nach außen verlagert werden sollen. Der obligatorische Besuch bei ihren Eltern stinkt der jungen Frau. Ihr Versuch, abzusagen, misslingt ihr gründlich. In dieser Situation wird allerdings schon deutlich, dass irgend etwas schief läuft, und die Schuld daran, natürlich, bei den Müttern zu suchen war.
Dabei suchen sie bereits nach Gründen für das Kriseln in ihrer eigenen Beziehung und kommen dann bald darauf: Die Gemeinsamkeit ist zum Teufel gegangen, und niemand weiß warum. Beide sehen es, Johan sagt es: „Wir kriegen zu wenig und geben zu wenig.“
Das alles spielt sich auf der schmalen Bühne, vorn an der Rampe ab. Eine Art Wohnzimmer ist da zu erkennen (Bühnenbild: Jan Freese), rechts an der Seite ein Getränkekühlschrank, vollgepackt mit kleinen Mineralwasserflaschen, die auch für den, vor allem von Johan kräftig getrunkenen, Alkohol stehen sollen. Es verschwimmen auch die von Bergmann vorgegeben Szenen ineinander. Es wird also zügig durchgespielt. Keine wechselnden Schauplätze, oft kaum spürbare Zäsuren. Dabei, die ganze Zeit, an der linken Bühnenseite, Thorsten Drücker, der leise, unaufdringlich auf seiner Gitarre klimpert, um die Kontinuität, trotz der zeitlichen Brüche im Geschehen, weniger sichtbar als hörbar zu machen.
Zwischen Johan und Marianne knistert es immer häufiger. Man spürt eine Spannung, bevor sie zu erkennen ist. Dann bekennt Johan: „Ich habe mich verliebt.“
Die folgende Trennung wird sozusagen ‚vernünftig’ über die Bühne gebracht. Isaac Dentler und Sarah Grunert gelingt es immer mehr, uns, die Zuschauer, glauben zu lassen, dass da vor uns Johan und Marianne um eine Lösung ringen, wie sie, ohne Porzellan zu zerschlagen, auseinander gehen können. Wobei zunächst Marianne noch an eine vorläufige Lösung zu glauben scheint, während sich im Laufe der Jahre Johan schwer damit tut. Diese Ambivalenzen werden, wobei die Gewichtung wechselt, großartig ausgespielt. Überhaupt gewinnt die Darstellung immer weiter an Intensität. Die Paare sind längst getrennt, haben nach Jahren andere Partner geheiratet, Johans Hoffnungen auf eine Professur in den USA haben sich zerschlagen, und immer wieder, wenn auch in großen Abständen, kommen sie zusammen und klagen zwar nicht über ihre neuen Partner, lassen aber doch erkennen, dass sie vom Regen in die Traufe gekommen sind. Johan bekennt: „Ich finde, dass ich dich auf meine unvollkommene und ziemlich selbstsüchtige Weise liebe. Und manchmal glaube ich, dass du mich auf deine ungebärdige, gefühlsbeladene Weise liebst. Ich glaube einfach, dass wir uns lieben.“ Es gelingt Sarah Grunert, uns erkennen zu lassen, dass sie zwar verbal widerspricht, und doch ebenso wie Johan, der Partner, empfindet. Sie meint: „Lass uns die ganze Nacht hier sitzen bleiben.“ Das lehnt er ab. Warum? „Mir ist mein Bein eingeschlafen.“ Also schlüpfen sie schnell unter die Decke. Sie sagt: „Gute Nacht, mein Liebling“. Er sagt: „Gute Nacht.“
Und kräftiger Beifall brandet auf.
Das Kammerspiel im großen Schauspielhaus hat überzeugt. Mit diesem ‚alten’ Stück. Und das nach ziemlich genau einem halben Jahrhundert. Das liegt auch, aber sicher nicht nur an der überzeugenden Darstellung der beiden Darsteller. Es liegt auch daran, dass sich ‚Bergmans Problem’ bis heute kaum verändert hat, auch wenn die Zahl der Singles, ebenso wie die Zahl der Scheidungen seitdem deutlich angestiegen ist. Es liegt vor allem daran, dass Probleme im Zusammenleben von Menschen unausweichlich sind und es dafür vermutlich keine schlüssigen, dafür aber im Rahmen der gesellschaftlichen Vorgaben, unterschiedliche Lösung gibt. Hier liegt die Aktualität von Bergmans Vorlage. Dabei ist Schug gelungen, die Vorlage auf ihren ‚Kern’ zu reduzieren. Den Grundkonflikt. Hier liegt auch ein Verdienst vom Frankfurter Theater, das mit dem großen „Faust“ die neu Spielzeit begonnen hat und mit diesem kleinen Kammerspiel überzeugend fortgesetzt hat.
Ingmar Bergman
Szenen einer Ehe
Johann: Isaac Dentler
Marianne: Sarah Grunert
Regie: Sebastian Schug
Bühne: Jan Fresse
Kostüme: Nico Zielke
Musik: Thorsten Drücker
Dramaturgie: Lukas Schmelmer
Weitere Vorstellungen:
Do. 10.10.2024
19.30–21.15
Restkarten
Do. 24.10.2024
19.30–21.15
Ausverkauft
evtl. Restkarten an der Abendkasse
Fr. 01.11.2024
19.30–21.15
Do. 14.11.2024
19.30–21.15
Sa. 16.11.2024
19.30–21.15
Fr. 29.11.2024
19.30–21.15
Erstellungsdatum: 04.10.2024