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Die Wirkung des Nationalsozialismus auf die deutsche Nachkriegsphilosophie

Es gibt viele Antworten auf die Frage: „Wie konnte das geschehen?“ All diese Erklärungen lassen sich im Nachhinein geben. Einige aber, die sich auf strukturelle Prozesse beziehen, bieten die Handhabe, aus den Fehlern der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Wie sich solche Strukturen im gegenwärtigen Geschehen erkennen lassen und deren Analyse Kriterien bereitstellt, um die Faktoren totalitärer Ideologien in Traditionen und Denkweisen zu identifizieren, erläutert der Philosoph Martin Löw-Beer.
Was hat Philosophie mit dem Nationalsozialismus zu tun? Kann Philosophie überhaupt versagen oder bestehen angesichts konkreter gesellschaftlicher Phänomene? Ist Philosophie nicht auf einer so allgemeinen Ebene angesiedelt, dass sie zu konkreten gesellschaftlichen Problemen nichts zu sagen hat? Gewiss, die Philosophie kennt auch praktische Probleme. Fragen nach der Begründung von Moral, nach der Explikation von Freiheit, nach Maßstäben für gesellschaftliche Integration und gesellschaftlichen Fortschritt. Aber lohnt es sich wirklich zu begründen, warum millionenfacher Mord schlecht ist, dass Zensur schlechter ist als Meinungsfreiheit, dass es besser ist, gesellschaftliche Integration durch Institutionen zu sichern, die diskursive und einverständliche Lösung gesellschaftlicher Probleme vorsehen im Gegensatz zu staatlichen Maßnahmen, die nach dem Modell von Befehl und Gehorsam, der mit Terror erzwungen wird, funktionieren? Oder lohnt es sich wirklich, sich mit pseudowissenschaftlichen, sozialdarwinistischen Determinismen auseinanderzusetzen, zu bestreiten, dass die Geschichte als Auslese, Kampf von Rassen zu begreifen sei? Oder lohnt es sich zu argumentieren, dass es nicht gut sei, ethnische Probleme durch Deportation und Vernichtung zu lösen?
Geschichte wiederholt sich nicht buchstäblich.
Daher ist zu fragen, ob Terror und Vernichtung
Elemente eines Systems waren,
das sich in anderer Uniform reproduzieren könnte.
Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus würde es sich zu leicht machen, wenn sie sich darauf beschränkte, Manifestationen des Terrors zu delegitimieren. Es bedarf vielmehr der Auseinandersetzung mit jenen Traditionen, Denkweisen, Situationsdefinitionen, in denen der Nationalsozialismus als Möglichkeit angelegt ist. Um Lehren aus geschichtlichen Erfahrungen ziehen zu können, bedarf es allgemeiner Interpretationen und Modelle des NS-Systems. Geschichte wiederholt sich nicht buchstäblich. Daher ist zu fragen, ob Terror und Vernichtung Elemente eines Systems waren, das sich in anderer Uniform reproduzieren könnte. Es wäre daher wichtig, die wesentlichen Elemente eines solchen Systems zu identifizieren, um zu verstehen, was als dem Nationalsozialismus ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen zu qualifizieren sei. Die Beschreibungen der NS-Zeit müssen allgemein genug sein, um Lehren daraus ziehen zu können, und sie müssen die Problemstellungen identifizieren, auf die der Nationalsozialismus eine Antwort ist.
Landkarte der Auseinandersetzung
a) Die Auseinandersetzung mit Traditionen derer, die aufgefasst werden wie Eltern, deren böses Kind der Nationalsozialismus ist. (Krockow: Dezisionismus; Peukert: Diskurs der Humanwissenschaften)
b) Brückenschlagende Interpretationen: Es wird der Anspruch erhoben, dass vertraute Denkmuster etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben (z.B. Zweck-Mittel-Denken). Diese werden auf diese Weise desavouiert oder es werden zumindest Rezepte vorgeschlagen, um ihre gefährlichen Seiten zu neutralisieren.
c) Herausforderungen an die Moralphilosophie: Ein Vorschlag der praktischen Philosophie, der keinen Maßstab der Kritik am Nationalsozialismus enthält, gilt als gescheitert.
d) Konstruktion von Gesellschaftsmodellen, aus denen sich der Nationalsozialismus als ein Exemplar konstruieren lässt.
Einfallstore für den Nationalsozialismus:
Traditionen, aus denen sich Problemstellungen ergeben, auf die der Nationalsozialismus Antwort ist.
Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf die Untersuchung von Krockow: Die Entscheidung, Frankfurt am Main: Campus 1990, Ersterscheinung 1958. Seine Untersuchung unternimmt eine Motivationsgeschichte voll Traditionen, die unter bestimmten Bedingungen in den Faschismus mündeten.
Ausgang ist der deutsche Historismus, der eine einflussreiche, umfassende Situationsinterpretation der Gebildeten im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert darstellte.
Alles ist relativ und geschichtlich bedingt. Es ist sinnlos, den Streit von Meinungen, die Konkurrenz von Lebensformen mit Bezug auf Kriterien lösen zu können, da diese selber bloß geschichtlich bedingt sind. Man kann mit Schnädelbach diese Position als historischen Relativismus bezeichnen. Er charakterisiert ihn „als eine philosophische Position, die mit dem Hinweis auf das historische Bedingtsein und die Variabilität aller kulturellen Phänomene absolute Geltungsansprüche – seien sie wissenschaftlicher, normativer oder ästhetischer Art - zurückweist, ja sie sogar als ungebildet einstuft“.
Der Relativismus wird begriffen als Reflexion beschleunigter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Die Industrialisierung löst alte Bindungen auf, macht sie als natürliche unglaubhaft. Vereinzelung, Spezialisierung rufen die Sehn sucht nach echten Bindungen hervor. Der Begriff „Gemeinschaft“ im Gegensatz zu Gesellschaft wird hochgespielt, wobei die Aufgabe besteht, das Gemeinsame herzustellen. Es wird protestiert gegen Sach- und Zweckbeziehungen, für unmittelbare und zweckfreie Bindungen, das „rechenhafte Denken“ ist ein Schimpfwort.
