Mit einem eindrucksvollen Auftakt zum Gastland Italien hatte die Woche der Buchmesse begonnen. Dabei wurde deutlich, dass die Autorinnen und Autoren des deutschen Sehnsuchtslandes vor politischer Einflussnahme nie frei waren und sich in transkultureller Vielfalt entwickelten. Die beiden Dozentinnen für italienische und französische Literaturwissenschaft, Dr. Eva-Tabea Meineke (Universität Mannheim) und Prof. Dr. Christine Ott (Goethe-Universität Frankfurt), führten im Gespräch mit Martin Maria Schwarz in die italienische Literaturgeschichte ein. Andrea Pollmeier berichtet.
Der große, unvermeidbar lückenhafte Marathon durch die Jahrhunderte setzt an in der Zeit des Mittelalters, an Zentren wie Sizilien und Florenz. Eva Meineke schildert, wie sich in Palermo, am Hof des Stauferkönigs Friedrich II. inmitten eines transkulturellen Umfelds die Anfänge der italienischen Sprache entwickeln. Arabische Einflüsse verbanden sich zu dieser Zeit mit Musik- und Texttraditionen der Troubadoure aus der Provence. Notare entwickelten die Gedichtform des Sonetts, die bis heute Bestand hat.
Als weiteres Zentrum, an dem sich aus dem Latein das Italienisch als Schriftsprache entfaltet, wird Florenz vorgestellt. Hier sei schließlich eines der ersten, bis heute berühmten Dokumente der italienischen Literatur entstanden: der „Sonnengesang“ des Franz von Assisi.
Vor allem aber schreibt in dieser Zeit Dante einen „Survival-guide für das Jenseits“ (Christine Ott). „Wie kommt man in die Hölle, und wie gelingt es, lebend da auch wieder herauszukommen?“. Dies sei eine der zentralen Fragen der Menschen im Mittelalter gewesen, erklärt die Mannheimer Romanistin. Dante habe sich in der „Divina Commedia“ diesen Sorgen zugewandt, Vorstellungen über Himmel und Hölle, den Läuterungsberg und den Tod entwickelt.
Dantes plastische Ideen strahlen aus auf ganz Italien und bleiben bis in die Gegenwart wirksam. Sie spiegeln sich wider in den Werken Sandro Botticellis und in zahllosen kirchlichen Fresken. Innerhalb der Literaturgeschichte wird das Werk zu dem (!) Jenseitsepos der Weltliteratur, denn es ist im „volgare“, in der Sprache des Volkes verfasst. Von Michelangelo sagt man, er habe die ganze Commedia auswendig gekonnt…
Dantes Gesamtwerk ist geprägt vom Wunsch nach einem geeinten, von Fremdherrschaft befreiten Italien. Mit diesem Ziel ringt er auch um eine überregionale, literaturfähige Sprache. Stets überlegt er, welche Eigenschaften eine transregionale Sprache aufweisen muss.
Dantes Werk wirkt nach bis in die Gegenwart. Ein Beispiel ist Primo Levi, der, nachdem er Ausschwitz überlebt hatte, 1947 das autobiographische Werk „Ist das ein Mensch?“ veröffentlicht hat. Er bezieht sich darin auf eine Passage aus dem Gesang des Ulysses, den Canto 26 des Inferno. Dante beschreibt, wie Ulysses versucht, seine Gefährten dazu zu überreden, ein letztes Mal mit ihm auf die See hinauszufahren. Er sagt: „Bedenkt den Samen, den ihr in euch tragt, geschaffen wart ihr nicht, damit ihr lebtet wie Tiere, sondern um Tugend und Erkenntnis anzustreben“ (Übersetzung nach Hartmut Köhler).
Primo Levi denkt bei dieser Passage nicht an neugierige Gefährten und eine Erkundungsfahrt, sondern an seine Mithäftlinge, die sich darauf besinnen sollen, dass sie nicht dazu geboren wurden, wie Tiere vor sich hinzuvegetieren. Levi bezieht Dantes Ulysses-Zitat genauso aber auch auf die KZ-Aufseher, die aufgefordert werden, sich ihrer menschlichen Würde zu besinnen.
