Zum Sammelband „Kritische Theorie als Metaphysik“
Von der Scholastik zur Frankfurter Schule – die Metaphysik hat Karl-Heinz Haag nicht verlassen. Haag (1924–2011) studierte in Sankt Georgen scholastische Philosophie und bei Max Horkheimer und Heinrich Weinstock an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo er sich mit der Arbeit „Transzendentale Logik in der Neuscholastik“ habilitierte. Peter Kern veranstaltete zum 100. Geburtstag des Philosophen ein Symposion, dessen Ergebnisse er in einem Buch zusammenfasste. Alexander Schubert hat es rezensiert.
Im Dezember 2024 fand an der Goethe Universität Frankfurt ein Symposium zum Thema Kritische Theorie und das Erbe der Metaphysik statt, unter Beteiligung des AStA und der Unibibliothek, des Instituts für Sozialforschung, der Uni St. Georgen und gefördert vom Kulturdezernat der Stadt Frankfurt. Dies war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, zuallererst dadurch, dass es überhaupt stattfand: ein Symposium zum 100. Geburtstag von Karl-Heinz Haag (1924–2011), einem Denker, der der Frankfurter Schule zugerechnet wird, und der 1971 im Alter von 47 Jahren dem Hochschulbetrieb freiwillig den Rücken gekehrt hat, um als Privatgelehrter fernab der Öffentlichkeit seine Studien fortzusetzen und in den verbleibenden 40 Jahren seines Lebens ganze zwei Werke zu publizieren.
Ich hatte das Vergnügen, an dieser erstaunlich gut besuchten Tagung teilzunehmen und war beeindruckt vom Inhaltsreichtum und Tiefgang der meisten Beiträge, was sich wohltuend von vielen anderen Kongressen unterschied, da die Referenten ganz im Sinne Haags wirklich mit Herzblut und Leidenschaft für die Sache auftraten, statt sich – wie oft üblich – in eitler Selbstdarstellung zu ergehen. Es wurden unterschiedliche Aspekte von Haags Werk abgedeckt, und es gab genügend Raum nicht nur für Fragen, sondern vor allem auch für kontroverse Diskussion.
Das Ergebnis dieses Symposiums ist nun im Verlag Humanities Online erschienen, herausgegeben von Peter Kern, dem Initiator und Kurator dieser Veranstaltung. Die Publikation ist sehr gelungen und durchaus lesenswert, was nach dem Verlauf des Symposiums auch nicht anders zu erwarten war. Allein, wer jetzt denkt, die Theorie eines Philosophen, der außer seiner Dissertation im wesentlichen nur zwei Werke publiziert hat, sei relativ überschaubar und einfach zu erfassen, muss sich getäuscht sehen. Ausnahmslos alle Autoren dieses Bandes versuchen zwar, ihrer habhaft zu werden, letztlich werfen sie aber mehr Fragen auf, als dass sie Antworten geben. Und es drängt sich der Verdacht auf, dass dies nicht an ihnen, den Referenten, liegt, sondern am Gegenstand ihrer Vorträge selbst – Karl Heinz Haag.
Der erste Aufsatz von Günther Mensching über Die nominalistische Wende und die Begründung der kritischen Theorie gibt in aller Kürze einen Überblick über das, wie man heute sagen würde, Framework der Haag‘schen Philosophie: Das Verhältnis von Natur und wissenschaftlicher Erkenntnis vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Universalienstreits und der kantischen Erkenntniskritik; die Bedeutung des Nominalismus für die Entwicklung von Aufklärung und modernem Denken; aber auch dessen Kehrseite, die zur totalitären Pervertierung der Aufklärung, zu positivistischer Quantifizierung und kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsverhältnissen – auch gegenüber der Natur – führt. Haags Antwort darauf ist eine quasi-theologische „negative Metaphysik“, wobei durchaus zu debattieren wäre, ob dies tatsächlich eine Auflösung der konstatierten Aporien und Widersprüche ist oder nicht vielmehr deren Verstetigung und Verstärkung.