Relativismus und Gemeinschaftssehnsucht stehen sich kontraproduktiv gegenüber. Denn der Relativismus löst Bindungen tendenziell auf, durchschaut sie als konventionell und ersetzbar. Aus diesem Dilemma fand man folgende Wege:
Stichwort „Lebensphilosophie“
Es gibt tiefere Gemeinsamkeiten als die der Übereinstimmung in Meinungen oder Projekten. Unsere geschichtliche Bedingtheit verweist uns auf ein gemeinsames Substrat, das noch unterhalb der Sprache angesiedelt ist. „Lebensstrom, Lebenswelt, Sein sind Ausdrücke für ein solches unaussprechbares Band, das auch rassisch oder national interpretiert werden kann. Die Kategorie des gemeinsamen Lebens wird über die Vernunft- oder Sachbeziehungen gestellt.
Stichwort „Dezisionismus“
Der zweite Ausweg besteht in der Verabsolutierung des Freiheitsbegriffs, der es erlaubt, Bindungen jenseits von Begründungen und Verwurzelungen kreiert zu denken. Gerade darin, dass man sich unangeleitet von Überlieferungen und Zweckbeziehungen füreinander entscheidet, liegt der Wert von Beziehungen. Es ist geradezu das Gütezeichen souveräner Entscheidungen, dass sie grundlos sind, und d.h., dass sie sich weder von Prinzipien noch von Überlieferungen ableiten lassen. Gerade dies zeichnet die Entscheidung als subjektiv und frei aus. Es kommt also nicht darauf an, für was oder wen man sich entscheidet, sondern dass man sich bedingungslos entscheidet.
Wir haben als Traditionslinien also erstens den Historismus, der sich als eine merkwürdig gebrochene Figur darstellt: Man versteht sich radikal geschichtlich, behauptet, man könne nicht aus der Geschichte ausbrechen, und distanziert sich gleichzeitig von der Geschichte, indem man noch die eigenen Überzeugungen in ihrer Geltung relativiert. Der Historist betrachtet sich selbst aus der Sicht eines Beobachters, der zu erkennen glaubt, dass Überzeugungen nur in bestimmten geschichtlichen Kontexten gelten und dass es viele Kontexte gibt. Dabei wird der einzelne als Teil größerer historischer Lebenszusammenhänge verstanden.
Zweitens die Lebensphilosophie, die ein vorvernünftiges und vorsprachliches Band zwischen Menschengruppen postuliert.
Und schließlich drittens ein existentialistischer Dezisionismus, der die Herstellung von Gemeinschaft auf der Basis grundloser Entscheidungen idealisiert.
Diese drei Traditionsstränge werden aufeinander bezogen gedacht. Der Historismus ist ein Reflex auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, in denen Menschen aus traditionellen Bindungen freigesetzt werden. Lebensphilosophie und Dezisionismus werden als Antwort auf die sich daraus ergebenden Probleme gesehen. Man sucht nach der Rechtfertigung von Bindungen, die auf der Basis gemeinsamer Überlieferungen nicht mehr zu haben sind.
Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass diese Denkweisen nur in einer bestimmten politischen Interpretation in den Umkreis des Nationalsozialismus führen. Der Historismus führt nicht notwendig zu einem autoritären Staat, die Lebensphilosophie nicht notwendig zu völkischen und Rassen-Ideologien und Dezisionismus nicht zur Volksgemeinschaft.
Krockow führt die Entstehung des Historismus in Deutschland auf die Pattsituation zwischen Bürgertum und Adel zurück, die sich beide auf naturrechtliche Legitimationen bezogen. Aus dem Historismus wurde in Deutschland folgender einflussreicher Schluss gezogen: Da man nicht beurteilen kann, welche Ansicht die richtige ist, und diese sich antagonistisch gegenüberstehen, kommt es in letzter Instanz nicht auf Ansichten an, denn die sind relativ, sondern auf Selbstbehauptung, Machterhalt. Der Staat als dritte Kraft soll für Machterhalt und nationale Selbsterhaltung sorgen.
Diese machttheoretischen Folgerungen aus dem Historismus sind keineswegs zwingend. Die relativierenden Erfahrungen könnte man ebenso zur Ausbildung von Toleranzprinzipien und Respekt vor anderen führen. Auch ist nicht a priori einzusehen, warum Wahrheitsfragen und moralische Begründungen nicht innergeschichtlich gegeben werden können. Man kann nicht von vornherein wissen, dass es keine situationsübergreifenden Gemeinsamkeiten gibt, schon die Einsichten des Historismus selber gehören dazu.
Auch der lebensphilosophische Gedanke, dass es vorsprachliche Gemeinsamkeiten gibt, braucht nicht irrationale Konsequenzen zu haben. Man kann und hat das auch als erkenntnistheoretische Einsicht genommen, die auf vorbegriffliche Voraussetzungen jeder gesellschaftlicher Praxis aufmerksam macht. Erst die Idealisierung und phantasmagorische Aufladung des gemeinsamen Lebensstroms führt in eine völkische Richtung.
Schließlich wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn Intimbeziehungen auf einer dezisionistischen Basis gewählt werden. Niemand schuldet niemand gegenüber Rechenschaft, warum er jemanden liebt. Erst die Verlagerung des subjektiven, kriterienlosen Entscheidens auf die Ebene der Politik macht den Dezisionismus gefährlich.
Krockow untersucht vor allem die zuletzt genannte Denkfigur. Tugendhat hat den Spruch von Heideggers Studenten überliefert: „Wir sind entschlossen, aber wir wissen nicht wozu.“ In den 20er und 30er Jahren wird in Deutschland eine Situationsinterpretation einflussreich, die freie und ernsthafte Entscheidungen zum wichtigsten Merkmal menschlicher Existenz macht. Dabei geht es sowohl um eine Beschreibung als auch um eine Bewertung menschlicher Existenz. Derjenige ist bewundernswert (lebt „eigentlich“), der bewusst die Freiheit auf sich nimmt, die das Leben ihm zu ertragen aufgibt, und der angesichts dieser Freiheit seine Entscheidungen fällt. Das Auffällige dieses Entscheidungsbegriffs ist, dass er im Gegensatz zu einem begründeten Entscheiden eingeführt wird. Entscheidungen auf der Basis von Gründen gelten als nicht frei. Krockow nennt dieses Pathos des reinen Entscheidens, des Entscheidens unter Ausklammerung der Warumfrage „Dezisionismus“. Er zeigt, dass diese Strömung nach dem Ersten Weltkrieg flächendeckend in der Literatur Günger), der politischen Theorie (Schmitt) und der philosophischen (allgemeinen) Beschreibung menschlicher Existenz (Heidegger) einflussreich ist.
