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Gedicht von Johanna Hansen

windau/ventspils

Johanna Hansen


 

an der venta taumelten die häuser.

und die häuser hatten stromschnellen

als zäune. unter geflügelten fenstern

trieb der butt. über ausradierte friedhöfe

grenzsplitternackter hass. weiß wie

fischbeinkorsetts die birkenäste

in abgebissenen gärten und in den

köpfen russisch und lettisch und

deutsch. verhaspelt. verfilzt. verschrien.

mitgehangen

mitgefangen

 

Mein Urgroßvater war hier

Archivar schrieb ins Gästebuch

des Schriftstellerhauses jemand

dessen Vorfahren die Koffer packen

mussten bis nach Sibirien

  

Apfelmus oder Semmelbrösel

 

lese ich vereinzelt auf packungen

im supermarkt. stark abgenutztes

deutsch. nirgendwo

 

russischer Tee

 

strenger als der geruch von

geräuchertem fisch riecht hier

ab und zu nachts die zärtlichkeit

einer katze. wenn sie schwimmhäute

kaut. in selbstgesprächen ein leben

als schriftstellerin führt

 

ostseebucht. weichgekippte oktaven.

land unter windstapeln. ganz merlandebut.

ungefirnisst. und lichtecht. wie haufenweise

horizont auf einer stillgelegten zugstrecke.

überall stehn birken und wilde apfelbäume.

ich hänge in den weißen ästen eines mythos.

und wo er schatten wirft. fällt meer mit der

tür ins haus

 

kormorane umschiffen am strand die

schaumkronen nach dem gewitter.

zerbauschte glücksversprechen

die nicht standhielten. einer liest in

den trümmern eines angeschwemmten

tieres das schulterblatt einer perle.

weiß ist ein schrägstrich zwischen

tau und tauchen

 

zeichnen am meer

 

ich habe mein haar gefärbt. es ist nun drei zentimeter

dicker als weiß und wirft mich zurück beim eintragen

der tage in strandabschnitte. die erste see fährt wieder

und wieder gegen die herzwand. (im dunkeln zugeknöpft.

innen blaudruck. rudimentär angefroren). die zweite in

pulsierende öffnungen. her damit. es ist kein verlass auf

take-away-dreams. die kappt die dritte see. bis an die

trommelfelle reicht der randlose himmel. ein deckenbild

in matrosenblau. durchschossen von kreischenden

möwen über grasvernarbten bunkerruinen. bei vier

treibe ich soundsooft in der brandung. salzig. wie eine

baltische landzunge bei grün. bei fünf versickere ich in

sprechpausen. wie angewurzelt trotz seewind. während

die nackten füße junger soldaten eine handbreit über dem

wasser aus hubschraubern baumeln. zwischen dem sechsten

und neunten strandabschnitt wird der ernstfall geprobt. mann

über bord. es gibt keinerlei nachschub an unversehrten

erdumdrehungen. unter den achseln die hände kippen. kippen

hinter verschmierte einordnungsversuche mit tusche. woanders

zeichne ich geistreich. (nur in kein loch fallen. nur nicht sämtliche

gräben lesen wie fangmethoden. die schleift die zehnte see.)

nachts noch bin ich einsilbig. dann sperrangelweit. wach

 

 

Erstellungsdatum: 13.03.2025