Dem Geist seiner Zeit folgend, suchte Freud nach den ersten und frühesten Formen der Religion; er fand sie in den Phänomenen, die unter den Namen Totemismus und Magie in die Wissensgeschichte eingehen sollten. In Freuds Magie-Adaptionen findet die Kulturwissenschaftlerin Susanne Lanwerd zahlreiche Überlegungen zu Wunsch, Angst und zum ozeanischen Gefühl.
In „Totem und Tabu“ aus dem Jahr 1912 rekurriert Freud im dritten Kapitel auf die Überlegungen James George Frazers (1854 – 1941) zu Magie. Einige der hier formulierten Gedanken, z.B. dass Religion sich primär einem Schuldgefühl verdanke, wird Freud später, 1939 in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ erneut aufgreifen. Mit dem Freud-Biographen Peter Gay bleibt auch diese Arbeit im Gesamtwerk Freuds „so etwas wie eine Kuriosität, auf ihre Art (sogar) extravaganter als Totem und Tabu“. In einem nicht unwesentlichen Punkt unterschied sich Freud von entsprechenden Fachwissenschaftlern seiner Zeit: Seine Theoriebildung erfolgte nicht nur auf der Basis von Textmaterial über vermeintlich „primitive“ Gesellschaften, sondern auch aufgrund seiner praktischen Erfahrungen als Therapeut. Freuds Bedeutung für die Gesellschaftswissenschaften besteht daher weniger darin, seine Schriften als Quelle von Wissen über die Religionen oder religionsgeschichtliche Entwicklungen zu nutzen; sie verdankt sich vielmehr der mit Erfolg angewandten komplexen psychoanalytischen Wissensbestände für eine kritische Interpretationspraxis individueller und gesellschaftlicher Phänomene.
Freuds Überlegungen zu „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“, die einen Teil der Untersuchung „Totem und Tabu“ ausmachen, stellen einen frühen Beitrag dar zu den möglichen psychischen Dimensionen der als „magisch“ klassifizierten Handlungen; sie enthalten zugleich eine indirekte Kritik an der damaligen ethnologischen Diskussion. Denn Freud macht darauf aufmerksam, dass bestimmte Konstruktionen, in deren Namen z.B. die Klassifizierung bestimmter Handlungen als „magische“ erfolgt, die Erkenntnis der tatsächlichen Motivationen dieser Handlungen „wie Wandschirme“ abwehren.[1] In seiner Deutung der magischen Vorstellungen erscheinen diese als Rationalisierungsversuche, die im Dienst der Organisation der ambivalenten Strebungen stehen. Er nennt zunächst einige Beispiele, in denen er mit Frazer eine „Herrschaft der Ideenassoziation“ erkennt, da die beiden Prinzipien der Assoziationsvorgänge: Ähnlichkeit und Kontiguität (Berührung, Übertragung) erfüllt sind. Dann aber wendet Freud ein, dass die „Assoziationstheorie der Magie bloß die Wege aufklärt, welche die Magie geht, aber nicht deren eigentliches Wesen, nämlich nicht das Missverständnis, welches sie psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher setzen heisst“; die Frage nach dem dynamischen Moment, welches die magischen Handlungen vorantreibt, rückt damit in den Vordergrund. „Die Motive, welche zur Ausübung der Magie drängen, sind leicht zu erkennen, es sind die Wünsche des Menschen“. Diese Wünsche sind nach Freud durch eine Überschätzung der an ihnen hängenden Affekte bestimmt, eine Überschätzung, die dazu führt, die Affektwirkungen als eine reale Macht anzunehmen. Es gibt also keine Unterscheidung zwischen der gedanklichen Vorstellung, einer Rationalisierung, Wünschen und der Realität; Magie werde durch ein Prinzip regiert, das Freud mit „Allmacht der Gedanken“ umschreibt.
Um die Langlebigkeit dieses Allmachtglaubens angemessen zu erklären, verweist er auf seine Überlegungen zum Narzissmus, und das ist jene psychische Organisation, die zwischen Autoerotismus und geglückter Objektwahl angesiedelt wird. Das narzisstische Stadium zeichnet sich dadurch aus, dass „die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer Einheit zusammengesetzt und auch ein Objekt gefunden haben; dies Objekt ist aber kein äusseres, dem Individuum fremdes, sondern es ist das eigene, um diese Zeit konstituierte Ich“. „Die Person verhält sich so, als wäre sie in sich selbst verliebt“.