Es ist die These Krockows, dass hinter der Betonung des Begriffs absolut freier Entscheidung sich das Gegenteil verbirgt, nämlich die Flucht vor verantwortungsvollen Entscheidungen.
Der frühe Jünger verherrlicht den Kampf auf Leben und Tod und die Arbeit an sich. Im Ersten Weltkrieg und im Bolschewismus sieht er begeistert Ansätze neuer Menschen und Gesellschaften. „Im Tanz auf schmaler Klinge zwischen Sein und Nichtsein offenbart sich der wahre Mensch, da schmilzt seine Zersplitterung wieder zusammen in wenige Urtriebe von gewaltiger Stärke. Alle Vielheit der Formen vereinfacht sich zu einem Sinn: dem Kampf.“ Krockow kommentiert: „Es kann sich allerdings die Frage aufdrängen, ob die Verabsolutierung des Kampfes nicht einen paradoxen Hintersinn verbirgt: dem wirklichen Kampf, welcher die Entscheidung und damit die Gegner überhaupt erst zu Gegnern macht, auszuweichen.“ (46) Er zitiert Jünger: „Nicht wofür wir kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen.“ Krockow ergänzt: „Das Wofür ist nicht nur wesentlich, sondern es kommt darauf an, dass es überhaupt kein Wofür oder Wogegen, sondern einzig das einigende Wie des Kampfes gibt.“ (47)
Des Gegners im Krieg bedarf es, sonst käme ja kein Kampf zustande. Der wirkliche Feind für Jünger und Co. sind diejenigen, die diese Praxis von außen beurteilen, die nach der Berechtigung und dem Sinn des Kampfes fragen. Für das heroische Bewusstsein ist klar, dass der Sinn des Krieges aus ihm selbst erwächst.
So wie Jünger den Krieg von einem Mittel zu einem Zweck an sich hypostasiert, verkehrt er auch die Arbeit zu einer Aufgabe, die nicht begründungsbedürftig ist. Die Gesellschaft wird nach dem Bild einer präzisen Maschine gedacht, der die Arbeiter dienen, sie werden als Mittel der Selbsterhaltung eines übermenschlichen Organismus, dessen Reproduktion und Machtfülle verherrlicht wird. Die Frage nach dem Wozu aus der Sicht des einzelnen wird als „Hochverrat des Geistes gegen das Leben“ abgetan. Für Krockow ist diese Ästhetisierung von Arbeit und Kampf intellektueller Masochismus, die Flucht vor der Freiheit, das gesellschaftliche und das eigene Leben selbst zu bestimmen. Jünger stellt den Menschen in Situationen, die Entscheidungen klar vor schreiben, wie der Kampf ums Leben im Krieg und die Arbeit, die eine Bedienung von Maschinen notwendig macht. Er ästhetisiert und totalisiert diese Situationen als Gesellschaftsmodelle.
Carl Schmitt:
Zwingende Notsituationen, in denen man sich entscheiden muss, sind auch im Zentrum des Denkens von Carl Schmitt, dessen politische Theorie für Krockow ein weiteres Beispiel von Dezisionismus ist. Für den Staat ist der Notstand die Ausnahme, die sich nicht mehr unter Rechtsregeln subsumieren lässt, die existentielle Situation, in der die Machthaber ohne Vorgabe frei zu entscheiden haben. Der Notstand ist der Ernstfall im Sinne der Stunde der Wahrheit. Er ist der Offenbarungseid der staatlichen Macht. Denn wer dann regiert, hatte latent die Macht auch schon vorher. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Wer in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, entscheidet, der hat die Macht. Erkenntnistheoretisch leuchtet der Ausnahmezustand als Kriterium, das enthüllen soll, wer latent immer schon die Herrschaft ausübt, nicht ein. Dass demokratische Selbstgesetzgebung Notsituationen häufig nicht überlebt, bedeutet keineswegs, dass sie schon immer illusionär war. Komplexe Entscheidungsprozeduren können sich in Notsituationen als dysfunktional erweisen. Auch mag es Zuspitzungen geben, in denen Grundrechte verletzt werden, in denen gesellschaftliche Gruppen ums Überleben kämpfen. Aber all dies macht nicht auf die Enthüllungsfunktion, sondern auf die Veränderung politischer Strukturen in Ausnahmesituationen aufmerksam.
Dass sich im Ausnahmezustand enthüllt, wer die Macht hat, leuchtet nur vor der von Schmitt gemachten Annahme ein, dass Gesellschaften, wenn sie nicht durch staatliche Zwangsmaßnahmen integriert und bedroht würden, permanent im Bürgerkrieg sich befänden, und dass auch zwischen Staaten niemals Frieden, sondern höchstens Waffenstillstand herrscht. Für Schmitt werden Begriffe wie Freund und Feind zu politischen Schlüsselkategorien: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf die sich politische Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Der Begriff des Politischen). Schmitt versichert, dass „die Begriffe Freund und Feind in ihrem konkreten, existentiellen Sinn zu nehmen sind, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen (30).1 Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Krockow fragt mit Recht, wie man denn herausfindet, wer der Feind ist. Die Entscheidung wird bei Schmitt nach dem Muster der Schöpfung aus dem Nichts betrachtet, denn man darf sich nicht auf Normen berufen, um sich die Entscheidung nicht abnehmen zu lassen. (Krockow 56)
Kein Programm, kein Ideal, keine Norm und keine Zweckhaftigkeit verleiht ein Verfügungsrecht über das physische Leben anderer Menschen. [...] der Krieg, die Todesbereitschaft kämpfender Menschen, die physische Tötung anderer Menschen, die auf der Seite des Feindes stehen, alles das hat keinen normativen, sondern nur einen existentiellen Sinn, und zwar in der Realität einer Situation eines wirklichen Kampfes ... (49)