Primo Levi liest – so Christine Ott – Dante eigentlich falsch und doch unglaublich richtig, er zeige, wie Dantes Verse in unterschiedlichen Epochen immer neu rekontextualisiert werden könne. Für Levi werden sie eine Quelle für Lebensmut.
Vielfach bietet Dante Identifikationspotential, erzählt Ott. So war er auch Exilant. Er wurde aus Florenz vertrieben, weil er sich gegen den Papst gestellt hatte. Er musste seine Familie zurücklassen und konnte nicht mehr zu ihr heimkehren. Diese Erfahrung sei für ihn „bitter wie Salz“ gewesen und biete bis heute transkulturellen Autoren und Autorinnen, wie heute Igiaba Scego („Kassandra in Mogadischu“) literarisch Anregung.
Die Erkenntnisleistung der Lyrik stellt Christine Ott heraus. So sei Petrarcas Lyrik als Code für kultivierte Menschen genutzt worden, es gab in Italien, aber auch an europäischen Fürstenhöfen Gesellschaftsspiele, für die man Petrarcas Gedichte kennen musste. Die Liebesgedichte dieser Zeit, ihr Betonen von Ich und Du in der Sprache der Schönen, der Reichen und Mächtigen markiert, so Ott, den Beginn der modernen Subjekttheorie, wie sie später in der Philosophie und Psychoanalyse weiterentwickelt wurde.
Vorbild für das Schreiben von Prosa seien bis heute auch Werke von Giovanni Boccaccio, insbesondere seine historische Erzählung „Das Dekameron“, dessen Beschreibung der Pest für die Pandemie-Krise der Gegenwart zum anregenden Modell wurde.
Renaissance
Die Zeit der Renaissance ist über weite Strecken sehr toskanozentrisch und klassizistisch, betont Christine Ott. Im Herzen des Klassizismus habe es in der Toskana jedoch einen anti-Klassizismus-Vertreter gegeben: Michelangelo.
„Michelangelo ist für mich der erste, der – neudeutsch formuliert – ‚queere‘ Liebeslyrik verfasst hat,“ sagt die Mannheimer Romanistin. Bis Michelangelo habe es drei Modelle der Liebeslyrik gegeben. Im Petrarkismus war es ein gängiges Modell, als Liebender oder Liebende über Liebesschmerz zu klagen. Wollte man über Sexualität sprechen, musste man Novellen schreiben oder burleske Lyrik wählen. Wollte man über die bloße Seelenverwandtschaft schreiben, musste man das platonische bzw. neuplatonische Lyrikmodell wählen. Michelangelo hingegen gehe einen eigenen Weg in seiner Lyrik, erzählt Ott. Er nahm diese drei Modelle und kombinierte sie so feinsinnig, dass sie von innen heraus explodieren. „Das Ergebnis ist unglaublich, es entstehen die schönsten Liebesgedichte, erotisch und spirituell!“
Barock
Auf die eher normierend wirksame Zeit der Renaissance folgt die Zeit des Barock, die Vielfalt und Heterogenität verkörpert, erläutert Eva Meineke. Diese Zeit sei beispielsweise für Igiaba Scego noch heute ein Bezugspunkt, da der Barock nicht das normierend Ausschließende betone. Das normierend Klassische, das für den Faschismus später erneut maßgeblich wurde, wird im Barock zugunsten der Vielfalt überwunden. Heute knüpft man erneut an diese barocke Phase an, es wird wieder viel im Dialekt geschrieben und gefilmt, oft mit italienischen Untertiteln. Der italienische Spielfilm „Morgen ist auch noch ein Tag“ (Originaltitel: C’è ancora domani, 2023/24) von Paola Cortellesi gewann in Italien beispielsweise als einzigem Land mehr Zuschauer als der Blockbuster des Jahres „Barbie“.
