Er wollte in die „Feueröfen des Bösen“ schauen und dem nationalsozialistischen Räderwerk in die Speichen greifen. Dafür schlüpfte Kurt Gerstein in die SS-Uniform. Wie Rolf Hochhuth in seinem Drama „Der Stellvertreter“ formuliert, hat er mit den „Mördern gepokert“ und blieb bis zum Ende des Terrorregimes unentdeckt. Sein Tod ist bis heute ungeklärt, und er selbst weitgehend vergessen. Doris Stickler erinnert an Kurt Gerstein, der vor 120 Jahren geboren wurde und vor 80 Jahren gestorben ist.
Wenn es um Widerstand gegen das NS-Regime geht, bleibt der Name Kurt Gerstein in der Regel außen vor. Das wäre vermutlich anders, hätten die Nazis sein gewagtes Doppelspiel durchschaut und ihn wie andere Widerstandskämpfer hingerichtet. Anfangs liebäugelte er zwar mit der NS-Politik, die sich da noch als sozial und christlich gerierte. Nicht zuletzt auf Druck seines national-konservativen Elternhauses wurde er auch Mitglied der NSDAP. Doch schon bald durchschaute er die NS-Ideologie. Als gläubiger Christ im Kirchenkampf aktiv, nahm der charismatische Redner fortan kein Blatt vor den Mund. Man erteilte ihm reichsweites Redeverbot und warf ihn 1936 schließlich aus der Partei.
Da hatte Kurt Gerstein freilich längst begriffen, dass Proteste und bekennende Schriften gegen den barbarischen Terror nichts auszurichten vermochten. Die Entscheidung zum Handeln löste die Ermordung seiner geistig behinderten Schwägerin aus. Um den Unrechtsstaat von innen heraus zu sabotieren und Verfolgten zu helfen, schlüpfte er im März 1941 in die Uniform der Waffen-SS. Zu diesem Zeitpunkt hatte der damals 35-Jährige bereits in Gestapo-Haft gesessen und war mehrere Wochen im KZ interniert. Mithilfe von Referenzen zweier Gestapo-Beamter wurde er trotzdem aufgenommen. Fördernd dürften dabei sein schauspielerisches Talent und die äußere Erscheinung gewesen sein. Groß, schlank und blond entsprach Kurt Gerstein dem Idealtypus der Nationalsozialisten.
Sein Ziel, in die „Feueröfen des Bösen“ zu schauen und das Ausmaß der Grausamkeit zu ergründen, sollte er nur allzu schnell erreichen. Als Ingenieur und Mediziner dem Hygiene-Institut unterstellt und zum Chef der Abteilung „Gesundheitstechnik“ befördert, oblag ihm die Beschaffung des Giftgases Zyklon B. 1942 wurde er dienstlich in die Todeslager Belzec und Treblinka beordert, um an der Erprobung des Gases teilzunehmen. Dort war Kurt Gerstein gezwungen mit anzusehen, wie man Hunderte nackter Männer, Frauen und Kinder in die Todeskammern trieb. Zutiefst verstört reiste er nach Berlin zurück, wo er im Zug dem schwedischen Gesandtschaftsrat begegnete. Auf der langen Fahrt berichtete er Göran von Otter detailliert von dem grauenhaften Geschehen und beschwor ihn, die Regierung seines Landes sowie die Alliierten davon zu unterrichten.
Der diplomatische Vertreter erzählte später, wie Kurt Gerstein schluchzte, immer wieder die Hände vor sein Gesicht schlug und mit tränenerstickter Stimme von dem gerade Durchlebten sprach. „Ich dachte, er wird diese Gewissensqualen nicht mehr lange aushalten. Er wird sich verraten, und sie werden ihn dann verhaften.“ Kurt Gerstein hielt aus und setzte alles daran, die Weltöffentlichkeit zu alarmieren. Trotz der permanenten Gefahr entlarvt zu werden – für diesen Fall hatte er Zyankali im Siegelring versteckt – verbreitete er beharrlich sein schreckliches Wissen. Kontaktpersonen im niederländischen Widerstand erfuhren aus seinem Munde ebenso von den Gräueltaten wie Freund:innen, Vertreter:innen der Bekennenden Kirche und Bekannte.