Erst in der Aktion, im Kampf bestimmt sich, wer wirklich der Feind ist. Damit nimmt er eine Praxis der Nazis und auch des Stalinismus vorweg, die Arendt als totalitäres Denken charakterisiert. Es ist ein Denken, das sich die Macht an maßt, durch Handeln zu bestimmen, was wahr ist. Wer Feind ist, leitet sich daraus ab, wer verfolgt wird. So wurde, wie der Historiker Peukert bemerkt, „durch den Einsatz von Millionen ausländischer Arbeiter die völkische Hierarchisierung von Herrenmensch und Untermensch zum Strukturmerkmal der Alltagserfahrung“. Dass etwas wahr ist, zeigt sich daran, dass Handlungen stattfinden, die voraussetzen, dass die als wahr erklärten Annahmen stimmen. Dieses totalitäre Denken, das sich der Macht der Lenkung von Überzeugungen von Menschen durch Handeln und Gewalt anmaßt, erklärt die Rolle von Mythen in faschistischen Bewegungen. Es geht darum, Kraft auf einen Feind zu konzentrieren, egal, ob es ihn gibt. Wenn nicht, muss man ihn eben erfinden. Denn Ziel ist nicht Objektivität, sondern die Organisierung und Stärkung des Kampfwillens gegen einen Gegner, der sich erst in seiner Verfolgung als wirklicher Gegner entpuppen wird. Böhler bemerkt mit Recht, dass ein wichtiges Anschlussmotiv Schmitts an die Nazis der Glaube war, dass 1933 „dem rassistisch-nationalen Mythos die größte Homogenisierungs- und Feindausscheidungskraft zuzusprechen war“ (Böhler 187).2
Kritik am Dezisionismus
Es stimmt, dass eine Entscheidung dann unfrei wäre, wenn sie aus einem Programm, einer Norm ableitbar wäre. Aber wenn Programme, Normen, Fragen der Gerechtigkeit Entscheidungen nicht mehr begründen, werden sie willkürlich. Kein Programm kann mich dazu verpflichten, für etwas zu sterben. Hinzukommen muss, dass ich bereit bin, für etwas zu sterben. Und dies sollte in meine freie Entscheidung gestellt werden. Aber Entscheidungen wird ihr Sinn entzogen, wenn Ideen, Normen, Prinzipien sie nicht begründen. Diese Kritik, die Tugendhat an Heidegger geübt hat, der auch in „Sein und Zeit“ den Begriff der Selbstbestimmung als Entscheidung zwischen Möglichkeiten auffasst, die durch keine Richtigkeitsstandards zu bewerten sind, trifft auch auf Schmitt zu.3
Allerdings geht es bei Schmitt nicht wie bei Heidegger um Entscheidungen des einzelnen, sondern des Staates, der allerdings nach dem Muster eines Subjekts konstruiert wird. Der Unterschied ist, dass man die Entscheidungen des einzelnen noch als Privatsache hinstellen kann, während die staatlichen Entscheidungen sich durch ihren Zwangscharakter auszeichnen. D.h. wenn Repräsentanten des Staates existentiell den Ernstfall ausmachen, werden Staatsbürger gezwungen mitzumachen.
Der nüchterne und zugleich expressive Sprachgestus von Schmitt, in Verbindung mit radikalen, zu Pointen verdichteten Thesen, die kaum begründet werden, lädt den heutigen Leser ein, Schmitt wie Literatur zu lesen. Man kann seine politische Theorie wie eine Geschichte lesen, die einem als Vorschlag, politische Verhältnisse zu begreifen oder gar als Anwendungsanleitung befremdlich vorkommt. Der abstrakte Wille, der existentiell mit Freund/Feind Unterscheidungen geladen wird, erscheint uns schlicht absonderlich, als nichts, worüber man politisch ernsthaft diskutieren könnte. Denkmuster sind dann wirklich passe, wenn sie so absurd sind, dass einem keine Widerlegung mehr einfällt.
Brückenschlagende Interpretationen: die Wissenschaft
(1) Während man von den bisher vorgestellten Denkweisen vielleicht sagen kann, sie hätten sich als politische Ideen überlebt, komme ich nun zu den brückenschlagenden Interpretationen des Nationalsozialismus. Im Großen und Ganzen geht es mir hier um das Verhältnis von Nationalsozialismus und Begründung. Unter „Begründung“ fallen alle begründeten Wahrheitsansprüche, also Wissenschaft, aber Begründungen werden auch versucht in Bezug auf unser Verhältnis zu anderen, also moralische Begründungen. Es geht also sowohl um das Verhältnis des Nationalsozialismus zu den Wissenschaften als auch zur moralischen Reflexion. Diese Beziehung hat mannigfaltige, zum Teil gegensätzliche Interpretationen erfahren: die These (der Dialektik der Aufklärung) ist, dass Begründung nichts anderes leisten kann, als das Mittel, bestimmten Zwecken zu genügen. Wenn Moralvorstellungen ihrer theologischen Stütze beraubt werden, können sie wegen der eingeschränkten Leistungsfähigkeit der instrumentellen Vernunft nicht begründet werden. Damit bleiben sie in der Luft, werden zu subjektiven Glaubensartikeln und verlieren an Widerstands kraft gegen egoistische Ideologien, die Gruppen privilegieren auf Kosten von anderen. Der moralische Standpunkt, der nach dem fragt, was gut für alle ist, wird zu einem unter anderem, dem kollektive egoistische Zwecksetzungen gegenüberstehen. Die instrumentelle Vernunft liefert beliebigen Zwecksetzungen Erfüllungsstrategien.
(2) Der Nationalsozialismus ist eine wissenschaftliche Moral, die versucht, auf der Basis einer Wissenschaft vom Menschen die beste menschliche Ordnung herauszufinden und sie mit technischen Mitteln herzustellen. Die Grundlage seiner Rassenpolitik ist ein bestimmter Diskurs der Humanwissenschaft, der die Trennung von wertem und unwertem Leben begründet (Peukert)4 und Strategien für Maximierung von wertvollem und die Minimierung oder Liquidierung von unwertem Leben herstellt. Dieses Programm funktioniert auf der Basis einer Überstrapazierung von moralischer Reflexion, die moralischen common sense zugunsten von ideologischen Weltverbesserungsvorschlägen außer Kraft gesetzt hat (Lübbe).5
(3) Das Gefährliche an diskriminierenden Denkweisen der Nazis war gerade nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an moralischer Reflexion. Gerade die Blockierung moralischer Reflexion, die durch historistische und dezisionistische Denkweisen intellektuell vorbereitet wurde, ist charakteristisch für den Nationalsozialismus. Gerade die Aufwertung von Volksempfinden an der Stelle von Gerechtigkeitsüberlegungen zeichnete deutsche Bewusstseinslagen damals aus. (Apel)
Das Gefährliche an diskriminierenden Denkweisen der Nazis
war gerade nicht ein Zuviel,
sondern ein Zuwenig an moralischer Reflexion.