Auch die Beiträge des Theologen Stephan Herzberg und des emeritierten Ordinarius für mittelalterliche Philosophie und philosophische Theologie, Theo Kobusch, beziehen sich naturgemäß auf den Nominalismusstreit, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Herzberg stellt Haags Position im Zusammenhang mit der theologischen Tradition des Thomismus und der Neuscholastik, sowie der Theo-Ontologie von Haags Lehrer Caspar Nink dar. Haag hat in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition („Ganz allein durch Aufklärung der Vergangenheit lässt sich die Gegenwart begreifen“ – dieses Goethe-Zitat dient ihm als Motto seiner Schrift über den Fortschritt in der Philosophie) die Problematik der klassischen Metaphysik ausführlich rekonstruiert, wie es vor ihm auch schon Kant, Hegel, Marx oder Horkheimer/Adorno getan haben. Anders als diese, welche die aporetische Metaphysik dialektisch aufzulösen trachteten, sei es durch transzendentale Dialektik (Kant), spekulative Dialektik (Hegel), historisch-materialistische Dialektik (Marx) oder negative Dialektik (Adorno), unternimmt Haag den Versuch ihrer Rettung. Da dies als „affirmative Metaphysik“ nicht möglich scheint, entwickelt er die Hilfskonstruktion einer „negativen Metaphysik“: Weil wir die letzten Dinge und Grundprinzipien der ansichseienden Welt nicht positiv beschreiben können, müssen wir uns ihnen quasi ex negativo nähern, indem wir definieren, was sie nicht sind. Herzberg bemüht sich um eine wohlwollende Würdigung der negativen Metaphysik, er fühlt jedoch intuitiv, dass dieser Trick die Problematik nicht auflöst, sondern lediglich versteckt (S. 67). Haag hat zwar durchaus ein kritisches Verhältnis zu Scholastik, Nominalismus sowie Begriffsrealismus, er bleibt in seiner Argumentation und seiner Terminologie jedoch deren epistemischem Paradigma verhaftet.
Für den geneigten Leser, der sich in der philosophischen Debattengeschichte nicht so gut auskennt, liefert Kobuschs Aufsatz Zur Kritik des Abstraktionsbegriffs ergänzende Hintergrundinformationen zur Einordnung der komplexen Beziehung Haags zur klassischen Tradition und speziell zur thomistischen Scholastik. Der Artikel ist außerordentlich kenntnisreich, was die Historie angeht. Dennoch trägt auch er nicht zur Präzisierung der Haag’schen Position bei, was man ihm nicht zum Vorwurf machen kann, da Haags Position eben selbst einige Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten enthält, wie Kobusch an einigen Beispielen verdeutlicht.
Neben Caspar Nink gelten Horkheimer und Adorno als die wichtigsten Lehrer und Beeinflusser Haags. Wolfgang Bock versucht entsprechend in seinem Beitrag über die „negative Metaphysik“ Bezüge zu Horkheimers Positivismuskritik und Adornos „negativer Dialektik“ herzustellen. Er versucht mit vielen Verweisen die Gemeinsamkeiten mit, aber auch die Unterschiede zu Adornos negativer Dialektik aufzuzeigen. Die angeführten Materialien sind recht aufschlussreich, auch die Querbezüge zwischen Adorno und Walter Benjamin sind durchaus interessant. Daraus ergibt sich, wie schon beim Bezug zur scholastischen Tradition, ein recht komplexes Beziehungsgeflecht, das jedoch über eines nicht hinwegtäuschen kann: Adornos negative Dialektik und Haags negative Metaphysik sind einander diametral entgegengesetzt.
Haags Grundüberzeugung ist es, und darauf zielt auch der Beitrag von Peter Kern ab, dass jede Wissenschaft, und insbesondere die Naturwissenschaften, ein metaphysisches Fundament braucht, um so etwas wie einen Wahrheitsanspruch zu erheben. Verkürzt gesagt, es muss etwas Absolutes geben, vor dessen Hintergrund das Relative der Einzelwissenschaften Bestand hat, sonst gäbe es nur Chaos des Mannigfaltigen und haltlosen Relativismus. Dieses Absolute (Haag nennt es göttliche Vernunft), ist für Haag so absolut, dass wir keinen unmittelbaren Zugang dazu haben können, sondern wir ihm nur ex negativo annähern können, das heißt in Form einer negativen Metaphysik.
