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Zur italienischen Literaturgeschichte

Wie kommt man aus der Hölle?

Andrea Pollmeier


Franz von Assisi: Der Sonnengesang (1226). Foto: Wikipedia

Mit einem eindrucksvollen Auftakt zum Gastland Italien hatte die Woche der Buchmesse begonnen. Dabei wurde deutlich, dass die Autorinnen und Autoren des deutschen Sehnsuchtslandes vor politischer Einflussnahme nie frei waren und sich in transkultureller Vielfalt entwickelten. Die beiden Dozentinnen für italienische und französische Literaturwissenschaft, Dr. Eva-Tabea Meineke (Universität Mannheim) und Prof. Dr. Christine Ott (Goethe-Universität Frankfurt), führten im Gespräch mit Martin Maria Schwarz in die italienische Literaturgeschichte ein. Andrea Pollmeier berichtet.

 

Der große, unvermeidbar lückenhafte Marathon durch die Jahrhunderte setzt an in der Zeit des Mittelalters, an Zentren wie Sizilien und Florenz. Eva Meineke schildert, wie sich in Palermo, am Hof des Stauferkönigs Friedrich II. inmitten eines transkulturellen Umfelds die Anfänge der italienischen Sprache entwickeln. Arabische Einflüsse verbanden sich zu dieser Zeit mit Musik- und Texttraditionen der Troubadoure aus der Provence. Notare entwickelten die Gedichtform des Sonetts, die bis heute Bestand hat.

Als weiteres Zentrum, an dem sich aus dem Latein das Italienisch als Schriftsprache entfaltet, wird Florenz vorgestellt. Hier sei schließlich eines der ersten, bis heute berühmten Dokumente der italienischen Literatur entstanden: der „Sonnengesang“ des Franz von Assisi.

Vor allem aber schreibt in dieser Zeit Dante einen „Survival-guide für das Jenseits“ (Christine Ott). „Wie kommt man in die Hölle, und wie gelingt es, lebend da auch wieder herauszukommen?“. Dies sei eine der zentralen Fragen der Menschen im Mittelalter gewesen, erklärt die Mannheimer Romanistin. Dante habe sich in der „Divina Commedia“ diesen Sorgen zugewandt, Vorstellungen über Himmel und Hölle, den Läuterungsberg und den Tod entwickelt.

Dantes plastische Ideen strahlen aus auf ganz Italien und bleiben bis in die Gegenwart wirksam. Sie spiegeln sich wider in den Werken Sandro Botticellis und in zahllosen kirchlichen Fresken. Innerhalb der Literaturgeschichte wird das Werk zu dem (!) Jenseitsepos der Weltliteratur, denn es ist im „volgare“, in der Sprache des Volkes verfasst. Von Michelangelo sagt man, er habe die ganze Commedia auswendig gekonnt…


Dante und Virgil treffen die Sodomiten. Aus Dantes „Divina Commedia“, Cantica del Inferno. Foto: Maksim. wikimedia commons

 

Dantes Gesamtwerk ist geprägt vom Wunsch nach einem geeinten, von Fremdherrschaft befreiten Italien. Mit diesem Ziel ringt er auch um eine überregionale, literaturfähige Sprache. Stets überlegt er, welche Eigenschaften eine transregionale Sprache aufweisen muss.

Dantes Werk wirkt nach bis in die Gegenwart. Ein Beispiel ist Primo Levi, der, nachdem er Ausschwitz überlebt hatte, 1947 das autobiographische Werk „Ist das ein Mensch?“ veröffentlicht hat. Er bezieht sich darin auf eine Passage aus dem Gesang des Ulysses, den Canto 26 des Inferno. Dante beschreibt, wie Ulysses versucht, seine Gefährten dazu zu überreden, ein letztes Mal mit ihm auf die See hinauszufahren. Er sagt: „Bedenkt den Samen, den ihr in euch tragt, geschaffen wart ihr nicht, damit ihr lebtet wie Tiere, sondern um Tugend und Erkenntnis anzustreben“ (Übersetzung nach Hartmut Köhler).

Primo Levi denkt bei dieser Passage nicht an neugierige Gefährten und eine Erkundungsfahrt, sondern an seine Mithäftlinge, die sich darauf besinnen sollen, dass sie nicht dazu geboren wurden, wie Tiere vor sich hinzuvegetieren. Levi bezieht Dantes Ulysses-Zitat genauso aber auch auf die KZ-Aufseher, die aufgefordert werden, sich ihrer menschlichen Würde zu besinnen.

Primo Levi liest – so Christine Ott – Dante eigentlich falsch und doch unglaublich richtig, er zeige, wie Dantes Verse in unterschiedlichen Epochen immer neu rekontextualisiert werden könne. Für Levi werden sie eine Quelle für Lebensmut.

Vielfach bietet Dante Identifikationspotential, erzählt Ott. So war er auch Exilant. Er wurde aus Florenz vertrieben, weil er sich gegen den Papst gestellt hatte. Er musste seine Familie zurücklassen und konnte nicht mehr zu ihr heimkehren. Diese Erfahrung sei für ihn „bitter wie Salz“ gewesen und biete bis heute transkulturellen Autoren und Autorinnen, wie heute Igiaba Scego („Kassandra in Mogadischu“) literarisch Anregung.

Die Erkenntnisleistung der Lyrik stellt Christine Ott heraus. So sei Petrarcas Lyrik als Code für kultivierte Menschen genutzt worden, es gab in Italien, aber auch an europäischen Fürstenhöfen Gesellschaftsspiele, für die man Petrarcas Gedichte kennen musste. Die Liebesgedichte dieser Zeit, ihr Betonen von Ich und Du in der Sprache der Schönen, der Reichen und Mächtigen markiert, so Ott, den Beginn der modernen Subjekttheorie, wie sie später in der Philosophie und Psychoanalyse weiterentwickelt wurde.

Vorbild für das Schreiben von Prosa seien bis heute auch Werke von Giovanni Boccaccio, insbesondere seine historische Erzählung „Das Dekameron“, dessen Beschreibung der Pest für die Pandemie-Krise der Gegenwart zum anregenden Modell wurde.

Erstellungsdatum: 20.10.2024