Massenvernichtung und Wissenschaft als Ideologie
Der Historiker Peukert hat die These aufgestellt, dass der Vernichtungspolitik der Nazis ein bestimmtes Verständnis und Zusammenwirken von Humanwissenschaften und Staat zugrundeliegt. Diese Hypothese ist insofern brisant, als die Idee, dass wissenschaftlich angeleitete Reformprojekte das menschliche Los verbessern können, zur Idee des Sozialstaats gehört, die für uns noch immer verbindlich ist. Staatliche Erziehungspolitik, staatliche Risikoversicherungen, Krankenfürsorge, Sozialfürsorge sind nicht mehr wegzudenken aus unserer Welt. Was ist falsch oder gefährlich an diesen Ideen? Wieso kann man wie Peukert behaupten, dass unter bestimmten Umständen „aus der massenbeglückenden Utopie des humanwissenschaftlichen und sozialreformerischen Sieges über Armut, Unwissenheit, Krankheit und Tod die massenvernichtende Utopie der rassistischen Reinigung des Volkskörpers durch die „Ausmerze von minderwertigem Leben“ wurde (Peukert 39)?
Man kann die Idee Peukerts am besten vor dem Hintergrund konservativer Zeitdiagnosen verstehen. Für den Philosophen Marquard beginnt die Neuzeit im achtzehnten Jahrhundert mit dem „Prozess der Menschen gegen Gott in Sachen Übel in der Welt“. Wenn Gott weise ist und gütig, warum gibt es dann Übel? Selbst wenn man beweisen könnte, dass Übel notwendig sind, um Gute zu schaffen, bleibt die Frage, warum Gott, wenn er Übel schaffen musste, es nicht überhaupt bleiben ließ. Gott wird in dem Prozess unschuldig wegen Nichtexistenz gesprochen. Aber die Rechtfertigungsfrage - wozu ist es gut dass etwas und nicht nichts existiert? - überlebt Gott. Der Mensch wird belangbar für die Übel in der Welt. Die Folge sei, so Marquard, eine „Übertribunalisierung der menschliche Lebenswirklichkeit“: Fortan gerät der Mensch wegen der Übel vor ein Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist - unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationszwang.“ (Marquardt 49)6 Dieser gnadenlose Rechtfertigungsdruck sei unlebbar. Es kommt daher zu Flucht-, Entlastungs- und Kompensationsreaktionen. Flucht meint die Konstruktion von Enklaven, in denen man unbelangbar ist, so in der Sphäre der Ästhetik, „über Geschmack kann man nicht streiten“, oder im Kult des Individuellen oder in der These, dass man sich in die Privatsphäre nicht einmischen soll. Belangen kann man Menschen auch nur in den Grenzen, in denen er sich verändern kann; die philosophische Anthropologie versprach durch das Studium der menschlichen Natur eine grenzenbestimmende Entlastung. Eine weitere Technik der Entlastung nennt Marquard die Entübelung des Übels, indem man z.B. im Leid eine Chance entdeckte oder den Irrtum als lebensdienliche Fiktion interpretierte. Kompensationsfunktion hat die Kunst, wenn sie Übel ästhetisch verzaubert. Kompensation, Entlastung und Flucht in die Unbelangbarkeit hält Marquard für angemessene menschliche Reaktionen, um mit den Übeln der Welt auf säkulare Weise fertigzuwerden. Für gefährlich hingegen hält er weltliche Erlösungsideen, wenn Menschen Utopien entwickeln, um mit ihren Leiden fertigzuwerden. Denn er ist der Überzeugung, dass man das menschliche Los nur in geringem Maß verbessern kann; daher beginnen die Menschen, die die Tribunalisierung der Wirklichkeit akzeptieren, nach Schuldigen zu suchen. Sie flüchten schließlich angesichts des Scheiterns revolutionärer Projekte vor dem Schlechten-Gewissen-Haben in das Gewissen-Sein. Anstatt sich vor dem Tribunal zu verantworten, machen sie sich selber zum Tribunal und verurteilen andere für das Missglücken der Abschaffung von Leid.
Peukert sieht nun in den sozialreformerischen Projekten des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts das Versprechen, mit wissenschaftlichen Mitteln mit dem menschlichen Leid fertigzuwerden. Peukert meint, dass um die Jahrhundertwende der Glaube an die Wissenschaft, dass sie das Leben in allen Bereichen verbessern könnte, massenhaft um sich griff. Dabei orientierte man sich am Muster der Medizin, die eine Erfolgsgeschichte in der Bekämpfung von Seuchen und der Hinausschiebung des Sterbealters hinter sich hatte. „Psychologie und Pädagogik versprachen analog zu naturwissenschaftlicher Krankheitsbekämpfung eine wissenschaftliche Persönlichkeitsdiagnose und Therapie, die Unwissenheit und soziale Unangepasstheit beseitigen werde“ (Peukert 28). Man hoffte auch, die soziale Frage durch Erforschung biologischer und gesellschaftlicher Ursachen lösen zu können. Die Geschwindigkeit industriellen Wandels und die Verdrängung von Tod und Krankheit aus dem Alltag führten zu einem Jugendkult, der Verherrlichung schöner athletischer Körper und der Utopie, durch ein naturwissenschaftliches Verhältnis zu Körper und Ernährung Alters und Verfallsprozesse verhindern zu können. Das gesellschaftliche Ideal beschied sich nicht mehr bloß mit der Heilung von Krankheiten, sondern sozial hygienische Maßnahmen und Erziehung waren zum Gutteil auf die Verhinderung der Entstehung von Leid gerichtet.
Sozialreformerische Projekte wie die Schaffung von Einrichtungen zur Prävention von Krankheiten richten sich nur vermittelt auf einzelne. Zum Gegen stand der Medizin wird nicht mehr bloß der Körper des einzelnen, sondern ebenso die Gesellschaft. Hier sieht Peukert ein Einfallstor für irrationale Tendenzen angelegt: die Verdoppelung des Gegenstands der Medizin in den individuellen und den Volkskörper. Was er meint, verstehen wir erst, wenn wir den Theodizeegedanken auf die Wissenschaften anwenden, wenn man also statt Gott die Wissenschaften vor die Anklage stellt, die Welt zu rechtfertigen. Peukert nennt diese Rechtfertigungsfrage, die sich aus der Ideologie in die Allmacht der Wissenschaft speist, Logodizee. Um der Dementierung ihrer Allmacht durch individuellen Tod, Krankheit und Verfall zu entgehen, erweitert die Humanwissenschaft ihren Gegenstand vom einzelnen zum Volkskörper. Ihm lässt sich ewiges Leben zusprechen.
