Der kenianische Romancier, Essayist und Dramatiker Ngũgĩ wa Thiong’o, Träger des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises der Stadt Osnabrück, ist mit 87 Jahren am 28. Mai 2025 gestorben. Er zählt zu den wichtigsten Autoren des afrikanischen Kontinents, war Ehrendoktor der Universitäten von Yale und Bayreuth und sein vielfach in Kikuyu verfasstes, jedoch weltweit übersetztes Gesamtwerk wurde für den Man Booker International Prize nominiert. Manfred Loimeier, der als Professor der Universität Heidelberg Afrikanische Literaturen englischer Sprache lehrt, würdigt den Grandseigneur der Weltliteratur.
Der 1938 geborene Ngũgĩ wa Thiong’o gab sowohl durch seine Person als auch durch sein Werk ein Beispiel für seine Generation afrikanischer Intellektueller: aufgewachsen voller Bildungshunger, erzogen im christlichen Geist, geprägt von den Idealen der Aufklärung, der Freiheit und der Demokratie. Und dann die Ernüchterung – sei es durch den Materialismus des Westens, den Dogmatismus des Ostens oder den Neokolonialismus afrikanischer Regimes.
Ngũgĩ wa Thiong’o hat dies alles selbst durchlebt, war zunächst Professur für englische Literaturwissenschaft in Nairobi, weckte mit einem Theaterstück, das der Landbevölkerung politische Aufklärung und demokratische Rechte vermittelte, den Argwohn der Staatsmacht und wurde verhaftet. Sein Gefängnistagebuch „Kaltgestellt“ machte ihn 1981 – vergleichbar mit dem nigerianischen Literaturnobelpreisträger von 1986, Wole Soyinka – international bekannt. Es folgten Jahre des Exils, zunächst in Großbritannien, dann in den USA. Bis zu seinem Tod hat dieses Exil für Ngũgĩ wa Thiong’o kein Ende genommen. In den Vereinigten Staaten hat er an der University of California in Irvine eine neue Heimat gefunden. Allerdings ließ auch die immer instabiler gewordene Gesundheit des Autors eine Rückkehr nach Afrika als kaum ratsam erscheinen.
Als Autor durchlief Ngũgĩ wa Thiong’o die Stationen einer für Afrika geradezu typischen Schriftstellerkarriere. In seinen ersten Romanen „Abschied von der Nacht“ (1964), „Der Fluss dazwischen“ (1965) und „Freiheit mit gesenktem Kopf“ (1968) thematisierte er das wachsende antikoloniale Selbstbewusstsein, in „Verbrannte Blüten“ (1977), „Der gekreuzigte Teufel“ (1980) und „Matigari“ (1986) kritisierte er Korruption und Machtmissbrauch der neuen afrikanischen Regierungen.
Ngũgĩ wa Thiong’o schrieb aber nicht nur Romane, sondern auch Theaterstücke, die er im Stil des „Theaters der Aufklärung“ zum Teil zusammen mit der ländlichen Bevölkerung inszenierte. Maßgeblich wurde er aber auch als Essayist, denn in seinen Aufsätzen legte er eindringlich und vorbildlich dar, dass die Befreiung vom (Neo-)Kolonialismus nicht nur eine Frage der staatlichen Souveränität, der parlamentarischen Demokratie und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit ist, sondern auch der ideologischen Emanzipation. Seine Schriftensammlung „Dekolonisierung des Denkens“ (1986) wurde zu einem Standardwerk der postkolonialen Theorie, und Ngũgĩ wa Thiong’os Betonung der Bedeutung afrikanischer Sprachen zur Artikulation afrikanischer Interessen zeigte sich auch darin, dass er seit Mitte der 80er Jahre zunächst in seiner Muttersprache Gĩkũyũ publiziert, allerdings alsbald eine englische Textversion folgen lässt.
Seine jüngsten Werke, die Autobiografien „Träume in Zeiten des Krieges“ (2010), „Im Haus des Hüters“ (2012), „Geburt eines Traumwebers“ (2016) und „Wrestling with the Devil: A Prison Memoir“ (2018) – der Überarbeitung seines Gefängnistagebuchs „Kaltgestellt“ – sowie der opulente Roman „Herr der Krähen“ demonstrierten auch jüngst die beeindruckende Prosa und bildgewaltige Fabulierkunst dieses Autors, der gerade mit diesen Büchern eine afrikanische Welt und eine Erzähltradition dokumentiert, die die Weltliteratur bereichert.