Die erhofften Reaktionen des Auslands blieben indessen aus. Auch in der Apostolischen Nuntiatur in Berlin schenkte man ihm kein Gehör. Als er dort vorsprach und die Herren erfuhren, dass er Soldat ist, lehnten sie die Unterhaltung ab und forderten ihn zum Verlassen der Botschaft des Heiligen Stuhles auf. Obgleich vom Grauen längst zermürbt, verfolgte Kurt Gerstein weiterhin seine Mission. Um dem nationalsozialistischen Räderwerk in die Speichen zu greifen, beseitigte er als SS-Offizier Akten von politisch Verfolgten, versorgte Gefangene kofferweise mit Lebensmitteln und Zigaretten und fälschte Ausweise. Seine Berliner Wohnung war Treffpunkt von Dissidenten. Zudem deklarierte er Zyklon-B-Lieferungen als zersetzt oder gab vor, sie für die eigene Entwesungsarbeit zu brauchen.
Den Vernichtungswahn des Regimes vermochte Kurt Gerstein freilich nicht zu stoppen. Die Möglichkeiten seiner Sabotage waren begrenzt, und oft genug blieb ihm nichts anderes übrig als zu kollaborieren. Wie der israelische Historiker Saul Friedländer würdigte, hat er aber „nicht wie die Mehrzahl der guten Deutschen ruhig gewartet, bis alle Juden tot waren“. Die Tübinger Entnazifizierungskammer reihte ihn dagegen wegen der „Unwirksamkeit seiner Bemühungen“ posthum in die Riege der Belasteten ein. Dabei lagen eindeutige Entlastungszeugnisse vor. Dass die Öffentlichkeit überhaupt von Kurt Gersteins Taten erfuhr, ist namentlich Rolf Hochhuth zu verdanken. Der Dramatiker hatte aus den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ von dessen Schicksal erfahren und ihn zu einer tragenden Figur in seinem Stück „Der Stellvertreter“ gemacht.
Das „christliche Trauerspiel“ über die Haltung des Vatikans zum Holocaust sorgte nach der Premiere 1963 für erhitzte Auseinandersetzungen, internationale Kontroversen und Tumulten in mehreren europäischen Ländern. Nachdem durch das Drama auch Kurt Gersteins Courage ins Blickfeld gerückt war, drängten in Deutschland besonders jüdische Bürger:innen wie auch der Zentralrat der Juden auf dessen Rehabilitierung. Der drei Jahre im KZ internierte Kaufmann Issy Wygoda erreichte schließlich, dass das Stuttgarter Justizministerium die Akte Gerstein erneut überprüfte. 1965 stufte ihn der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger dann in die Gruppe der „Entlasteten“ ein. Das geschah zwanzig Jahre nach seinem bis heute ungeklärten Tod.
Im Mai 1945 hatte sich Kurt Gerstein mit einem ausführlichen Bericht über die NS-Verbrechen in den Konzentrationslagern den Alliierten gestellt. Die Amerikaner verwahrten das Dokument, er selbst wurde von den Franzosen in das Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi gesteckt. Dort wurde er am 25. Juli erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Die offizielle Suizid-Version ist umstritten, ihr stehen Vermutungen gegenüber, dass er von SS-Mitgefangenen oder französischen Gefängnismitarbeitern umgebracht wurde. Zwei Tage zuvor hatte Göran von Otter noch beim schwedischen Botschafter in London darauf gedrängt, Kurt Gerstein beizustehen, falls dieser von den alliierten Siegermächten interniert werden sollte. Sein Appell kam zu spät.
Im November des Jahres begannen die Nürnberger Prozesse, bei denen der „Gerstein-Bericht“ als Beleg für die Liefermengen von Zyklon B nach Auschwitz diente. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin stuft seine Aufzeichnungen insgesamt als „eine der wichtigsten Augenzeugenquellen über die Durchführung des Völkermordes an den Juden Europas“ ein. Wäre der Mensch Kurt Gerstein noch am Leben gewesen, hätte er während des fast vierjährigen Prozessverlaufs mit Sicherheit noch einiges mehr zur Aufklärung und Ahndung des nationalsozialistischen Vernichtungswahns beitragen können.
Literatur:
Pierre Joffroy: Der Spion Gottes. Kurt Gerstein – ein SS-Offizier im Widerstand?, Berlin 1995
Saul Friedländer: Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten, C.H.BECK, 2007
Erstellungsdatum: 10.08.2025