MenuMENU

zurück

Große Filme der Filmgeschichte: „Yi Yi“ in restaurierter Fassung

Yi Yi von Edward Yang

Marli Feldvoß


Filmstill aus Yi Yi (Ausschnitt)

Mit „Yi Yi (A One and a Two)“ legte Edward Yang vor 25 Jahren einen Spielfilm vor, der ebenso ernsthaft wie unterhaltsam eine Art sozio-psychologische Bestandsaufnahme der Gegenwart lieferte. Seine durch den Regiepreis in Cannes weltweit bekannt gewordene comédie humaine führt auf vielschichtige Weise den Einbruch der Moderne in das traditionelle Leben in Taiwan der neunziger Jahre vor Augen. Für die Filmkritikerin Marli Feldvoß besteht Edward Yangs große Kunst darin, dass er das Alte und das Neue zu integrieren versteht. Lange von der Leinwand verschwunden, kommt „Yi Yi“ nun in restaurierter Fassung ab 18. Dezember wieder in die Kinos. 


Vorbemerkung

Fünfzehn Jahre lang hat Edward Yang diesen Film mit sich herumgetragen, der so leicht vorüberschwebt wie ein Luftballon und doch alle Fragen der menschlichen Existenz entfaltet. „Aber damals wusste ich, dass ich zu jung war, um mich an einem solchen Stoff zu messen.“ „Yi Yi“, sein siebter und letzter Spielfilm hat ihn durch den Regiepreis in Cannes weltweit bekannt gemacht, kam auch endlich ins deutsche Kino und sicherte ihm einen Platz in der Filmgeschichte. e Wiederentdeckung in den letzten Jahren, etwa durch die Retrospektive im Zeughauskino Berlin Ende 2024, hat – zuletzt - zu einer Restaurierung und weltweiten Wiederaufführung des Meisterwerks zum Jahresende 2025 geführt.
Der  1947 in Shanghai geborene, in Taipeh aufgewachsene Regisseur  war immer ein Kinonarr, absolvierte jedoch „wie alle braven chinesischen Söhne“ zunächst eine Ausbildung als Elektroingenieur in den USA und arbeitete dort sieben Jahre als Computer Designer. Seit 1981 gehörte er zu den Protagonisten der Neuen Welle des taiwanesischen Kinos. Schon sein erster Spielfillm „That Day On The Beach“ (1983) blättert in drei Stunden 25 Jahre Geschichte auf, mit dem Anspruch, der Wahrheit der eigenen Geschichte auf die Spur zu kommen. Seine Worte von damals klingen wie ein Manifest: „Wir hatten die Abenteuerfilme unserer Väter, all die altbekannten, abgedroschenen Erzählungen satt. Wir wollten uns nicht mehr an Hongkongs Megaproduktionen orientieren. Für uns heißt es, die Augen weit auf zu machen, um Taiwan unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten und die Vorstellungen über Bord zu werfen, dieses Land sei eine ideologische Festung oder ein kulturelles Heiligtum.“
Alle seine Filme sind eng mit dem eigenen Werdegang verknüpft, gründen in der eigenen Schulzeit („That Day On The Beach“, 1983, „Taipeh Story“, 1985 , “A Brighter Summer Day“, 1991) oder in der satirisch aufbereiteten Gegenwart („Mahjong“, 1996, „A Confucian Confusion“, 1994) und behandeln immer wieder den tiefen Graben zwischen einer rapide fortschreitenden technologischen Gesellschaft und der dahinter zurückbleibenden Emotionalität („The Terrorizer“, 1986). Als Kinoerzähler hat Edward Yang mit seinem Meisterwerk „Yi Yi“ (2000) den Rang eines Klassikers erreicht. Er verstarb 2007 in Beverly Hills, Kalifornien. 

 


Es sei ein Glückstag, da sind sich alle einig. Aber die rituelle Beschwörungsformel überlebt  nicht einmal den nach Weisung der Sterne sorgfältig errechneten Hochzeitstag. Mittendrin zerspringt das Glück in tausend Stücke. Wie eine böse Fee, eine Kassandra, hatte schon die nicht geladene verschmähte Lebensgefährtin des Bräutigams das heraufziehende Gewitter angekündigt. Dann: Stille. Der Film wandert vom Großereignis Hochzeitsbanquett im Hotel nach Hause, ins Krankenhaus und wieder nach Hause, begleitet den Protagonisten NJ, den Schwager des Bräutigams, auf dem Weg zum Familienoberhaupt, zur Großmutter, die nach einem Schlaganfall im Koma liegt.