Um den Triumph der Wissenschaft angesichts von Enttäuschungen erhalten zu können, kommt es für Peukert zur entscheidenden irrationalen Weichenstellung, der Loslösung des Objekts der Reform vom einzelnen, der Verlagerung der Projekte auf das gesellschaftliche Gesamtsubjekt. Peukert führt diesen Gedankengang folgendermaßen ein.
Wie rechtfertigt sich das rationale Glück der größten Zahl in diesseitiger Vollkommenheit vor der Tatsache, dass es in jedem Einzelfall durch Krankheit, Leid und Tod dementiert wird? Dieser Grenzerfahrung ist mit innerwissenschaftlicher Rationalität nicht endgültig beizukommen, solange es der Wissenschaft nicht gelungen ist, den Tod abzuschaffen. Folgerichtig treibt die Logodizee der Humanwissenschaften diese in die Irrationalität. Sie muss sich in die Utopie der schrittweisen Eliminierung des Todes verrennen, die durch den Lebensgang jedes einzelnen Individuums immer neu falsifiziert wird. Der naheliegende Ausweg ist die Verdoppelung des Objekts der Humanwissenschaft in den vergänglichen Einzelkörper und den potentiell ewigen Volkskörper. Nur an diesem und besonders an dessen materiellem Ewigkeitssubstrat, dem Erbcode, bewährt sich der unvergängliche Triumph der Wissenschaft. (Peukert 32 f.)
Wenn man, wie im Nationalsozialismus, den Volkskörper zum Objekt der Humanwissenschaft macht, bekommt der Tod als Heldentod und „Ausmerze“ Sinn, weil er „der Pflege und Verbesserung des ewigen Volkskörpers dient“. KZ-Experimente, Euthanasie, Kriminalbiologie sind danach doppelt gerechtfertigt. Erstens „treffen sie nur 'unwerte', zweitens aber bewirken sie das Glück zukünftiger gesunder und normaler Glieder des Volkskörpers“ (34).
Ich komme nun zur Kritik an diesem Ansatz. Was ist von Peukerts These zu halten, dass eine Linie von Humanwissenschaft und Sozialreform zur Massenvernichtung führt?
Verschiedene Punkte erscheinen mir problematisch: Peukert hat einen höchst verschwommenen Begriff von Humanwissenschaften, der nicht zwischen Wissenschaft als Mythos und Wissenschaft, die es mit Wahrheitsansprüchen und Erklärungen zu tun hat, unterscheidet. Die Aussage, dass die Vernichtung als Maßnahme zur Heilung einer Krankheit des Volkskörpers verstanden wird, ist empirisch in einem solchen Maße gehaltlos, dass kein noch so laxer Begriff von Wissenschaft solche Aussagen subsumieren könnte, zumal die Nazis nicht einmal Identifikationsmerkmale der Krankheit bereitstellten. Wenn es hier etwas zu erklären gibt, dann eher die Unwissenschaftlichkeit des Vorgehens der Nazis. Wie kann man in einer wissenschaftlichen Welt Menschengruppen industriell umbringen, ohne in einer empirisch irgendwie gehaltvollen Weise begründen zu können, wozu das gut ist?
Peukert stellt die Verbindung zwischen sozialreformerischen Projekten und der Vernichtungspolitik über zwei Operationen her. Beide sollen in die Zielvorstellung münden, dass das Objekt der Behandlung der Menschen und der Humanwissenschaften der Volkskörper wird. Tod und Krankheiten von einzelnen interessieren nur soweit, als sie die Gesundheit des Volkskörpers oder der Rasse betreffen. Die erste Operation betrifft politische, sozialreformerische Projekte wie auch die Soziologie als Ganzes. Es ist dies die These, dass sich diese Praxis und Wissenschaft nur indirekt auf einzelne und in erster Linie auf gesellschaftliche Institutionen bezieht. Peukert glaubt, dass z.B. in dem Paradigma der Sozialhygiene, die zuständig für Präventionsmaßnahmen gegen Krankheiten war, schon die Verschiebung vom individuellen Körper zum Volkskörper angelegt ist. Wie wenig einleuchtend dieser Schritt ist, kann man sich daran klarmachen, dass auch ein Gesellschaftsideal und eine Gesellschaftstheorie, die die subjektiven Freiheitsrechte maximieren möchte, gesellschaftliche Institutionen zum Gegenstand hat. Die Frage einer solchen Gesellschaftstheorie lautet, wie muss eine Gesellschaft eingerichtet sein, um einen möglichst weitgehen den Schutz der Persönlichkeit zu realisieren? Damit wird die These, dass gesellschaftliche Reformprojekte überhaupt etwas mit dem „Volkskörper“ zu tun haben, widerlegt und der zweite Schritt mit der These, dass eine Medizin mit dem Tod fertigwerden kann, wenn sie als Objekt den Volkskörper und nicht mehr den einzelnen behandelt, muss auf eigenen Beinen stehen. Und hier stellt sich dann wieder die Frage nach der Unterscheidung von Mythos und Wissenschaft, die Frage, was unter „Volkskörper“ zu verstehen ist und ob man sich überhaupt bemüht hat nachzuweisen, wie sich Rasse und genetischer Code zueinander verhalten, denn dieser wird (von Peukert) als materielles Substrat rassistischer Theorien identifiziert.
Das zweite Problem mit dem Ansatz von Peukert sehe ich in dem Verhältnis von Normen und Wissenschaft. In Sozialreformen gehen Wertungen ein, eben so in die Unterscheidungen zwischen höheren und minderwertigen Menschen. Wenn man einmal annimmt, man könne Humanwissenschaften ohne Wertungen nicht betreiben, so stellt sich das Problem, wie kommt man zu Wertungen. Und wiederum wäre es die primitive Anforderung an Wissenschaftlichkeit, zu begründen, warum man bestimmte Wertungen vornimmt.