Entscheidend ist, dass die narzisstische Organisation, die von einer Allmacht der Gedanken und der Hochschätzung der psychischen Aktionen geprägt ist, nie mehr völlig aufgegeben und das Leben des Individuums neben der ödipalen Organisation immer mit beeinflussen wird.
Zur ethnologischen Begrifflichkeit seiner Zeit, z.B. eine Handlung als „magische“ oder „abergläubische“ zu bezeichnen, bemerkt Freud, dass diese Bezeichnungen letztlich „psychologische Vorläufigkeiten“ seien, die von der psychoanalytischen Forschung korrigiert werden.
Für die als magisch klassifizierten Handlungen aber bedeutet dies, dass „dem Seelenleben und der Kulturhöhe der Wilden ein Stück verdienter Würdigung bisher vorenthalten wurde“.
Bemerkenswert ist hier, dass Freud die Begründungen der, wie er sie nennt „Wilden“, als Rationalisierungen ihrer ambivalenten Triebregungen ernst nimmt. Diese Begründungen sind, wie jede Rationalisierung, Erklärung und Verschleierung in eins. Erklärt und verschleiert werden die eigentlichen Motive jeglichen menschlichen Tuns, und das sind zumeist die ambivalenten, d.h. doppelwertig besetzten Wünsche der Menschen.
Mit der wachsenden Kenntnis und Erforschung der indigenen Gesellschaften wurde die Kritik an theoretischen Konstruktionen, die quellenunkritisch im Sinne der Schreibtisch-Ethnologie von Frazer und Co. ihre Entwicklungsmodelle erarbeiteten, immer lauter; diese Kritik ist partiell auch auf Freud anzuwenden. Doch haben seine Überlegungen zur Faszinationsgeschichte der Magie beigetragen, insofern sie magisches Handeln verstehbar werden lassen: diese Vorstellungen und Handlungen verdanken sich einem kurzfristigen oder andauernden Überwiegen narzisstischer Anteile der menschlichen Psyche und – das ist und bleibt das Skandalon der Psychoanalyse – sie betreffen letztlich jedermann.
Ebenfalls im dritten Kapitel von „Totem und Tabu“ findet sich jener Satz, der die Rezeption des psychoanalytischen Religionsverständnisses bis heute nachhaltig bestimmt: „Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoider Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems“. Im Laufe des Kapitels wird deutlich, dass Religion, deren zivilisatorische Leistungen Freud würdigt, nicht mit dem Krankheitsbild der Neurose gleichzusetzen ist: Die Neurosen seien asoziale Bildungen, die mit privaten Mitteln zu leisten suchen, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand. Bei der Analyse der Neurosen erfahre man, so Freud, dass in ihnen die Triebkräfte sexueller Herkunft den bestimmenden Einfluss ausüben, während die entsprechenden Kulturbildungen: also Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion auf sozialen Trieben beruhen, solchen, die aus der Vereinigung egoistischer mit erotischen Anteilen hervorgegangen sind.
Eine umfassendere Auseinandersetzung mit Religion findet sich in Freuds Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ aus dem Jahr 1927. Ihre Schlusssätze lauten: „Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, dass wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann“. In den ersten beiden Kapiteln thematisiert Freud vorwiegend Kulturvorschriften, um in den folgenden sieben Kapiteln der Frage nachzugehen, worin der besondere Wert der religiösen Vorstellungen im psychischen Inventar einer Kultur denn eigentlich bestehe. Eine erste Definition beschreibt Religion als einen „Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen“.
