MenuMENU

zurück

Das Doppelspiel des Kurt Gerstein

Widerstand zwischen den Fronten

Doris Stickler


Kurt Gerstein vor 1945. Foto: wikimedia commons

Er wollte in die „Feueröfen des Bösen“ schauen und dem nationalsozialistischen Räderwerk in die Speichen greifen. Dafür schlüpfte Kurt Gerstein in die SS-Uniform. Wie Rolf Hochhuth in seinem Drama „Der Stellvertreter“ formuliert, hat er mit den Mördern gepokert“ und blieb bis zum Ende des Terrorregimes unentdeckt. Sein Tod ist bis heute ungeklärt, und er selbst weitgehend vergessen. Doris Stickler erinnert an Kurt Gerstein, der vor 120 Jahren geboren wurde und vor 80 Jahren gestorben ist.

 

Wenn es um Widerstand gegen das NS-Regime geht, bleibt der Name Kurt Gerstein in der Regel außen vor. Das wäre vermutlich anders, hätten die Nazis sein gewagtes Doppelspiel durchschaut und ihn wie andere Widerstandskämpfer hingerichtet. Anfangs liebäugelte er zwar mit der NS-Politik, die sich da noch als sozial und christlich gerierte. Nicht zuletzt auf Druck seines national-konservativen Elternhauses wurde er auch Mitglied der NSDAP. Doch schon bald durchschaute er die NS-Ideologie. Als gläubiger Christ im Kirchenkampf aktiv, nahm der charismatische Redner fortan kein Blatt vor den Mund. Man erteilte ihm reichsweites Redeverbot und warf ihn 1936 schließlich aus der Partei.

Da hatte Kurt Gerstein freilich längst begriffen, dass Proteste und bekennende Schriften gegen den barbarischen Terror nichts auszurichten vermochten. Die Entscheidung zum Handeln löste die Ermordung seiner geistig behinderten Schwägerin aus. Um den Unrechtsstaat von innen heraus zu sabotieren und Verfolgten zu helfen, schlüpfte er im März 1941 in die Uniform der Waffen-SS. Zu diesem Zeitpunkt hatte der damals 35-Jährige bereits in Gestapo-Haft gesessen und war mehrere Wochen im KZ interniert. Mithilfe von Referenzen zweier Gestapo-Beamter wurde er trotzdem aufgenommen. Fördernd dürften dabei sein schauspielerisches Talent und die äußere Erscheinung gewesen sein. Groß, schlank und blond entsprach Kurt Gerstein dem Idealtypus der Nationalsozialisten.

Sein Ziel, in die „Feueröfen des Bösen“ zu schauen und das Ausmaß der Grausamkeit zu ergründen, sollte er nur allzu schnell erreichen. Als Ingenieur und Mediziner dem Hygiene-Institut unterstellt und zum Chef der Abteilung „Gesundheitstechnik“ befördert, oblag ihm die Beschaffung des Giftgases Zyklon B. 1942 wurde er dienstlich in die Todeslager Belzec und Treblinka beordert, um an der Erprobung des Gases teilzunehmen. Dort war Kurt Gerstein gezwungen mit anzusehen, wie man Hunderte nackter Männer, Frauen und Kinder in die Todeskammern trieb. Zutiefst verstört reiste er nach Berlin zurück, wo er im Zug dem schwedischen Gesandtschaftsrat begegnete. Auf der langen Fahrt berichtete er Göran von Otter detailliert von dem grauenhaften Geschehen und beschwor ihn, die Regierung seines Landes sowie die Alliierten davon zu unterrichten.

Der diplomatische Vertreter erzählte später, wie Kurt Gerstein schluchzte, immer wieder die Hände vor sein Gesicht schlug und mit tränenerstickter Stimme von dem gerade Durchlebten sprach. „Ich dachte, er wird diese Gewissensqualen nicht mehr lange aushalten. Er wird sich verraten, und sie werden ihn dann verhaften.“ Kurt Gerstein hielt aus und setzte alles daran, die Weltöffentlichkeit zu alarmieren. Trotz der permanenten Gefahr entlarvt zu werden – für diesen Fall hatte er Zyankali im Siegelring versteckt – verbreitete er beharrlich sein schreckliches Wissen. Kontaktpersonen im niederländischen Widerstand erfuhren aus seinem Munde ebenso von den Gräueltaten wie Freund:innen, Vertreter:innen der Bekennenden Kirche und Bekannte.


DLF/Kalenderblatt 25.07.1945 Kurt Gerstein gestorben. SS-Offizier und Warner vor der NS-Vernichtung

Erstellungsdatum: 10.08.2025