Die Rassenwissenschaft leitet ihre Wertungen metaphorisch aus der Biologie ab. Die Unterscheidung zwischen Höher- und Niedrigwertigem, die zu den Projekten der Nazis führen, werden gerade nicht begründet, sondern einem künstlich-natürlichen Substrat entnommen. Damit entfällt aber wie bei den theoretischen Ansprüchen auch hier die Verbindungslinie zu reflektierten sozialwissenschaftlichen Projekten.
Nationalsozialismus und Moral
Ich will nun über Peukert hinaus nach dem Verhältnis von Nationalsozialismus und Moral fragen, wie es sich für die deutsche Nachkriegsphilosophie darstellt Vermutlich die Ausnahme bilden Philosophen wie der berühmte Anthropologe Gehlen, dessen „Moral“ - ich meine sein Buch „Moral und Hypermoral“ - völlig unberührt von dem NS-Geschehen blieb. Er unterscheidet zwischen einem Ethos der Institutionen des Staates und einem familienbezogenen ethischen Verhalten des Altruismus und der gegenseitigen Hilfe. Die beiden Ethiken befinden sich in unlösbaren Konflikten, wobei für das Individuum immer die Interessen der wie auch immer erweiterten Familie unmittelbar einleuchten. Der Konflikt zwischen Institutionenmoral, für die der Selbstbehauptungswille des Staates das oberste Gebot ist, und Familienmoral lässt sich nur durch Treuepflicht zu den Institutionen lösen. Humanismus ist für Gehlen die ungebührlich erweiterte Familienmoral und eine Gefahr für die Gesellschaft, weil er die Institutionen zersetzt. Das Symbol des eingezogenen Soldaten mit dem Baby auf dem Arm ist für Gehlen ein Symbol dafür, dass die Stunde des Staates geschlagen hat.
Wenn man sagt, der Dienst an den Institutionen sei die „Entfremdung“, so ist das ganz richtig, aber diese Entfremdung ist die Freiheit, nämlich die Distanz zu sich selbst und zu dem, was sich zufällig im Herzen abgelagert hat, wenn diese lange genug den Meinungsmachern ausgeliefert waren. Man mag verpflichtet sein, die Meinung anderer zu achten, aber selbst welche zu haben ist ein Laster, denn sie sind es, mit denen angebbare Kreise die Auflösung der Institutionen legitimieren ... (Gehlen 75)
Wie bei Schmitt bedeutet für Gehlen Kritik an Institutionen immer das Aus spielen von Privatinteressen gegen die Institutionen und den Staat, die die Sicherheit des einzelnen und nationale Selbstbehauptung (Gehlen 119) verteidigen. Er anerkennt keinen moralischen Diskurs, der Kritik an Institutionen übt. Zwar empfindet er den Nationalsozialismus als Schande, aber seine Moraltheorie stellt keinen Maßstab der Kritik an ihm zur Verfügung. Sie gibt keine Gründe an die Hand, die befugten, den nationalsozialistischen Institutionen Widerstand entgegenzusetzen. Für ihn ist „der jedermann zugängliche Weg zur Würde (... ), sich von Institutionen konsumieren zu lassen“, mit einem Wort: Dienst und Pflicht. Bitter notiert er, dass dieser Satz, „vor Studenten geäussert, der blanken Verständnislosigkeit begegnete“ (ebd. 160).
Gehlen zog keine Schlüsse aus der moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus. Wenden wir uns nun Philosophen zu, die solche Schlüsse zogen. In den Positionen von Lübbe und Apel stehen sich zwei gegensätzliche Positionen gegenüber. Lübbe denkt, dass die NS-Verbrechen durch ein Zuviel an moralischer Reflexion möglich wurden. Ideologische Rechtfertigungen dienten bei den Mitläufern der Rationalisierung einer opportunistischen Praxis und setzten traditionelle Sittlichkeit, moralischen common sense ausser Kraft.7 Lübbe nennt seinen Essay den Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Dagegen sieht Apel im Nationalsozialismus gerade ein Beispiel dafür, wie wandlungsfähig common sense, „gesundes Volksempfinden“ sein kann. Gerade die Tradition des Sich-Verlassens auf Ethos und moralisches Gefühl, die Auffassung des Gewissens als etwas, um mit H. Arendt zu reden, das sozusagen automatisch funktionierte, und zwar so, als ob wir über eine Reihe von erlernten oder angeborenen Regeln, die wir immer dann, wenn es sich ergibt, anwenden, so dass jede neue Situation bereits im vorhinein beurteilt ist und wir dann nur das auszuführen brauchen, was uns zuvor schon eigen war oder was wir erlernt haben; gerade das Sich-Verlassen auf moralischen common sense als know how ist das, was der Nationalsozialismus für Arendt und Apel erschüttert. „In dieser Hinsicht kann uns der totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten Gesellschaft während des Hitler-Regimes lehren, dass es sich bei denen, auf die unter Umständen Verlass ist, nicht um diejenigen handelt, deren Werte lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und Maßstäben festhalten; man weiß jetzt, dass sich das alles über Nacht ändern kann, und was dann noch übrigbleibt, ist die Gewohnheit, an irgend etwas festzuhalten (69). Apel und Arend glauben, dass es gerade das Fehlen des Zweifels an dem, was legitim war, das Fehlen einer Öffentlichkeit in der praktischen Frage, in denen es darum geht zu begründen, wie zwischenmenschliche Verhältnisse einzurichten sind, dass also gerade das Fehlen von moralischer Reflexion der rassistischen Ideologie zum Durchbruch verhalf.