Diese Definition klingt aktuell, da auch heute ähnliche Funktionsbestimmungen der Religion angeboten werden, beispielsweise, dass die „flexiblen Menschen des globalen Kapitalismus Hintergrundgewissheiten benötigen und jenseits aller Zweckrationalität auf symbolische Sprachen angewiesen bleiben, in denen sie die steigenden Kontingenzen modernen Lebens und die zeitlos elementaren Grunderfahrungen des Menschen deuten können“ (Friedrich Wilhelm Graf). Die Differenz solcher Einschätzung zu Freud liegt im Unternehmen Psychoanalyse selbst begründet; so adressiert die „Zukunft einer Illusion" nichts Geringeres als die Akzeptanz der Endlichkeit des Lebens. Für den Fortgang seiner Argumentation ist entscheidend, dass eine Illusion nicht dasselbe ist wie ein Irrtum, denn: „Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen".
Das Geheimnis der Stärke der religiösen Vorstellungen wird von Freud mit den „ältesten und dringlichsten Wünschen der Menschheit“ begründet: „Das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche“. Es handelt sich um Wünsche, die sich darauf richten, die eigene Hilflosigkeit zu balancieren oder gar zu überwinden.
Prinzipiell bezweifelt Freud, dass die Menschen zu Zeiten einer uneingeschränkten Herrschaft der religiösen Lehren glücklicher gewesen wären als heute. Religion, die einst eine zivilisatorische Instanz darstellte, solle als Illusion erkannt werden sowie ihre Götter als Wunschvorstellungen, die die Grössen- und Allmachtsphantasien der Menschen spiegeln.
Nach den rezenten Entwicklungen, so schreibt Freud 1927, sei es angeraten, Religion als schlechtes, jedenfalls zweifelhaftes Fundament der Kultur sowie als Basis ethischer Normsetzungen zu entlassen. Wer sich „demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der grossen Welt bescheidet, der ist vielmehr irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes“. In diesen Kontext gehört für Freud die Akzeptanz der Kontingenz des Todes, mithin die Akzeptanz der Fragilität und Versehrtheit des menschlichen Lebens. Dank dieser Einsicht könne es den Menschen gelingen, ihre Erwartungen vom Jenseits abzuziehen, alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben zu konzentrieren und so, das ist Freuds Hoffnung, das Leben für alle erträglich zu machen.[2]
Die Klimaveränderungen, die Pandemie oder Covid, die Kriege in der Ukraine und in Gaza lösten und lösen Ängste aus. Sind es diffuse Ängste, die eine Flucht in Heilswelten antreten lassen? Finden Verschiebungen statt, und wenn ja, welche?
Für Freud ist das Angstproblem ein „Knotenpunkt […] an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen“. Alle Affekte können zu Ängsten werden; „gleichgültig, was (des Knotenpunkts) eigene Qualität ist“, werden Affekte wie z.B. Hass, Enttäuschung, Sehnsucht durch Angst ersetzt.[3] Berechtigte Grundlagen der Angst sind die Ungewissheit der Zukunft, die Fragilität der menschlichen Konstitution, die Sterblichkeit. Für den menschlichen Werdegang ist die Angst ein nicht zu ersetzendes Phänomen. Denn sie half und hilft, Gefahren zu erkennen.
Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim erkannte beispielsweise in der Angst vor Corona eine Komplexitätsreduktion am Werk, die die Angst vor einer düsteren Zukunft zu bannen suche. Denn die Angst vor Corona, so seine Beobachtung, ersetze die Angst vor Klimaveränderungen, die sich zeitgleich mit der Pandemie im Schmelzen der Gletscher oder den (in 2020) verheerenden Waldbränden in Sibirien, Australien und Kalifornien zeigen. Ich zitiere: „Wer Angst hat, kann noch über Ursachen und Folgen nachdenken. Wer in Panik gerät, handelt nur noch reflexartig. Panik ist Angst ohne Denken.[4] Wie ist – mit meiner Kollegin und Psychoanalytikerin Vera King gefragt – eine emotionale nachdenkliche Verarbeitung jener Hilflosigkeit möglich, die uns alle betrifft? Denn Klimawandel, Pandemie und Kriege zielen direkt auf unsere Verwundbarkeit, auf die Endlichkeit der Menschen.
