Wagners letzte Oper „Parsifal“ auf die Bühne zu bringen, ist immer ein Risiko. Denn sein religiös-mystischer Inhalt dreht sich um viele Fragen, aber letztlich immer um die nach dem Wesen des Grals. Doch was ist der? Regisseurin Fassbaender fand darauf eine überraschende, aber schlüssige Antwort ganz im Sinne Wagners: die Musik-Bühnen-Kunst selbst. Andrea Richter erlebte die Premiere der neu gedachten, musikalisch kaum Wünsche unerfüllt lassenden und perfekt text-verständlichen Interpretation in der Oper Frankfurt.
Großartig, wie GMD Thomas Guggeis das Mammutwerk 3:50 Stunden lang in jeder Stimmungslage transparent und nachvollziehbar machte. Er lag mit dieser Spiel-Dauer übrigens im Mittelfeld. In Bayreuth, wo sie regelmäßig gestoppt wurde (wird?), war Pierre Boulez mit 3:38 Stunden der Schnellste und Arturo Toscanini mit 4:48 der Langsamste. Insbesondere die musikalisch sehr unterschiedlichen Anlagen der drei Akte arbeitete Guggeis sorgfältig und flexibel heraus. Selbst die besonders langatmigen Passagen des 1. Aktes fühlten sich überraschend spannend an, so dass an Einschlafen gar nicht zu denken war. Das gelang auch Andreas Bauer Kanabas, der die ewig dauernden Gurnemanz Erzählungen sängerisch wie darstellerisch fesselnd gestaltete. Ähnlich bravourös alle Sänger:kolleginnen inklusive Chören (bereits geleitet vom Neuen: Gerhard Polifka) über die gesamte Strecke hinweg. Unterstützt von teilweise überaus witzigen, auflockernden Regie-Einfällen, die es an vielen Stellen der Produktion gab und die zu einer Art Entmystifizierung und Vermenschlichung führten, ohne die jeweilige Stimmung zu stören oder dem Werk seine Würde zu nehmen.
Der „Parsifal“ wurde schon sehr unterschiedlich inszenatorisch behandelt, weil das Werk verschiedene Sichtweisen geradezu provoziert. Illustriert wird diese Tatsache in Frankfurt durch die Projektionen von mindestens einem Dutzend der 30 Darstellungen Claude Monets von der Kathedrale in Rouen während der symphonischen Phasen: Dasselbe Gebäude aus verschiedenen Perspektiven in unterschiedlichen Licht- und Farb-Situationen, also jedes Mal anders.
Wagner bezeichnete den „Parsifal“ nicht als Oper, sondern als „Bühnenweihfestspiel“. Nun kann man sich fragen, ob er damit die religiöse Weihe auf der Bühne meinte oder vielmehr die zu weihende Bühne als einzigem adäquaten Mittel zur Versinnbildlichung und damit Vermittlung religiöser Friedens-, Liebes- und Mitleidsbotschaften. Die zweite Interpretation dürfte dem entsprechen, was es in Frankfurt zu erleben gibt.
Während seiner Arbeit am „Parsifal“ verfasste Wagner 1880 eine seiner Hauptschriften Kunst und Religion. Darin kommt er zu dem Ergebnis, dass sich die heutige Musik aus der Religion entwickelt habe und ohne Zweifel ein Produkt des Christentums sei. „In diesem Sinne ist nun … anzuerkennen, dass die Musik das eigenste Wesen der christlichen Religion mit unvergleichlicher Bestimmtheit offenbart, weshalb wir sie sinnbildlich in dasselbe Verhältnis zur Religion setzen möchten, in welchem wir den Gottes-Knaben zur jungfräulichen Mutter auf jenem Raphaelischen Gemälde uns darstellten: Als reine Form darf uns die Musik als eine welterlösende Geburt des göttlichen Dogmas von der Nichtigkeit der Erscheinungs-Welt selbst gelten.“ Und: „Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche sie im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“ Wagner erklärte, dass er zur Transformierung seiner gleichnishaften Botschaft, Erlösung und Regeneration der Menschheit durch Mitleid – dargestellt durch den suchenden Parsifal und den leidenden Amfortas –, eine Kunstform gewählt habe, die gepaart mit religiöser Symbolik eine „entrückende Wirkung auf das Gemüt“ ausüben sollte.