Risorgimento
Die Phase des Risorgimento zwischen 1815 und 1870 leitet erneut eine stark auf Einheit hin ausgerichtete Zeit ein. Sie wirkt kulturell durch die Arbeit an einer einheitlichen Sprache. Wichtiger Vertreter ist, so Eva Meineke, der Mailänder Dichter und Schriftsteller Alessandro Manzoni. Zweifach überarbeitet er seinen Roman „I Promessi Sposi“, (1827 und 1840), der in deutscher Übersetzung als „Die Brautleute“ oder „Die Verlobten“ veröffentlicht ist.
Manzoni schreibt aus taktischen Gründen einen historischen Roman und schildert die spanische Besetzung Italiens im 17. Jahrhundert. Diese Zeit wählt er, um gegen die österreichische Fremdherrschaft seiner eigenen Zeit zu rebellieren und die Zensur zu umgehen. Im Dienste der Einheit Italiens tilgte der Lombarde in seinem Roman zudem alle Lombardismen und französischen Einschläge, „er hat seinen Roman im Arno gewaschen“, um ihn auf Florentiner Sprachnorm zu bringen und ihn für die angestrebte Einheit vorzubereiten. Die sprachliche Einheit wird hier der politischen Einheit vorangestellt!
Neben der Sprachentwicklung ist aus heutiger Sicht auch die Epidemie-Beschreibung in Manzonis Roman interessant. „Ich fand immer erstaunlich, dass in der Covid-Phase „Das Dekameron“ als die große Pandemie-Lektüre bezeichnet wurde, für mich ist Manzonis Roman „Die Brautleute“ der spannendere Pandemie-Text. In einer Episode geht es darin um die Große Pest, die 1629/30 in Norditalien gewütet hat,“ erklärt Christine Ott. Manzoni erinnert daran, dass die Menschen hätten lernen können, wie mit der Krankheit umzugehen sei, weil es kurze Zeit zuvor schon eine Pest-Epidemie gegeben hatte. Doch selbst die Ärzte hätten sich empirischen Erkenntnissen gegenüber verschlossen gezeigt. Mehrheitlich verfielen die Menschen dem Aberglauben oder versuchten die Pest tragischerweise durch religiöse Prozessionen zu vertreiben. So trugen sie zur Verbreitung umso mehr bei. „Die Ähnlichkeiten zu unserer Gegenwart haben mich beim Wiederlesen der Passage erschüttert,“ bestätigt Ott.
Das Gewicht der Region
Bis heute wirken in Italien das Streben nach nationaler Einheit und der hohe Stellenwert des Regionalen wie von Sizilien, der Toskana und der Lombardei aus auf die kulturelle Entfaltung des Landes. „Jeder Italiener identifiziert sich bis heute vor allem mit seiner eigenen Stadt“, meint Eva Meineke. Die Identität mit der Nation ist – ganz anders als in Frankreich oder England – dieser regionalen Verankerung untergeordnet. Das zeige sich auch im zeitgenössischen Film. Immer häufiger werden heute wieder Filme in der Regionalsprache, also zum Beispiel dem sizilianischen Dialekt gedreht und mit Untertiteln versehen, erzählt Meineke. Dennoch sei die Sehnsucht verbreitet, wieder zurück zur Größe zu gelangen. Die Vorstellung von „Größe“ gelte es richtig einzuordnen. Man orientierte sich beispielsweise in der Zeit der Romantik etwa in den Werken von Giacomo Leopardi an der einstigen Bedeutung des Römischen Reichs, erklärt Meinecke. Vor diesem Hintergrund schätzen sich Italiener heute als klein und unbedeutend ein. Die Sehnsucht, einmal wieder stark zu sein, sei darum ein wirksames Leitmotiv, an das die aktuelle Regierung anknüpfe.
Aufbruch in die Moderne und die Rolle der Frau
Innovation kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem aus der Peripherie, erklärt Christine Ott. Sie erinnert an den Sizilianer Luigi Pirandello und an Italo Svevo, der aus Triest stammt. Die kritische Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse und Fragen nach Selbstbetrug und Verdrängung, nach Rollen und Masken sind prägend. Die Idee der perspektivischen Wahrnehmung habe zu neuen narrativen Experimenten und neuen Erzählweisen geführt. Die soziale Frage, die Rolle der Frau und marginalisierte Lebensweisen treten in den Blick.