Heilsversprechen beruhigen Ängste. Sowohl in Psychoanalyse und -therapie, in der Medizin sowie in vielen Religionen spielt das Wissen dieses Zusammenhang eine Rolle. Die Transformation religiöser Motive in säkularen Kontexten partizipiert ebenfalls erfolgreich an der Verbindung von Angst und Heil, indem sie eine Entlastung von Schuld oder Verantwortung gewährt. Wenn auch religiöse Vorstellungen kaum dazu beitragen, die Fülle und Komplexität der Welt zu erfassen, bieten sie andererseits eine Zuordnung oder Platzierung von Problemen in einen Heilszusammenhang. Ängste und Verunsicherungen werden eingeordnet und erhalten eine Bedeutung, einen Sinn im Gesamt der Konstruktion. Der zu entrichtende ‚Preis‘ für die Sinngebung liegt in der Verkennung der realen Ursachen und in der Ausblendung der Fragen, wie etwas entstanden ist und – wichtiger noch – wie es verändert werden könnte. Kulturwissenschaftliche Überlegungen zu Heilsversprechen aus psychoanalytischer Perspektive zeichnen sich durch Nachdenklichkeit aus; sie fragen nach dem Ausgeschlossenen in den Konstruktionen des Versprechens, besonders, wenn sie von Ängsten und Wünschen handeln. Ich beende hier den Exkurs zur Angst und komme zum ozeanischen Gefühl.
Wenige Jahre nach „Die Zukunft einer Illusion“, im Jahr 1930, schrieb Freud das „Unbehagen in der Kultur"; zu Beginn des Textes finden sich die berühmten Sätze zum ozeanischen Gefühl. „Ich hatte (einem dieser ausgezeichneten Männer, S.L.) meine kleine Schrift zugeschickt, welche die Religion als Illusion behandelt, und er antwortete, er wäre mit meinem Urteil über die Religion ganz einverstanden, bedauerte aber, dass ich die eigentliche Quelle der Religiosität nicht gewürdigt hatte. Diese sei ein besonderes Gefühl, das ihn selbst nie zu verlassen pflege, welches er von anderen bestätigt gefunden und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe“. Romain Rolland (1866-1944), der französische Schriftsteller, ist der von Freud adressierte Kollege, dem es um die eigentliche Quelle der Religiosität ging. Diese Quelle bestimmte er als ein besonderes Gefühl, das der Empfindung der ,Ewigkeit‘ korrespondiere, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ,Ozeanischem’; im französischen Original heisst es entsprechend: le sentiment religieux, la sensation religieuse, la sensation de ‚l‘éternel‘, le sentiment ‚océanique‘[5].
Freud begegnet dem von Rolland beschriebenen Gefühl mit einem Satzfragment, dessen Kontext und Inhalt auf einen ersten Blick irritiert: Aus dieser Welt können wir nicht fallen; im Original heisst es Ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal darin. Ausgesprochen als Trost für den antiken Feldherren Hannibal vor dessen freigewählten Tod, frage ich mich und auch Sie, ob dieses Satzfragment, angesichts eines bevorstehenden Todes, einiges von der Ambivalenz transportiert, die mit der Metapher des „Ozeanischen“ gegeben ist?
Zur Klärung dieser Frage biete ich zunächst noch etwas Hintergrundwissen.
Was oder wem verdankte Romain Rolland das ozeanische Gefühl als geeignete Metapher für die Religion? Im Jahre 1893 fand das Weltparlament der Religionen statt und zwar in Chicago. Dort trat der indische Gelehrte Swami Vivekananda ein erstes Mal auf. Es war seine hier mitgeteilte Botschaft, dass alle Religionen eins seien – so wie alle Ströme ins Meer münden, zu Gott – die nachhaltige Wirkung zeitigte; so auch die Korrespondenz zwischen Freud und Rolland zum ozeanischen Gefühl. Von Ramakrishna ist die Formulierung … in mir wogte ein Ozean unaussprechlicher Seligkeit … überliefert[6]. Auch wissenschaftliche Vorläufer Freuds betonten eine Ambivalenz des Ozeans: So sprach Immanuel Kant (1724-1804) von der „Insel der Wahrheit“, die umgeben sei von einem stürmischen Ozean, dem eigentlichen Sitze des Scheins![7]
Jahrzehnte später entwarf Friedrich Nietzsche (1844-1890) das Bild des Landverlassens und zur Seegehens und schrieb: „Nun Schifflein. Sieh dich vor, neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold … Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit“.[8]
Aus der Perspektive des menschlichen Subjekts ist der Ozean gross und gefährlich. Aus der Perspektive des Universums ist die Erde eine winzige Welt neben unzählbaren anderen, und auch der Ozean kann aus dieser Welt nicht fallen!