Es liegt also nahe, dass die Fassbaender mit dieser Inszenierung der Musik-Bühnen-Kunst als solcher huldigen will, sie als weihe-würdig betrachtet. Sie selbst war und ist sowohl Musik als auch Bühne in gelebter Form: Erst als weltweit gefeierte Mezzosopranistin, die diese Karriere selbstbestimmt beendete, als sie glaubte, den höchsten Ansprüchen an sängerisches Können nicht mehr gerecht werden zu können. Dann als Opern-Regisseurin, die sich in diesem Metier einen Namen gemacht hat, weil sie ihre Inszenierungen immer vornehmlich an den Bedürfnissen der musizierenden Kolleg:innen orientiert, also der Kunst dient. Mit dem Parsifal, so kann man es wohl deuten, hat die inzwischen 85 Jahre alte und höchst aktive Künstlerin eine Art inszenatorisches Lebensresümee gezogen: Die Kunst auf der Bühne steht oben! Sie ist ihr Gral.
Im Sinne einer Bühnen-Huldigung an sich stellt Fassbaender gemeinsam mit dem Bühnen-Künstler Johannes Leiacker also ein Bühnenspiel auf die Bühne. Es bedeutet, dass wir Sänger:innen bei ihrer Arbeit zuschauen und zuhören. Das begriff ich erst sehr spät, genauer gesagt im 3. Akt, als ein Teil des Bühnenbildes aus dem 1. Akt umgedreht und als kaputtes Kulissengerüst dastand. Und plötzlich machte alles Sinn, was vorher zu sehen, aber nicht immer zu begreifen war.
Worum geht es im Parsifal?
Zwei streng getrennte Welten stehen sich gegenüber: die der erhabenen, sich moralisch hochwertig wähnenden, aber im Bestand gefährdeten Gralsritterschaft mit ihrem König Amfortas und die des Zauberers Klingsor voller irdischer Freuden wie Lust und Freude.
Kundry, eine Frau, die zwischen beiden Welten hin- und herreist, hatte den verliebten Amfortas von der Gralsburg ins Zauberreich gelockt. Dort war er im Kampf mit dem von der Ritterschaft einst abgelehnten Zauberer Klingsor vom eigenen Speer verletzt. Mit blutender Wunde kehrte er ohne den Speer auf die Gralsburg zurück. Die Wunde hört nicht auf zu bluten und Amfortas leidet an ihr, wie auch an der Tatsache, dass er mit Kundry von den Gralsrittern als völlig unzulässig betrachtet, „gesündigt“ und den Speer verloren hat. Trotzdem muss er täglich den Gral in einer von seinem Vater Titurel festgelegten Zeremonie enthüllen. Gurnemanz ist dafür zuständig, dass die Leiden des Königs gelindert und so die tägliche Gralsenthüllung für die Ritterschaft durchgeführt werden. Er nimmt dafür sogar die Hilfe von Kundry (Kräuter etc.) in Anspruch. Eines Tages wird ein junger Kerl zu ihm gebracht, der verbotenerweise im Gralsgebiet einen Schwan (!) mit seinem Bogen abgeschossen hat. Er weiß weder wie er heißt, noch wer seine Eltern sind, noch hat er jemals vom Gral und der Ritterschaft gehört. Gurnemanz weiß aufgrund einer Prophezeiung, dass ein „junger, reiner Tor“ kommen, das verlorene Schwert zurückholen und die Gralsritterschaft retten wird, und hofft, dass dieser junge Wilde der Erlöser sein könnte. Er nimmt ihn zur nächsten Grals-Enthüllungs-Zeremonie mit, deren stummer Zeuge er wird. Weil er aber so gar nichts kapiert, bekommt Gurnemanz Zweifel an seiner Vermutung und wirft den jungen Mann raus. Viel besinnliche, getragene, düstere Musik, große Männer-Chöre und weibliche Engels-Transzendenz.
Im 2. Akt gelangt der junge Mann in Klingsors Reich, wo er in dessen Zaubergarten von Blumenmädchen umgarnt wird und von der zurückgekehrten Kundry verführt werden soll. Sie weiß genau, wer er ist und sagt es ihm: Parsifal. Es kommt zum Kuss zwischen den Beiden und in diesem Moment wird er erwachsen, wird „welthellsichtig“, begreift, welche Aufgabe er hat und weist Kundrys weitere Annäherungsversuche zurück, woraufhin sie ihn verflucht. Es gelingt ihm, den Speer zu ergreifen, er führt damit ein Kreuzzeichen aus, zerstört damit Klingsors Reich und macht sich davon. Viel quicklebendige, leichte und beinahe atonale Musik in dauernder Bewegung.