Im Gegensatz dazu nähert sich Adorno der Thematik von einer völlig anderen Warte aus. Nichts ist ihm verdächtiger als das Absolute, sei es in Form von Metaphysik, Ontologie oder Identitätsphilosophie. Er ist auf der Suche nach dem Nichtidentischen als demjenigen, was sich der Unterordnung unter die Identitäten entzieht und damit emanzipatorische Kraft entfaltet. Kritik an den Naturwissenschaften oder am Positivismus benötigt keinen Standpunkt des Absoluten als Voraussetzung, sie kann immanent durchgeführt werden als Kritik ihrer Konstitutionsbedingungen und ihrer gesellschaftlichen Vermittelt- beziehungsweise Bedingtheit. Hier könnte der Gegensatz größer nicht sein: Während Adorno das Nichtidentische gegenüber dem Identischen stärken möchte und daraus die prozessuale negative Dialektik entwickelt, zielt Haag auf das Hyperidentische ab, kann sich diesem jedoch nur negativ, vermittels einer negativen Metaphysik nähern. Gerhard Schweppenhäuser hat dazu sehr treffend bemerkt: „Negative Metaphysik ist genauso Metaphysik wie Positive auch.“ (Dieses Zitat wird im Buch sowohl von Kern als auch von Bock angeführt, die sich allerdings beide davon distanzieren.)
Peter Kern hebt in seinem Aufsatz die bedeutende Rolle der Religion beziehungsweise der Theologie im Haag‘schen Denkkosmos hervor. Er stellt dann die – natürlich nur rhetorische – Frage, ob dies denn überhaupt noch mit der Kritischen Theorie vereinbar sei. „Und wie bitte soll es von hier zur Politik einer aufgeklärten Linken gehen?“ Er bemüht dazu Walter Benjamins berühmtes Bonmot, wonach die Theologie heute noch ein hässlicher Zwerg sei (analog dem fake Schachcomputer auf dem Jahrmarkt), die jedoch in Zukunft vom historischen Materialismus in Dienst genommen werden müsse, um die Unterdrückten zu erlösen. Kern fordert die Revision der „überkommenen Religionskritik“ und die Rehabilitierung des religiösen Bewusstseins als „emanzipatorische Ressource“ (S. 100). Als solche könne sie zur Mobilisierung der Subjekte – heute etwa der wissenschaftlich qualifizierten Geistesarbeiter oder „organischen Intellektuellen“ im Sinne Gramscis – im Befreiungskampf beitragen. – Als Kern diese These übrigens im Symposium vortrug, provozierte er im Publikum großen Widerspruch, einige befürchteten darin den möglichen Keim eines religiös-fundamentalistischen Sendungsbewusstseins, was weder mit Benjamin noch der Kritischen Theorie insgesamt zu vereinbaren sei. Bei Benjamin zielte der messianische Aspekt jedenfalls nicht auf die Vereinigung der Massen hinter einer religiösen Ideologie, sondern vielmehr auf das Unterbrechen der historisch-metaphysischen Kontinuität der Herrschaftsgeschichte. Er zielt auf Disruption und Eingedenken, „Dialektik im Stillstand“ und damit auf die retroaktive Erlösung der in der Vergangenheit Besiegten, Geknechteten und Getöteten.
Hermann Kocyba versucht in seinem Beitrag, anhand der Beziehung von Haags Philosophie und Hans-Jürgen Krahls marxistischer Hegelkritik die gesellschaftskritische Dimension der Nominalismusdebatte herauszuarbeiten. Krahl, einer der führenden intellektuellen Köpfe der 68er Studentenbewegung an der Uni Frankfurt, hatte ja einmal die Hegel’sche Wesenslogik als „Klassenkampf Gottes mit sich selbst“ bezeichnet. Kocyba verweist auf Parallelen zwischen Haags und Krahls Hegelkritik, weist aber auch darauf hin, dass beider Kritik sich einem sehr eindimensionalen und der damaligen Zeit geschuldeten Hegelverständnis verdankt, das mittlerweile überholt ist, insofern es durchaus auch alternative Hegelinterpretationen gibt, von hermeneutisch-bedeutungslogischen bis hin zu (post-)strukturalistischen, kritisch-systemtheoretischen oder auch feministischen Ansätzen. Weder Krahl noch Haag hatten einen Zugang zu solchen „negativ-dialektischen“ Lesarten der Hegel’schen Philosophie. Haags Nachlassverwalterin Friderun Fein zufolge machte dieser sich sogar über den dialektischen Kerngedanken Hegels, die „Bewegung von Nichts zu Nichts“, lustig (S. 33f.). Dieses Konzept entzog sich völlig seinem essentialistischen Weltverständnis.