Freud selbst umschreibt das Satzfragment näher als „Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Aussenwelt“ und er fügt hinzu, dass dies eher einer intellektuellen Einsicht entspräche, „nicht ohne begleitenden Gefühlston“.
Die Ambivalenz der Ozean-Metapher bleibt bestehen. Vielleicht ist gerade sie es, die auf Freud faszinierend wirkte. Die Intensität und Beständigkeit des Briefwechsels mit Romain Rolland über mehr als ein Jahrzehnt liesse sich in diesem Sinne deuten. Freuds Hochschätzung für den zehn Jahre jüngeren Schriftsteller-Kollegen, in seinen Worten: Ihre Wahrheitsliebe, Ihr Bekennermut, Ihre Menschen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, ist nachhaltig verbürgt[9].
Freud und Rolland geht es um Erklärungen der Religion. Rolland bestimmt sie als Gefühl, ein Gefühl, für das er die Metapher Ozean ergreift.
Eine der Freudschen Definitionen, wie bereits oben erwähnt, umschreibt Religion als einen „Schatz von Vorstellungen“, „geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen“. Seine Überlegungen zum ozeanischen Gefühl enden mit der Annahme, dass es nachträglich in Beziehungen zur Religion geraten ist, als Moment der Regression angesichts der Härte der Realität.
Damit korrespondiert sein Gedanke, dass „das Leben, wie es uns auferlegt ist, zu schwer für uns ist, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen, hat uns Theodor Fontane gesagt.) (Auf erniedrigtem Niveau sagt Wilhelm Busch in der Frommen Helene dasselbe: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör)“.[10]
Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen. Die Religion ist eine dieser Hilfskonstruktionen, eine andere ist die Kunst, weitere sind Philosophie und Wissenschaft. In der kulturwissenschaftlichen Perspektive der Psychoanalyse, werden auch die Leistungen grosser Denksysteme relativiert und als Kompromissgebilde gedeutet, „mit deren Hilfe die Menschengattung auf ihrem unsicheren Weg Angst zu bannen und ihre eigenen Rätsel darzustellen, partiell sie zu lösen versucht“[11].
Um Leid zu vermeiden und Lust zu gewinnen, gibt es neben den bereits erwähnten noch eine weitere „Technik der Lebenskunst“, die „die Liebe zum Mittelpunkt nimmt“[12]. In einem frühen Brief Freuds an Rolland, vom 4. März 1923 findet sich der Satz: „Denn Ihr (Rollands) Name ist für uns mit der köstlichsten aller schönen Illusionen verknüpft, der von der Ausdehnung der Liebe auf alle Menschenkinder“. „Die schwache Seite dieser Lebenstechnik liegt klar zutage …: niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben“[13].
Untersuchungen zum Ursprung religiöser Wünsche arbeiten meist mit Konzeptualisierungen des Menschen, mit Bildern also, die schildern, wie der Mensch ist oder sein solle. Mit Freud und Rolland wurden bereits einige dieser Bilder genannt. Eine ziemlich andere Vorstellung, die gern auch von der frühen Religionswissenschaft übernommen wurde, ist jene des homo religiosus. Religion und Religiosität werden hier als anthropologische Konstanten behauptet. Mit ein, zwei Daten aus der Religionsgeschichte lässt sich dieses Bild korrigieren.
Das lateinische religio, hergeleitet aus relegere (sorgsam beachten), wie es Cicero um 41.v. Chr. vorschlug, bezog sich auf die genaue Ausführung der seit alters her überlieferten kultischen Praktiken in Bezug auf die Religion der Römer. Bereits die Kirchenväter gaben einen anderen Etymologie den Vorzug: religare, zurückbinden, wurde mit religio verbunden, worunter z.B. Laktanz im 4. Jahrhundert n.Chr. das Bindeglied zwischen Mensch und Gott verstand.