Als Parsifal im 3. Akt nach fluch-bedingten Irrwegen erst Jahre später wieder auf der Gralsburg ankommt, sind diese und die Ritterschaft teilweise zerstört, weil der blutende Amfortas den Gral, ihr verbindendes Element, nicht mehr enthüllen will. Wieder ist es Gurnemanz, der nun im gereiften, ersehnten, Speer mitbringenden Parsifal den Erlöser der Sorgen auf der Burg erkennt, ihm von Kundry die Füße waschen lässt und ihn zum König salbt. Parsifals erste Amtshandlung: er tauft Kundry. Dann wird er den Rittern vorgestellt und auch von ihnen als Retter akzeptiert, der von nun an den Gral täglich für sie enthüllen und damit die Gemeinschaft zusammenhalten wird. Die Musik jetzt eine Zitatensammlung aus früheren Werken.
Die abschließende Feier der Gralsritter zu den Klängen des Nachspiels ist nach Fassbaenders Lesart natürlich die Premierenfeier des Ensembles, das sich nach fast vier Stunden künstlerischer Höchstleistung aus seinen Kostümen schält und freudig Sektgläser entgegennimmt.
Im 1. Akt hatte es übrigens zu den Nachklängen der Enthüllungszeremonie während des Mahls Brezeln für die hungrigen Sänger:innen gegeben, statt gesegnetes Brot für die Ritter, was bereits in der ersten Pause heftig diskutiert wurde. Und überhaupt: was sollten diese merkwürdigen Bühnenbilder? Darüber weitere, lebhafte Diskussionen auch in der zweiten Pause. Irgendwie kamen mir einzelne Elemente bekannt vor, ich konnte sie noch nicht einordnen, hatte auch das Programmheft nicht gelesen.
Wie gesagt, bei mir klickte es insgesamt erst im 3. Akt und dann begriff ich: Die Bühnen- und Kostümgestaltung orientiert sich an Schlössern von König Ludwig II. von Bayern. Zum einen an Schloss Neuschwanstein, an dem von 1869 – 1892, also während der Entstehungszeit des Parsifal, gebaut wurde. Es sollte dem exzentrischen „Kini“ und Wagner-Freak gewissermaßen als bewohnbare Theaterkulisse dienen.
Das Schloss auf dem Berggipfel war als eine Art „Freundschafts-Tempel“ gedacht, für sich und den angebeteten Komponisten, den er auch großzügig finanziell in Bayreuth unterstützte. Wagner war nie dort, und das Schloss wurde bis auf einige Räume nie fertiggestellt. Aber dort gibt es ein für diese Produktion wichtiges Bühnenbild-Element: Den ins glatt verputzte Mauerwerk des Wintergartens eingelassenen Eingang aus „Kunst-Felsen“ zur künstlichen Grotte im Schloss bzw. im Versammlungsraum der Gralsritter, in der der Gral, ein güldener Kelch, steht. Und zum zweiten, die „Venusgrotte“ im Linderhof, die das Bühnenbild des 2. Aktes inspirierte.
Ein „Parsifal“ erschöpft auch die opern-affinsten Zuhörer:innen, von den Künstlern ganz zu schweigen. Doch diese Frankfurter Produktion mit dem großartigen Ensemble verlässt man mit dem Gefühl, dass man sie sich mindestens noch einmal anschauen möchte. Weil es wahrscheinlich noch viel mehr zu entdecken gibt und weil es ganz einfach so schön war.
Nicholas Brownlee (Amfortas) und Jennifer Holloway (Kundry). Foto: Monika Rittershaus
Richard Wagner 1813–1883
Parsifal
Bühnenweihfestspiel in drei Akten
Text vom Komponisten
Uraufführung 1882,
Festspielhaus, Bayreuth
Musikalische Leitung:
Thomas Guggeis
Inszenierung:
Brigitte Fassbaender
Bühnenbild, Kostüme:
Johannes Leiacker
Licht: Jan Hartmann
Choreografie:
Katharina Wiedenhofer
Chor: Gerhard Polifka
Dramaturgie: Konrad Kuhn
Mitwirkende
Amfortas: Nicholas Brownlee
Titurel: Alfred Reiter
Gurnemanz: Andreas Bauer Kanabas
Parsifal: Ian Koziara
Klingsor: Iain MacNeil
Kundry: Jennifer Holloway
Und viele mehr
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Vorstellungen: 24., 29. Mai, 1., 7., 9., 14. und 19. Juni 2025
Erstellungsdatum: 21.05.2025