Insgesamt gibt das Buch einen sehr gelungenen Einblick in den Denkkosmos von Karl Heinz Haag und seiner Community. Biografische, philosophiegeschichtliche, politische und theologische Aspekte ergänzen sich zu einem Gesamtbild, welches einfach und komplex zugleich ist. Ein akademischer Außenseiter, der seine Hauptwerke in selbstgewählter Eremitage verfasst hat. Gewissermaßen ein „Anti-Akademiker“, der dennoch stets die Resonanz und Anerkennung aus dem akademischen Betrieb suchte, wie André Möller bemerkt (S. 169f.). Ein tiefgründiger Denker, der seinen Fokus auf die ewigen Grundfragen der Metaphysik gelegt hat: Wie kommt Erkenntnis zustande, wie gehen wir mit der Natur um, was ist das Absolute, wird die Welt durch eine göttliche Vernunft zusammengehalten? Ein Werk, das auf die Einlösung des Erlösungsversprechens abzielt, aber letztendlich fragmentarisch und unvollendet geblieben ist. Und die Auszüge aus Haags sogenannter Beigen Mappe mit Vorarbeiten zu seinem Werk über Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung (2005) – ein echtes Highlight im Anhang des Sammelbands –, unterstreichen den unvollendet-fragmentarischen Charakter seiner Theorie eher als dass sie sie komplettieren. Dies allein ist völlig unproblematisch und hat sogar einen gewissen Charme. Wohlwollend könnte man die Offenheit und Fragmentarik sogar als eine Art „rhizomatischen“ Denkens im Sinne von Deleuze/Guattari interpretieren. Eine gewisse Tragik entsteht jedoch dann, wenn trotzdem der Anspruch auf Absolutheit und göttliche Vernunft erhoben wird. Dieser Anspruch bleibt letztlich unerfüllt.
Für eine Beurteilung des Buchs im Geiste der Kritischen Theorie muss natürlich auch eine kritische Würdigung erlaubt sein. Haags Hauptwerk Der Fortschritt in der Philosophie ist 1983 erschienen. Seither, in mehr als 40 Jahren, hat sich in der Philosophie oder in der Wissenschaft doch einiges getan. Erkenntnisse der aktuellen Kognitions- und Wissenschaftsforschung, philosophische Versuche der Entwicklung eines non-naturalistischen Naturbegriffs bis hin zu Crossover-Philosophien einer Karen Barad oder Donna Haraway zählen durchaus auch zum Fortschritt in der Philosophie. Vor diesem Hintergrund hat der Naturbegriff von Haag etwas seltsam Nostalgisches. Allein das Postulat, die Natur hätte eine intrinsische Wertigkeit und basiere auf göttlicher Vernunft, wird nicht ausreichen, den Herausforderungen von Naturzerstörung, Digitalisierung, künstlicher Intelligenz oder Posthumanismus angemessen und zukunftsweisend zu begegnen. Dazu bedarf es eines dialektischen, multidisziplinären Naturverständnisses, das über die Dichotomie von Nominalismus und Realismus hinausgeht. Eines, wie es etwa Alfred Schmidt eingefordert hat (worauf übrigens Kocyba in seinem Beitrag dankenswerterweise hinweist) – ebenfalls ein Adorno-Schüler an der Universität Frankfurt und Herausgeber von Horkheimers Gesammelten Schriften. Schmidt war auch auf der Homepage des Symposiums abgebildet, neben Horkheimer, Adorno und Haag. Für mich ist es schon verwunderlich, dass Haag die Arbeit seines Fachbereichskollegen offenbar völlig ignoriert hat und sich stattdessen lieber mit Ockham, Duns Scotus oder den Neuscholastikern beschäftigt hat. Dabei hätte Schmidt durchaus einige diskussionswürdige Ansätze zum Thema Kritische Theorie und Metaphysik zu bieten gehabt, welche auch heute noch interessante Anknüpfungspunkte etwa für eine moderne Naturphilosophie im Zeitalter des Anthropozäns enthalten.
Peter Kern (Hrsg.)
Kritische Theorie als Metaphysik:
Karl Heinz Haag
Studien und Kommentare
Mit einem Anhang
Karl Heinz Haag:
Zentrale Probleme der abendländischen Philosophie
Nachgelassene Notizen des Autors
236 S., brosch.
ISBN: 978-3-941743-44-1
Humanities Online, Frankfurt am Main 2025
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Erstellungsdatum: 28.05.2025