Schnell hat der Film seine Erzählzeit im Hier und Jetzt gefunden und dabei schon die Großfamilie wie ein Fossil in die Vergangenheit versetzt. Der Tenor des herrschenden Zeitgefühls heißt „Koma“. Die Welt hat ihr Bewusstsein verloren. Die schwelende Kulturkrise führt beim Taiwanesen Edward Yang – vergleichbar, aber anders als bei Robert Altmans „Shortcuts“ – nicht in den Weltuntergang,  sondern richtet sich in der Schwebe ein, in der Zeit des Ungeschiedenen, die der Zahl Eins (Yi) zugeordnet ist, in der alles andere, auch die Zahl Zwei (Yi Yi) enthalten ist. Yang bleibt seinem eigenen Kulturkreis treu, wenn er sich auf das chinesische Zahlensystem und seine Metaphorik bezieht und seinen Film vor der höhepunktorientierten westlichen Erzähldramaturgie bewahrt. In der chinesischen Kalligraphie fügt man dem horizontalen Strich, dem Zeichen für Eins, für die Zwei nur einen etwas längeren zweiten Strich hinzu. So einfach ist das.


Filmstill aus Yi Yi


So einfach sieht auch der kleine Yang Yang, NJs achtjähriger Sohn, die Welt, wenn er einen Ball unter sein T-Shirt schiebt und vorführt, wie seine neue Tante bei der Hochzeit aussah. „Eins steckt im andern.“ Mit dem Fotoapparat in der Hand verwandelt sich der Kleine in das Alter ego des Filmemachers und stellt noch einmal aufs Anschaulichste  das Erzählprinzip des Films vor, der sich nicht „Yi“, sondern eben „Yi Yi“ nennt, weil er nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft und die gestifteten Zusammenhänge meint und jedem Lebensalter eine andere Person zuordnet. Die Hauptperson, der Computerfachmann NJ, gespielt von Taiwans bestem Drehbuchautor Wu Nianzhen, steht in der Lebensmitte, die Alterspyramide fällt auf der einen Seite mit seiner Frau Min Min, ihrem jüngeren Bruder und seiner Frischvermählten samt Baby im Bauch, sie steigt wieder an mit dem achtjährigen Yang Yang, seiner fünfzehnjährigen Schwester Ting Ting und vielen Nebenfiguren, darunter Njs große Liebe Sherry aus Chicago, die Geschäftspartner aus Taipeh und der japanische Geschäftsfreund Ota - ein Seelenbruder. Alle Personen und Ereignisse sind so sinnfällig in diesem Mikrokosmos miteinander verknüpft,  dass man, wie im richtigen Leben, ohne Mühe der chronologisch angelegten Familien- und Zeitgeschichte folgen kann. Eine comédie humaine, die ernsthaft, doch unterhaltsam, eine Art sozio-psychologischer Bestandsaufnahme der Gegenwart liefert: Menschengeschichte von der Geburt bis zum Tod.   

Worum es geht, ist schon gesagt. Es geht um alles, um den Sinn, wie Laotse die vollkommene Zahl Eins interpretiert, um Wahrheit und Schönheit, wie der kleine Yang Yang wie ein europäischer Kulturbeauftragter hinzufügen würde und sich derweil anschickt, die Welt mit seinem Fotoapparat abzulichten. Die Fotografiererei des kleinen Yang Yang wird, wie sich im Verlauf des Film herausstellt, immer wieder aus der „Geschichte des Sehens“ erzählen. Entschlossen festzuhalten, was er sieht, um herauszufinden, was er nicht sieht, lässt er ganz einfach seiner Neugier und damit auch seiner Kreativität freien Lauf. Auf eine ganz neue Entdeckung der Wirklichkeit gründete sich auch der Siegeszug der Fotografie und, im Schlepptau, der des Kinos vor über hundert Jahren. Von der Errettung der äußeren Wirklichkeit sprachen später die Kinotheoretiker Bazin und Kracauer. Aber das ist sozusagen nur eine Ebene eines vielschichtig angelegten Films, der auf einer weiteren den Einbruch der Moderne in das traditionelle chinesische Leben beobachtet, den großen Umbruch im Taiwan der neunziger Jahre, mit Werteverfall und Persönlichkeitsverlust. Und wo bleibt die Würde?  fragt der Protagonist Nj nach einer Geschäftstransaktion, die nicht nur in Taiwan, sondern überall auf der Welt hätte stattfinden können.


YI YI – Trailer (DE) | Restaurierung zum 25. Jahrestag

Erstellungsdatum: 19.12.2025