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Radikaler Wandel im Bauen

Zur Nachahmung empfohlen!

Adrienne Goehler


The Bark Project, Charlett Wenig und Johanna Hehemeyer-Cürten, 2020, in ZNE!, Uferhallen Berlin 2023

Es fühlt sich nach dem richtigen Moment an, Gewohnheitsstränge zu verlassen und neue Allianzen einzugehen. Wie die Ausstellung „ZUR NACHAHMUNG EMPFOHLEN! erkundungen in ästhetik und nachhaltigkeit“ (ZNE!) zeigte, vermögen interdisziplinäre Fördermodelle Netzwerke zu schaffen, die mehr im Sinn haben als die Unterwerfung unter herkömmliche Kriterien wie Produktorientierung und Outputzwang, schreibt Adrienne Goehler.

 

 

Erkundungen in Ästhetik und Nachhaltigkeit

„Die Klimakrise ist eine Kulturkrise und somit auch eine der Vorstellungskraft“, notiert der Schriftsteller Amitav Ghosh und hat damit auch ein Aufgabenfeld skizziert. Die dramatischen Veränderungen unserer Lebensgrundlagen benötigen das Zusammenwirken der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte. Wir brauchen neue Denk-, Bewegungs- und Organisationsformen, um die Herausforderungen unserer Gegenwart annehmen zu können. Durchlässigkeiten und Verbindungen zwischen Künsten, Wissenschaften, Bewegungswissen und partizipatorischen Verfahren. Und Kooperationsprojekte mit veränderungswilliger Wirtschaft. Wir müssen kulturpolitisch größer denken und brauchen Visionen eines zukunftsfähigen Lebens, die sich mit Sinn(lichkeit), der Lust und der Leidenschaft des eigenen Handelns verbinden lassen.


Solar Powered Electric Chair (o-grid), David Smithson, 1992/2011, in ZNE!, Uferhallen Berlin 2023. Foto: Andreas Rost

Die Idee zu der Ausstellung „ZUR NACHAHMUNG EMPFOHLEN! erkundungen in ästhetik und nachhaltigkeit“ (ZNE!) verdankt sich meinem Privileg, als Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds vier Jahre beobachtet zu haben, wie und an was Künstler_innen gerne arbeiten würden, wenn sie ihren Lebensunterhalt damit verdienten, mit ihren ästhetischen Mitteln Teil der unabdingbar notwendigen Transformation zu werden, statt sich und die Umwelt mit nicht nachhaltigen Kurzzeit projekten zu verschleißen.

13 Jahre haben wir in vier verschiedenen Kontinenten die Relevanz künstlerischer Fragestellungen für die genuin kulturelle Herausforderung der globalen Verwerfungen gezeigt, die inhaltliche Ausweitung des individuellen künstlerischen Resonanzraums vor Augen geführt, alte Kulturtechniken wiederaufgenommen und koloniale Praktiken befragt. Die Versuchsanordnungen der insgesamt 128 Künstler_innen aus 29 Ländern, ihre Erfindungen und Interventionen, die architektonischen wie ästhetischen Reflexionen, haben die Grenzen zwischen Kunst, Forschung und Erfindungen verschwimmen lassen. Die Arbeiten kreisen um die großen und existenziellen Fragen unserer Gegenwart – und alle fordern sie das individuelle Handeln heraus. Immer geht es um die transformierende Kraft der Kunst, ihre Imaginationsfähigkeit und Probierlust als eine der unerschöpflichen menschlichen Ressourcen. 

Am Ende dieser 13 Jahre bleibt die grundlegende Erkenntnis, dass uns weiterhin die Grundlage zu kontinuierlicherem, interdisziplinärem Forschen und Handeln fehlt. Wir brauchen öffentliche wie private Förderungen. Für die gewollten Durchlässigkeiten zwischen Kunst, Wissenschaft, Erfindungen und Bürger_innenforschung müssen sie ressort- und disziplinübergreifend sein. Es braucht die Stärkung der Vorstellungskraft eines guten Lebens, sinnliche Erkenntnis. Genau das meint Ästhetik.


Das Haus vom Acker, Norbert Höpfer, 2023, in ZNE!, Uferhallen Berlin 2023

Für das Ausstellungsfinale hat sich ein Kernthema herauskristallisiert: Bauen aus natürlichen Werkstoffen, nachwachsend, kompostierbar, die wenig Wasser und wenig Pestizide brauchen, CO₂-neutral oder CO₂-negativ sind, lärm- und wärmedämmend. Häuser und Fassaden aus Schafwolle, Hanf, ein Dom aus Rinde, Pilzbausteine als Baumaterial und ihre Kombinierbarkeit untereinander wurden in Workshops untersucht, interdisziplinär getestet, in Abendgesprächen zwischen den Exponaten vertieft.

