MenuMENU

zurück

Eine Erinnerung an Robert Jay Lifton

Von der kartesianischen Krankheit

Marli Feldvoß


Robert Jay Lifton. Generierter Screenshot

Robert Jay Lifton, der jetzt im Alter von 99 Jahren gestorben ist, wurde mit seinem Buch „The Nazi Doctors“ bekannt. Der Psychiater und Psychohistoriker ging darin dem Jekyll-Hyde-Problem nach: Wie lässt sich erklären, dass als Folterer, Terroristen und Massenmörder tätig sein können, ohne ihre Existenz als fürsorgliche Familienväter davon berührt zu sehen? Dafür stützte er sich auf Aussagen der Täter, die er selbst befragt hatte. Marli Feldvoß sprach mit dem einflussreichen Autor.

 

Wer den alten Mann mit seinem Pudel am Strand entlangstapfen sieht – dem Anschein nach ein gemeiner Ruheständler – käme nicht auf die Idee, dass dieser kurz darauf von seinem Schreibtisch aus erklären wird, dass seine Arbeit darin bestehe, die psychologischen Bedingungen zu erforschen, die den Menschen zum Bösen verleiten. Der amerikanische Psychiater und Psychologe Robert Jay Lifton gehört nicht zu denjenigen, die ihr Lebenswerk den Greueln des Naziregimes gewidmet haben. Seine Themen waren – biografisch bedingt – zunächst stärker im asiatischen Raum angesiedelt, reichen von der Gehirnwäsche der chinesischen KP bis zu den Atombombenopfern von Hiroshima und Nagasaki, vom Vietnam- bis zum Irakkrieg. Das Thema Holocaust erschien verhältnismäßig spät auf der Agenda des unermüdlichen Verfechters der Menschlichkeit. Für die dann 1986 herausgekommene umfangreiche Studie „The Nazi Doctors“, Liftons Hauptwerk, reiste er Ende der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre rund um den Globus, um achtzig Überlebende und dreißig Täter zu befragen.

Robert Jay Lifton: Ich war nicht überrascht, dass ich sie in so guten Verhältnissen vorfand. Ich kannte die deutsche Entwicklung nach dem Krieg gut genug. Ich wusste, dass alles möglich war und dass Menschen, die sich kriminell verhalten hatten, später nicht dafür büßen mussten. Es war mir wichtig, im Film „Wenn Ärzte töten“ ausdrücklich auf den unangemessenen Lebensstil dieser Menschen hinzuweisen, die ein hochgradig destruktives Verhalten gezeigt hatten, danach jedoch ein angenehmes Leben in der Nachkriegsgesellschaft führten und nicht wirklich für ihre Untaten zur Rechenschaft gezogen wurden. Ich ermunterte sie zum Sprechen, so frei, wie es eben möglich war, und sie ließen sich im großen und ganzen darauf ein. Manche wirkten sehr selbstsicher, um nicht zu sagen „siegessicher“ in ihrem Auftreten. 

Liftons Interviews fanden unter Zusicherung strengster Anonymität statt, Namen fallen keine, außer die von Josef Mengele und Eduard Wirths, den „prominentesten“ Auschwitz-Ärzten, denen er in seiner Studie „The Nazi Doctors“ ausführliche Porträts gewidmet hat. Insbesondere hat ihn die „tragische Figur“ Wirths interessiert, der, wie Lifton festhält, den Konflikt zwischen „Heilen und Töten“ nur im Selbstmord lösen konnte. Darum genau geht es: um das Verhalten der Ärzte im Dritten Reich, die sich in Täter verwandelten und um die damit verbundene Verkehrung ihres medizinischen Auftrags, der in den Vernichtungslagern und Euthanasiezentren „vom Heilen zum Töten“ pervertiert wurde. Einige der Schlimmsten waren 1947 im Nürnberger Ärzteprozess abgeurteilt worden, einer der damals Verurteilten befand sich noch auf Liftons Liste. Bei diesen Befragungen erwiesen sich die Berichte der Opfer für Lifton als große Hilfe. Sie erinnerten immer wieder daran, was damals wirklich geschehen war und was sich – bei dem großen historischen Abstand – so leicht hinter der Fassade gediegener Bürgerlichkeit zu verflüchtigen drohte. 

Meine Gesprächspartner versuchten ausnahmslos zu unterdrücken, was sie im Bereich „Grenzüberschreitung“ – etwa die Teilnahme an einem Tötungsprozess – getan hatten. Das gilt für das Verständnis der anderen wie für ihre eigene Vorstellung. Viele der Befragten hatten mit den Lagern, insbesondere mit Auschwitz, zu tun oder mit den Tötungszentren des sogenannten Euthanasieprogramms. Sie waren schuldig, versuchten aber, sich als gewöhnliche Ärzte und gewöhnliche Mitbürger darzustellen. Sie präsentierten sich nicht direkt als Nazis, zumindest als Nicht-Mehr-Nazis. Sie waren – als Mitglieder der NSDAP und teilweise ideologisch infiltriert – jedoch alle Nazis gewesen. Sie schilderten sich als gewöhnliche Leute, die sich in einer schwierigen Situation befunden hätten und sich so gut wie möglich verhielten.

Erstellungsdatum: 16.09.2025