„Wie, wenn nicht durch Reflexion,
soll man die Gefahr totalitärer Ideologien bannen?“
Sehen wir uns zuerst die Position an, der Nationalsozialismus habe Rassismus und Vernichtungspolitik durch ein Zuviel an moralischer Reflexion durchsetzen können, die traditionellen Maßstäbe dessen, was erlaubt oder verboten war ausser Kraft gesetzt haben. Empirisch ist zuzugeben, dass viele Elemente der Naziideologie traditionellen Moralvorstellungen widersprachen; z.B. die Vorstellung, dass man Probleme durch die Ermordung ganzer Völker lösen dürfe, gehört zu den in keiner Tradition auffindbaren Elementen. Zitiert werden in diesem Zusammenhang immer die Geheimreden Himmlers an die SS, der „denjenigen SS-Angehörigen seinen Respekt ausdrückt, die nun pflichtmäßig tätig würden, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen“ (Lübbe 1 ) oder der Mördern Anerkennung zuspricht: „Von euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen zusammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen“ (ebd. 17), „dies durchgehalten und dabei ... anständig geblieben zu sein, das sei ein niemals geschriebenes und niemals zu schreiben des Ruhmesblatt unserer Geschichte“ (ebd. 18). Man wird Lübbe zustimmen, dass diesen ideologischen Fanatikern ein Konflikt mit der konventionellen Moral bewusst war, dass sie sich im Namen ihrer Ideologie über eigenes moralisches Gefühl hinwegsetzten. Schon die Geheimhaltung der Vernichtungspolitik spricht für das Bewusstsein einer selbsternannten Elite, die sich bewusst im Konflikt mit gängigen Moralvorstellungen zu sein. Allerdings spricht die Geheimhaltung auch gegen Lübbes These, dass die Nazis den common sense durch ihre Ideologie oder neue Moral ausser Kraft gesetzt haben. Es ist zu fragen, ob nicht das Verständnis der Geschichte als naturgeschichtlicher Rassenkampf um Herrschaft und Überleben zum common sense gehört hat. Zumindest könnte es sein, dass sich diese Ideologie mit ihren diskriminierenden praktischen Folgen aus Nationalismus, Dezisionismus, autoritären Vorlieben und Wissenschaft als Ideologie entwickelt hat.
Was auch immer empirisch an diesem Einwand daran ist, er macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, überhaupt zu identifizieren, was moralischer common sense ist. In der Modeme kommt es zu beschleunigten Veränderungen Auflösungen von Traditionen, auch der Nationalismus ist uns ja erst aus dem neunzehnten Jahrhundert überliefert. Es stellt sich die Frage, ob wir überhaupt noch auf einen festen traditionellen moralischen Traditionsbestand rekurrieren können, von dem aus man dann empfehlen könnte: wir sollten den postkonventionellen Versuchungen seiner Überwindung uns widersetzen, weil das totalitäre Konsequenzen habe. Die Frage ist, ob wir auf der individuellen, politischen oder gar Weltebene nicht - ob wir wollen oder nicht - vor Fragen der Orientierung stehen, die begründungsbedürftig erscheinen. Wenn dies stimmt, wäre die These, dass im Nationalsozialismus der moralische common sense durch ideologische Rechtfertigungen außer Kraft gesetzt wurde und dass es gelte, zur Normalität zurückzukehren, schon vom Ansatz her falsch, da uns fraglos moralische Traditionen, die es vor Reflexion zu bewahren gäbe, gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Die erste Frage an Lübbe ist also: Gibt es überhaupt den moralischen common sense, den er vor Begründung bewahren möchte? Die zweite Frage ist, wenn es ihn gibt, sollten wir ihn schützen? Wie, wenn nicht durch Reflexion, soll man die Gefahr totalitärer Ideologien bannen? Zumindest als Theoretiker hat man hier keine Alternative, und Lübbe trägt, ob er es will oder nicht, zu dieser Reflexion bei. Aber dies einmal beiseite. Die These, dass die Nazis ihre Verbrechen durch ein Zuviel an moralischer Reflexion rechtfertigen konnten, hat nur dann einen Anschein von Plausibilität, wenn man Reflexion von allen kognitiven Ansprüchen abschottet, was mir wie ein Widerspruch in sich erscheint. Erinnern wir uns an das zitierte Himmler-Zitat, in dem er sagt, „wir bringen um, die uns umbringen wollten“. Es ist offensichtlich, dass die Juden den Deutschen niemals nach dem Leben getrachtet haben. Lübbe stellt richtig die Abschottung totalitärer Ideologien gegen die Prüfung ihrer Argumente dar. Wir lesen: „Der Widerspruch anderer gegen das, was man selber als wahr erkannt hat, hat nicht Argumentcharakter; er hat vielmehr die Bedeutung eines Indikators der Nichtzugehörigkeit des Widersprechenden zum eigenen rassen- oder klassentheoretisch identifizierten Lager“ (Lübbe 21). Man kann nicht den Nazis einerseits eine Überstrapazierung moralischer Reflexion zuschreiben und andererseits konstatieren, dass sie keinen Widerspruch duldeten.
Zu fragen ist zuletzt, ob immer auf den moralischen common sense Verlass sei. Wenn mit moralischem common sense moralische Gefühle gemeint sind, so sind diese in Gerechtigkeitsfragen häufig schlechte Ratgeber. Denn sie tendieren dazu, Menschen, mit denen wir befreundet sind, zu privilegieren, von Sachverhalten, bei denen wir Augenzeugen sind, mehr affiziert zu werden als von entfernteren. Ich zweifle, dass wir in solchen Konflikten uns auf tradierte Regeln zurückziehen sollten. Anstelle dessen sollten wir versuchen, in praktischen Diskursen zu klären, ob es richtig ist, Fremde unter zu privilegieren, ob man gegenüber unterschiedlichen Lebensformen tolerant sein sollte etc.
Ich fasse zusammen: Ich bezweifle, dass wir eine Alternative haben zur moralischen Reflexion. Zweitens, dass die totalitären Ideologien nur in einer sehr rudimentären Form moralische Reflexion praktizierten, indem sie Moral, Gefühl und Konvention außer Kraft setzten, aber sie taten dies nicht auf der Basis von Gerechtigkeitsprinzipien, sondern unter Inanspruchnahme einer unausgewiesenen Einsicht in den notwendigen Gang der Geschichte, die irrational als Kampf zwischen Rassen um die Vorherrschaft aufgefasst wurde.
Anmerkungen
1 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Berlin 1963.
2 Dietrich Böhler, „Die deutsche Zerstörung des politisch-ethischen Universalismus“, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins: Chance oder Gefährdung, Frankfurt am Main 1988.
3 Ernst Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main 1979, S. 242 f.
4 Detlev J.K. Peukert, „Die Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaft“, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins: Chance oder Gefährdung, Frankfurt am Main 1988.
5 Hermann Lübbe, „Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins: Chance oder Gefährdung, Frankfurt am Main 1988.
6 „Der angeklagte und der entlastete Mensch“, in 0. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981.
7 Hermann Lübbe, Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987.
Erstellungsdatum: 18.11.2025