Stellvertretend für die vielen Abendgespräche will ich das zwischen der Künstlerin Christin Lahr und Vera Meyer als Wissenschaftlerin und als Künstlerin bei ZNE! nennen: „Pilze als Transformations- und Werkstoff, Verflechtungen zwischen Kunst und Wissenschaft“. Für Christin Lahr sind Pilze mehr als höchst effziente und resiliente Lebewesen und Transformatoren. Parallelen zu ihrer Arbeit sieht sie unter anderem in deren exponentiellen Strategien und kooperativen Ökonomien, basierend auf einem vertrauensvollen statt konkurrierenden Vernetztsein.

In Vera Meyers Forschungsvorhaben legen sich Kunst und Wissenschaft förmlich übereinander, etwa in ihrem bildhaften und ansteckenden Sprechen. Fühlt sich ein bisschen wie 3D an, auch ohne Brille. Die Arbeit der Pilzrhizome wird plötzlich ganz körperlich wahrgenommen und löst schiere Gedankenexplosionen aus. Vera Meyer braucht für ihre streng-akzentuierte wissenschaftliche Beweiskraft gleichzeitig das Überschießende und schäumende der Kunst, in ihrer Behauptungs- und Erweiterungslust, die sie zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führt. Sie navigiert zwischen Natur- und Ingenieurswissenschaften, Kunst, Design und Architektur und entwirft mit anderen – kollaborativ statt kompetitiv – biobasierte Szenarien für mögliche Lebens- und Wohnwelten der Zukunft. Ein Haus aus Pilzen wäre einfach zu kompostieren, rückstandslos, sollten wir zwangsläufig zu Klimanomad_innen werden müssen. Das sagt sie leicht dahin und alle finden es plausibel. Und noch etwas wird an dem Abend so deutlich: Die Komplexität der aktuellen Geschehnisse mache unumgänglich, von einem »Ich« zum „Wir“ zu kommen. Weil niemand diese Welt mehr allein verstehen könne, brauche es verschiedene Zugänge und Perspektiven. Komplexe theoretische Zusammenhänge müssen ästhetisch, das heißt durch die Sinne erfahrbar und somit verständlich werden.


Palas por pistolas (Schaufeln statt Pistolen), Pedro Reyes, 2012, und The end of the forest, Dina Shenhav, 2008/2023, in ZNE!, Uferhallen Berlin 2023

Aus der Summe solcher Gespräche und Workshops entstand der Wunsch, die gemeinsame multidisziplinäre Praxis fortzusetzen und dort hinzugehen, wo die Realisierung größtmöglichen Sinn machen und sich zur Nachahmung empfehlen könnte. Den Schritt machen vom Zeigen zum Tun. Dort, wo die Bauindustrie in den Startlöchern steht, um die in Trümmern liegenden Orte konventionell mit Beton aufzubauen, setzen wir einen spür- und nachweisbaren ökologischen Kontrapunkt, durch ein Bau-Pilotprojekt in der Ukraine, in einem Dorf in der Oblast Mykolaiv, mit nachwachsenden Wertstoffen: HOPE HOME • НАДІЯ. Wir bieten dem Bausektor die Stirn, dem größten Umweltverschmutzer der Welt, verantwortlich für 40 Prozent des globalen CO₂-Ausstoßes, für 60 Prozent des globalen Mülls und mehr als 70 Prozent des Flächenverbrauchs. Gleichzeitig wird nur ein Prozent der verbauten Materialien wiederverwendet.

Kriegs- und Erdbebengebiete sind daher nicht nur Schauplätze menschlicher, sondern auch unübersehbar  ökologischer Tragödien. Ohne einen radikalen Wandel dieses Bausektors durch Kreislaufwirtschaft und nachwachsende Baustoffe wird eine nachhaltige Zukunft nicht möglich sein. Wir machen uns auf, um von der Dekontaminierung von Böden, dem Anbau von biologischen Baustoffen oder der Wiederverwendung von Materialien zerstörter Häuser über den modellhaften Häuserbau bis zur Skalierbarkeit, dem Gründen von Laboratorien und Manufakturen, die ganze Strecke zu erarbeiten, um ein Kapitel der künftigen betonminimierten Baugeschichte zu schreiben. Im Kooperieren zwischen Fach- und Erfahrungswissen, mit Hochschulen, zwischen Kunst und Design, mit Unternehmen, Schäfern_innen, Bäuer_innen, Bewohner_innen und Behörden in Mykolaiv. In diesem experimentellen, unmittelbar wirksamen Miteinander vor Ort liegt nicht nur eine Chance für künftige regionale Wertschöpfung, sondern auch für ein Wieder-zu-sich-selbst-, Wieder-nach-Hause-Finden der Menschen nach ihren traumatischen Erfahrungen. Und einmal mehr stellen wir fest, wie dringend wir für derlei notwendige Arbeit neue Fördergefäße brauchen.

 

 

Erstellungsdatum: 04.03.2025