Das Christentum gebrauchte den Begriff dann für Jahrhunderte nur im Singular und grenzte andere Religionen, bis hin zu blutigen Verfolgungen, strikt aus. Bekanntermaßen verlor die christliche Religion ihre privilegierte Position als „einzig wahrhaftige“ Religion, als die Philosophen der Aufklärung – teils im Rückgriff auf griechisch-antike, stoische Ideen, teils auf andere Traditionslinien – eine „natürliche Religion“ proklamierten. Im Zuge stets neuer, territorialer Entdeckungen stellte sich schließlich die Frage immer dringlicher, welche Gemeinsamkeiten den verschiedenen Glaubens- und Handlungssystemen zugrunde lägen. Denn den Religionsbegriff an eine Gottvorstellung zu knüpfen, hatte sich als ungenügend erwiesen: Nicht nur kommen bestimmte Formen des Buddhismus ohne dezidierte Gottesvorstellung aus, auch in vielen indigenen Gesellschaften Afrikas, Amerikas, Ozeaniens ist die Vorstellung eines einzigen, mächtigen Gottes randständig.
Auf der Suche nach den Gemeinsamkeiten verschiedener Religionen und Glaubenssysteme entdeckten und diskutierten Freud und Rolland das ozeanische Gefühl; auch der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) hatte im Jahr 1799 hierzu einen Beitrag geleistet[14]. Ich meine die kleine Schrift Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern, die Schleiermacher zunächst anonym veröffentlichte und ab der zweiten Auflage massgeblich verändert hatte. In der ersten Auflage weist er der Religion „eine eigene Provinz im Gemüt“ zu, „in welcher sie unumschränkt herrscht“; ihr Wesen sei weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl und: Religion sei Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Schleiermacher nahm schnell den im frühromantischen Kontext entwickelten Gedanken einer strikten Trennung von Religion und Moral, von Religion und Politik wieder zurück; ebenso rasch ersetzte er die Metaphoriken Sternenhimmel und Unendliches durch Gott, nachweislich ab 1806.
Diskussionen über Funktion und Bedeutung von Wünschen und Ängsten in den Religionen sowie über ihren Stellenwert für die Erforschung der Religionen bestimmen seither die Wissensgeschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte eine Schrift Furore, die sich der Vielfalt „religiöser Erfahrung“ widmete. Der Autor William James geht davon aus, dass Religion nur bei jenen Individuen zu finden ist, deren religiöse Erfahrung weniger einer dumpfen Gewohnheit als vielmehr einem heftigen Fieber gleiche; solche Individuen seien religiöse ‚Genies’. Auf dem Weg ihrer Verbreitung durch Institutionen verlören die religiösen Erfahrungen ihre Intensität. Ein Aspekt ist für den vorliegenden Kontext relevant: Der wirkliche Ort der Religion liege (so James) in der individuellen Empfindung und nicht im körperschaftlich verfassten Leben – dies ist sicherlich ein Unterschied zu Schleiermacher, der bei all seiner Kirchenkritik davon ausging, dass der religiöse Mensch sich mitteilen müsse und dazu der Gruppe bedürfe. Auch Hans Joas, der zeitgenössische Soziologe und Sozialphilosoph, umschrieb den religiösen Glauben als Phänomen der Selbsttranszendenz. Selbstranszendenz aber heisse: Wir werden aus den Grenzen unseres Selbst herausgerissen, indem wir einer starken, uns anziehenden Kraft begegnen. Erfahrungen der Selbsttranszendenz können einen völlig unerwartet überkommen, wie etwa das Sich-Verlieben in der ersten Minute einer Begegnung.
Schon anhand dieser wenigen Beispiele wird eine historische Traditionslinie deutlich, die Religiosität und Gefühl, wie von etwas Grenzenlosem, oder Religiosität und Verliebt-Sein miteinander verknüpft. Die Psychoanalyse hat hierzu Aspekte der Ich-Entwicklung entfaltet, dessen zentraler Gedanke aufschlussreich ist: denn im Psychischen bleibe alles erhalten, nichts gehe wirklich unter, alle Stadien der Entwicklung finden ihren Niederschlag in einem Ort für Abgeschobenes, im Unbewussten, das angefüllt ist mit Gedächtnisspuren und Erinnerungsfragmenten.