Das literarische Werk Ngũgĩ wa Thiong’os, der immer wieder auch in Oxford, Cambridge, Bayreuth, Auckland oder Harvard lehrte, wurde sehr früh und sehr umfangreich auch in Deutschland verlegt. Seit 1969 erscheinen die meisten seiner Werke, sogar seine Theaterstücke, auch auf Deutsch – zunächst in Verlagen der DDR. Zuletzt erschienen auch seine beiden Essaybände „Dekolonisierung des Denkens“ (2017) und „Afrika sichtbar machen“ (2019) auf Deutsch, und im November 2019 erhielt er den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises der Stadt Osnabrück. Sie würdigte mit dieser Auszeichnung nicht nur den kenianischen Schriftsteller und Literaturtheoretiker Ngũgĩ wa Thiong’o, sondern rückte zugleich einen Kontinent in den Blick der Öffentlichkeit, der zunehmend auf partnerschaftliche Teilhabe in einer immer weiter globalisierten Welt dringt.
in seiner per Video übertragenen Rede zum Thema „End Literary Identity Theft: The Future of African Literatures in den World“ spricht Ngũgĩ über zentrale, sein Lebenswerk prägende Themen. Sein Ziel ist es, Denken zu dekolonisieren. Dies könne, so Ngũgĩ , nicht in der Sprache der einstigen Kolonialherrscher erfolgen. Aspekte der Rede werden nachfolgend in freier Übersetzung wiedergegeben. Zeitangaben in Klammern verweisen auf die Stelle, an der die Aussage im Video zu finden ist _poll:
Im Juni 1962 fand erstmals eine „African Writers Conference“ am Makerere University College in Kampala, Uganda, statt. Hier kamen fast alle in englischer Sprache schreibende, afrikanische Autoren dieser Zeit zusammen. Neben Ngũgĩ waren u.a. auch Chinua Achebe und Wole Soyinka anwesend.
Wegweisend war auch, so Ngũgĩ , die Konferenz „Against All Odds“ über afrikanische Sprachen und Literaturen“ in Asmara, Eritrea (11.-17.1.2000), aus der die „Asmara Deklaration“ hervorging und die den Zustand der afrikanischen Sprache innerhalb von Literatur, Bildung, Erziehung, Publikationen und in der Verwaltung innerhalb des afrikanischen Kontinents und weltweit untersucht. Rund 250 Studenten, Verleger und in einer afrikanischen Sprache schreibende Autoren waren gekommen, um über die afrikanische Literatur des 21. Jahrhunderts zu diskutieren. Kolonialismus und Neokolonialismus seien, so das Ergebnis dieser Konferenz, die wichtigsten Hürden, die die Sichtbarkeit der afrikanischen Sprachen und Literaturen verhindere. (10:41). Es bestehe bis heute ein fortdauerndes imperiales Kontinuum, das wie ein Fluch über Afrika liege und das Denken blockiere. (10:55)
„These two forces, in reality a single imperial continuum, still haunt Africa by blocking the mind of the continent and the world to the existence of African languages.“
Die „Against all Odds Confernece“ machte die tiefe Unstimmigkeit erkennbar, die entsteht, wenn in „imperialen“ Sprachen für den Kontinent gesprochen wird.“ So ergibt sich eine Art verdrehtes Bauchreden: Afrikanische Stimmen werden erst als in europäische Laute eingezwängte Töne erfahrbar. (11:05) Was als afrikanische Literatur bezeichnet worden ist, war zumeist ein in europäischer Sprache verfasstes Werk.
Tatsache sei aber, dass afrikanische Werke, die in einer europäischen Sprache geschrieben worden sind, Afrika nicht in der Welt repräsentieren können. Afrika hat seine eigenen Sprachen. Abhilfe muss zuhause entstehen: die Regierungen Afrikas müssen damit aufhören, afrikanische Sprachen selbst zu kriminalisieren. (18:37)
Doch auch von Seiten der ehemaligen Kolonialstaaten beobachtet Ngũgĩ Widerstand. Man kämpfe mit Händen und Füßen und Geld gegen „das Anbrechen einer afrikanischen Zukunft“. Man könne nicht von einer Hierarchie der Sprachen Abschied nehmen, in der die imperialen Sprachen nicht an der Spitze stehen (29:19). „Ich hingegen sage: lasst uns alle gegen hierarchisch geprägte Beziehungen zwischen den Sprachen kämpfen, ringen wir vielmehr um ein Netzwerk der Gleichrangigen im Geben und Nehmen (29:37).
Ngũgĩ wa Thiong'o
Dekolonisierung des Denkens
Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur
3. Auflage
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
272 Seiten
Unrast Verlag, März 2022
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Ngũgĩ wa Thiong'o
Herr der Krähen
Übersetzt von Thomas Brückner
Roman
S. Fischer, Frankfurt 2013
Manfred Loimeier
Ngugi wa Thiong’o
157 Seiten
edition text + kritik, München 2018
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Erstellungsdatum: 06.06.2025