R.W. Fassbinders Lale Andersen und Daniel Kehlmanns G.W. Pabst
Wenn man sieht, wie honorige Personen den Mächtigen ohne Not zu Willen sind, stellt sich die Frage, wie hättest du, in Not, gehandelt? Tatsächlich lässt sich diese Frage nur moralisch, nicht aber ethisch beantworten. Die Entscheidung ist nur in der konkreten persönlichen Situation zu fällen. In einem Film und einem Buch geraten von den Nationalsozialisten begünstigte Prominente in diese Situation. Rolf Schönlau beschreibt das Problem.
„Man kann es sich nicht immer aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben will“, sagt Willie (Lale Andersen) in Rainer Werner Fassbinders Film Lilli Marleen von 1981. Sie hat sich den Nazis angedient, sich prostituiert, ist verstrickt in das Regime, um Karriere zu machen und Erfolg zu haben. Lale Andersens Biografie ist für Fassbindern nur ein Anlass, um seine Sicht über Künstler darzulegen, die sich der Verwertung durch den Faschismus nicht, wie etwa Marlene Dietrich, konsequent verweigert haben.
Zitat auf dem Umschlag von Daniel Kehlmanns Roman Lichtspiel von 2023: „Dieser ganze Wahnsinn, dieser teuflische Wahnsinn, gibt uns die Möglichkeit, einen großen Film zu machen. Ohne uns wäre alles genauso, niemand wäre gerettet, niemand besser dran. Aber es gäbe den Film nicht.“ Erst der Kontext verdeutlicht das Teuflische daran, denn es sind die Worte des Regisseurs G.W. Pabst, an die sich sein Kameramann erinnert, während er eine Szene mit Komparsen aus dem KZ dreht. Der Film ist verschollen, die Szene erfunden, der Roman ein Werk der Fiktion, worauf Kehlmann ausdrücklich hinweist.
Zentrale Szenen im Film wie im Roman spielen zu Beginn des 2. Weltkriegs: Bei Fassbinder wird das Lied Lilli Marleen in der Nacht zum 1. Sept. 1939 aufgenommen, während Hitler den geplanten Überfall auf Polen als Vergeltungsmaßnahme an die Leute bringt. Bei Kehlmann trifft G.W. Pabst am 30. August 1939 bei seiner hilfsbedürftigen Mutter in Österreich (der Ostmark) ein, fällt am 31. August in seiner Bibliothek von der Leiter, verletzt sich schwer an der Hüfte und erfährt am nächsten Morgen von seiner Frau, dass Krieg ist und die Grenzen geschlossen sind. Beide Protagonisten sitzen fest: Die eine kann das Lied nicht mehr zurücknehmen, der andere trotz Visum, Affidavit und Geld nicht nach Amerika zurückkehren.
Willie liebt Robert, den Komponisten ihres Liedes, der für eine jüdische Fluchthelferorganisation arbeitet. Die beiden werden getrennt. Ein hoher SS-Gruppenführer, der Willie entdeckt hat, sein Adjutant und der Pianist, der sie bei den Auftritten begleitet – alle begehren sie, aber Willie hält an ihrer Liebe zu Robert fest. Das ist der nicht korrumpierbare Kern ihrer Existenz. Fassbinders Lale Andersen verkauft sich mit Haut und Haar, ist die Visitenkarte des Nazi-Regimes, wird zur Verkörperung ihres Liedes, unterschreibt sogar die Autogrammkarten mit Lilli Marleen, aber im Innersten bleibt sie sich treu. Aus Liebe zu Robert schmuggelt sie sogar einen Film mit Aufnahmen aus einem KZ aus dem Land. Die beiden treffen sich noch einmal. Als Willie erkennt, dass die Gestapo die Sache arrangiert hat, um Robert festzunehmen, versucht sie sich umzubringen. Vollgespritzt und leichenblass muss sie noch einmal auftreten, weil der Mythos weiterleben muss. Auch der Pianist stirbt an Lilli Marleen, denn als er zwischen die Fronten gerät und das Lied hört, glaubt er, auf der deutschen Seite zu sein, aber wer da singt, ist Marlene Dietrich.
„Wenn er Englisch gelernt hätte, wären wir vielleicht nicht …“, sagt Pabsts Frau Trude bei der Premiere seines Films Paracelsus in Salzburg. Sie führt den Gedanken nicht aus, weil überall Spitzel sein könnten, sie muss es auch nicht, denn die Leser wissen genau, was sich anschließen würde: … wären wir vielleicht nicht nach Deutschland gekommen, wäre sein Hollywood-Film A Modern Hero kein Flop geworden, hätte er mit dem Produzenten verhandeln können, hätte er ein besseres Drehbuch und bessere Schauspieler bekommen, hätte ihm niemand beim Drehen hineingeredet und wäre ihm kein Cutter vor die Nase gesetzt worden. Gerade ihm, G.W. Pabst, der immer sagte, dass erst beim Schnitt der Film gemacht wird. Die Gedankenkette von Englisch bis Filmschnitt ist schon allein dadurch, dass sie sich durch das ganze Buch zieht, als sich verfestigende Überzeugung, als Lebenslüge gekennzeichnet. Die Wirklichkeit war anders: Bei seinem letzten Film für Goebbels‘ Reichsfilmkammer, den 1945 in Prag gedrehten Der Fall Molander, hatte Pabst einen womöglich noch schlechteres Stoff – ein Roman des Nazi-Dichters Alfred Karrasch –, einen sehr engen Drehplan und bis auf den Hauptdarsteller Paul Wegener nur drittklassige Schauspieler zur Verfügung, aber bei Kameraeinstellungen und Schnitt pfuschte ihm niemand ins Handwerk. Der verschollene Film ist zumindest in Kehlmanns fiktiver Nacherzählung ein Meisterwerk. Pabst konnte als nicht eindeutig belastet nach dem Krieg weiterdrehen, aber war, wie es im Roman heißt, „zu einer Zukunft kleiner und verzichtbarer Filme“ verurteilt.
Zum Abschluss ein kleines Gedankenspiel: Hätte Kehlmanns G.W. Pabst sein eigenes Credo über den Filmschnitt zur Richtschnur seines Handelns gemacht, hätte er also seinen Namen als Aushängeschild in Hollywood oder in Berlin nur hergegeben, wenn er für den Schnitt zuständig ist, wäre er so unabhängig geblieben wie Fassbinders Lale Andersen.
Erstellungsdatum: 20.07.2025