Zu diesen Einsichten gehört auch die Anerkennung, dass der Säugling eher alles und jeden liebt, das ihr/ihm als Objekt erscheint, als gar nicht zu lieben; ein Umstand, der wiederum mit der einzigartigen, das Leben fundierenden Abhängigkeit und Hilflosigkeit des kleinen Menschen zu tun hat. Das primäre Ich-Gefühl, in seiner Komplexität von Abhängigkeit und Lust, bleibt – der oben genannten Prämisse zufolge – erhalten und gerät zuweilen in Konflikt mit dem Ich-Gefühl der Reifezeit. Aus historischer Perspektive ist notwendig anzumerken, dass in solchen Verknüpfungen, die mit dem Bild einer Auflösung der Ich-Grenzen einhergeht, die Frage nach den anderen Menschen eher marginal erscheint. Keine Religion kommt ohne Gemeinschaft, ohne Gemeinschaftshandeln aus, zumindest, soweit die Verhältnisse historisch fassbar sind. Das lässt sich nicht nur an Schleiermacher zeigen, auch Emile Durkheim hatte einhundert Jahre später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf Religion als „solidarisches System von Glaubensvorstellungen und Handlungen“ hingewiesen. In explizitem Rekurs auf Romain Rolland fragt zum Beispiel auch Karl Heinz Kohl, ob religiöse Kulte und Praktiken nicht darauf angelegt seien, das ‚ozeanische Gefühl‘ überhaupt erst zu erzeugen? Im religiösen Kult fände durch das Gemeinschaftserleben eine Gleichrichtung der Gefühle statt, die zur subjektiven Empfindung einer Verschmelzung der Grenzen zwischen dem Ich und den Anderen führen könne.[15]
Ich komme mit abschliessenden Bemerkungen zu einer Kulturwissenschaft aus psychoanalytischer Perspektive zum Ende.
Die Gründungsphase der Freien Universität Berlin (1948) ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Für deren philosophische Fakultät sollte ein Psychoanalyse-Lehrstuhl eingerichtet werden. Daraus wurde damals nichts, doch widmete sich die neu etablierte, kulturwissenschaftlich orientierte Religionsforschung dem Thema der „kollektiven Verdrängung“. Die dort Lehrenden gingen davon aus, dass kollektive Verdrängung praktisch stattfand, das war ihr Blick auf das unmittelbare Nachkriegsdeutschland. Sie fragten sich, ob und wie kollektive Verdrängung theoretisch denkbar sei. Im Interesse an der Klärung dieser Frage erfolgte der Rückbezug auf Freud, der den damals Lehrenden als Aufklärer über individuelle und gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge erschien.
Eine Skulptur kontextualisiert diesen Forschungsansatz: Vor der Kurfürstenstrasse 115/116 in Berlin Schöneberg wird die Skulptur einer Gradiva gezeigt, auf dem begrünten Mittelstreifen, Gradiva gilt als Repräsentation der Psychoanalyse. Flankiert wird sie von einer erklärenden Schrifttafel. Zu erfahren ist, dass zwischen 1908 und 1910 hier der Jüdische „Brüderverein“ ein Vereins- und Wohnhaus gebaut hatte, das der psychoanalytischen Vereinigung mehrfach als Tagungsort zur Verfügung stand. Sigmund Freud soll noch 1922 an einem Treffen der Vereinigung teilgenommen haben. Seit 1939 befand sich in demselben Gebäude das von Adolf Eichmann geleitete „Judenreferat“ IV B 4; ab 1941 wurde von hier aus die Vertreibung und Vernichtung aller Juden des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs organisiert. Im zweiten Weltkrieg wurde das Haus zerstört.
Kulturwissenschaftliche Religionsforschung an der Freien Universität bestand lange Zeit darin, mit psychoanalytischen Kulturtheorien die Bildungen der Religionen zu untersuchen. Zu ihren Untersuchungen gehörte die Perspektive, Religionen als Repräsentationssystem par excellence zu verstehen. Religiöse Referenzpunkte wurden als fiktionale, imaginäre Subjekte und Konstellationen, von allerdings höchster Handlungsrelevanz, gedeutet.