1926 erhält mit Gracia Deledda erstmals eine italienische Autorin den Literaturnobelpreis. Ihr Werk sei, so Ott, bis heute jedoch nicht Teil des Kanons der Literatur in Italien und ihr Name kaum noch bekannt. „Das ganze System ist sehr resistent“. Eine weitere wichtige Autorin der Moderne sei Sibilla Aleramo, die 1906 den ersten feministischen Roman publiziert habe. Ihr autobiographisches Buch „Eine Frau“ wurde erst jetzt ins Deutsche übersetzt.
Frauen haben damals unter restriktiven gesellschaftlichen Voraussetzungen geschrieben, erinnert Meineke. Sie mussten erst heiraten, bevor sie schreiben konnten, weil sie sonst als heiratsunfähig galten. Aleramo sei vergewaltigt worden und musste eine „Wiedergutmachungsehe“ eingehen. Dieses Gesetz habe sich erst gegen Ende der 80er Jahre geändert.
Auch im Faschismus mussten Frauen Rückschritte hinnehmen. Sie wurden aus dem literarischen Kanon verbannt und sind innerhalb der Bewegung des Futurismus öffentlich nicht sichtbar. Diese in Italien verwurzelte, europäische Avantgardebewegung war männlich, Macht orientiert und misogyn, resümiert Meineke. Sibilla Aleramo gehöre beispielsweise thematisch zum Futurismus, sei aber auf keinen Abbildungen dieser Gruppe zu sehen.
Postmoderne und neuer Realismus
1988 war Italien erstmals Gastland der internationalen Buchmesse in Frankfurt. Damals war der erste Roman des Autors Umberto Eco „Der Name der Rose“ bereits ein Welterfolg. Eco ist es gelungen, seine Wissenschaft der Mediävistik, die er in Mailand lehrte, in den Roman zu integrieren und die Gattung des historischen Krimis zu begründen, die, so Ott, bis heute Erfolge feiere.
Gegenwärtig sei, so Meineke, die Postmoderne durch einen neuen Realismus abgelöst worden. Die harte Realität bestimme die Inhalte, erzählerisch werden jedoch Spielformen der Postmoderne und die Vielfalt an Diskursformen beibehalten. Die Postmoderne war eine Reaktion auf die Totalitarismen des 20. Jahrhundert. Nach der Phase, in der nur eine Meinung erlaubt war, wollte die Postmoderne wieder eine Vielfalt der Optionen ermöglichen. Dieses Ziel habe sich bis in die Gegenwart bewahrt. Autoren wie Roberto Saviano streben jedoch danach, in der Form von auto- und dokufiktionalen Werken die Realität schonungslos zu beschreiben und sich trotz hoher Risiken mit den politischen Verhältnissen kritisch auseinanderzusetzen.
Der Ausdruck „Literatur ist ein Stierkampf“ habe hier, so Meineke, seine Wurzel: Zwar handle es sich bei Literatur ähnlich wie im Stierkampf um eine Inszenierung, doch weiß man, dass man als Autor oder Autorin mit an den realen Gegebenheiten orientierten, ästhetischen Werken sein Leben riskieren könne. Seit der Roman „Gomorrha“ erschienen ist, muss Roberto Saviano beispielsweise unter Polizeischutz leben. Mit seinem Roman habe Saviano eine neue Epoche eingeleitet, meint Meineke. Autoren treten als Augenzeugen auf und schreiben gegen die Oberflächlichkeit und Manipulation medialer Information an. Das habe dazu geführt, dass er als Autor nicht Teil der von der Regierung ausgewählten Delegation des Gastlandes Italien ist und Saviano somit die italienische Gegenwartsliteratur nicht offiziell mit vertritt.
Die „Literaturlounge“ mit Eva-Tabea Meineke und Christine Ott im Gespräch mit Martin Maria Schwarz, veranstaltet von Kultur & Bahn in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.V. und der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien, fand im Haus des Buches, Frankfurt, am 13.10.2024 statt.
Erstellungsdatum: 20.10.2024