Diese Sicht auf Religion und Religionen teilt die Kulturwissenschaft mit der Psychoanalyse. Im Mittelpunkt stehen – hier wie dort – Menschen in ihrer Verletzlichkeit, in ihrer körperlichen, psychischen und gesellschaftlich-kulturellen Komplexität. Sie sind in die Gesellschaft und Kultur hineingeboren, und es sind deren Bildervorräte, deren Sprache und Vorstellungswelten, die fortan die psychische Realität des Einzelnen, mit all ihren Wünschen und Ängsten bestimmen. Adressiert wird eine Haltung, die sich bemüht, sowohl Ambivalenzen als auch Spannungen balancieren zu können.[16]
Fußnoten
1) Quellennachweise, sofern nicht anders angegeben, finden sich, auch für die folgenden Freud-Zitate, in Susanne Lanwerd: „Die Zukunft einer Religion“. Anmerkungen zu Sigmund Freuds Religionskritik, in: Dies. / Richard Faber (Hg.): Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität. Würzburg 2006, S. 91-104.
2)Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Gesammelte Werke, XIV. Band (Werke aus den Jahren 1925-1931), Imago Publishing Co., Ltd., London 1948 ff., S. 380.
3) Sigmund Freud: Die Angst (XXV. Vorlesung). In: Gesammelte Werke, Bd. 11. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Hg. von Ernst Kris. London 1940, S. 407-426, hier S. 408 und 418.
4) Mario Erdheim in: Jean-Martin Büttner: „Das Virus ergreift uns, bevor es uns befällt“. In: TagesAnzeiger (29.02.2020), S. 41.
5) Vgl. Madeleine Vermorel et Henri Vermorel: Sigmund Freud et Romain Rolland. Correspondance 1923-1936. Paris 1993, besonders S. 303-311. Vgl. auch: Kaja Silverman: The Oceanic Feeling, in: Dies.: Flesh of My Flesh. Stanford University Press, 2009, S.17 – 36, hier S. 30.
6) Hans-Peter Müller: Die Ramakrishna-Bewegung, Gütersloh 1986, Seite 5.
7) Zitiert nach Klaus Heinrich: Anfangen mit Freud, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 28.
8) Vgl. Aphorismus 124: Im Horizont des Unendlichen: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Berliner Ausgabe 2013. Erstdruck 1882. Textgrundlage ist die Ausgabe: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. München (Hanser) 1954, S. 108f.
9) Kaja Silverman rekurriert hier auf William B. Parsons (Silverman, 2009:31).
10) Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Gesammelte Werke, XIV. Band (Werke aus den Jahren 1925-1931), Imago Publishing Co., Ltd., London 1948ff., S. 432
11) Zitiert nach Klaus Heinrich: Anfangen mit Freud, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 29.
12) Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a.M./Hamburg 1963, S. 113.
13) Freud 1963, S. 113.
14) Vgl. Susanne Lanwerd: Die Religion als Kunstwerk? Friedrich Schleiermacher, in: Dies.: Religionsästhetik. Studien zum Verhältnis von Symbol und Sinnlichkeit. Würzburg 2002, S. 87-120. Siehe auch Karl-Heinz Kohl: ‚dies ozeanische Gefühl …‘. Anmerkungen zu einer neueren Bestimmung von Religion. In „7 Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts V) Glauben. Weltreligionen zwischen Trend und Tradition“, Hg.: Bodo-Michael Baumunk und Eva Maria Thimme. Berlin 2000, S. 81-85.
15) Karl-Heinz Kohl: ‚dies ozeanische Gefühl …‘. Anmerkungen zu einer neueren Bestimmung von Religion. In: 7 Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts V) Glauben. Weltreligionen zwischen Trend und Tradition, Hg.: Bodo-Michael Baumunk und Eva Maria Thimme. Berlin 2000, S. 81-85, hier 83.
16) Klaus Heinich: Anfangen mit Freud, Basel/Frankfurt am Main, 1997, S. 20.
Erstellungsdatum: 04.12.2024