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Beethovens Göttermusik mit Schillers Versen

Alle Menschen klingen

Matthias Buth


Glaspokal (1811) mit Noten und Text der „Ode an die Freude“, aus der Werkstatt von Gottlob Samuel Mohn. Foto: Wolfgang Sauber. wikimedia commons.

Die Verknüpfung der Sprachbilder in Schillers kurzgefasster „Ode an die Freude“ mag abenteuerlich sein, – die Emphase hält alles zusammen. Beethoven tat mit dem opernhaften Schlusschor ein Übriges. Der Freudenjubel formt sich zum Hymnus. Die politischen, philosophischen, metaphysischen und musikalischen Hintergründe des Chorlieds „Freude, schöner Götterfunken“ werden im Buch „Alle Menschen werden Brüder“ von Ute Jung-Kaiser reflektiert. Und Matthias Buth hat es gelesen.

 

Was macht uns aus, was zum Menschen, der sich äußert, behauptet und verständlich macht?

Im Anfang war das Wort, sagt das Johannes-Evangelium und nimmt den Logos sogleich in die kosmische, in die göttliche Dimension, die jedoch geerdet, ja vermenscht ist durch die Fortsetzung des Satzes, wonach Wort und Gott verbunden sind und „unter uns gewohnt“ haben, da das Wort Fleisch geworden ist. Das sind poetische Sätze der christlichen Religion. Nicht alle verstehen diese, vielleicht entziehen sie sich auch dem menschlichen Aufnahmevermögen. Und: Ist Sprache Kultur oder Natur? Kant und Herder beugten sich über diese Frage.

Bereits vor 600.000 Jahren soll nach neueren Erkenntnissen der Gehörgang der Menschen so geformt worden sein, dass es diesem möglich war, Frequenzen weiterzuleiten, die Konsonanten erkennen ließen: erste Sprachformen entstanden. Eine Urform der Sprache soll sogar noch weiter zurückliegen, vielleicht schon 1,8 Millionen Jahre, beginnend mit der Zeit, als die Vor-Menschen in der Lage waren, den Atem zu kontrollieren, was durch erweiterte Nervenkanäle in den Wirbelknochen möglich wurde, die man eben schon beim Vorfahren des Homo sapiens findet, dem Homo ergaster.

Bis der Mensch zum Wort kam, war es eine immense Entwicklung, welche einherging mit der Ausprägung seines Nervensystems, also seiner wachsenden Fähigkeit, Sinneseindrücke aufzunehmen und zu äußern. Der Neandertaler sprach nicht mit Worten und Begriffen, aber er verständigte sich in der Gruppe, auf der Jagd, am Feuer und bei jedem sexuellen Kontakt. Seine Laute werden konsonantengetränkte Äußerungen gewesen sein, ein Lallen und Stammeln, das sich über viele Jahrhunderte immer weiter differenzierte. Wann das erste Wort als Verständnis-Code entstanden ist, bleibt diffus. Wohl vor 50.000 Jahren sind die ersten Worte entstanden – in Afrika. „Aja“ soll das erste Wort gewesen sein und für „Mutter“ stehen, „Mano“ für „Mann“ und „Tika“ für „Erde“. Vokale machen die Sprache aus. Aus Konsonanten und Vokalen ergeben sich Schwingungen und so Differenzierung. Menschliche Laute waren somit zunächst Klang.

Dieser Erkenntnis sind wir nah, wenn wir das vernehmen, was Kinder seit der Geburt von sich geben, durch Schreien, Lallen, Weinen und Brabbeln. Es ist differenzierter als lange angenommen. Auch Babys sprechen mit eigenen Codices innerhalb ihrer ersten Lebens- und Wahrnehmungswelt. Und deren erstes Wort ist meist „Mama“, ganz „Aja“ verwandt. Es ist Ausdruck von Freude, ja ein Jubelruf, und bildet das aus, was zur Identität führt.

Es ist tragisch, ja macht geradezu bitter, dass die Nationalsozialisten als Parole eine Erkenntnis gekapert haben, die uns heute nicht mehr über die Zunge geht, dennoch so ganz stimmig ist: Kraft durch Freude. Freude erfüllt die Seele und mobilisiert Kräfte, die man zuvor nicht kannte. Der Anblick auf etwas Schönes, auf einen geliebten Menschen oder die Rettung vor Krankheit und Tod, lösen Freude aus und führen zu Kräften, die einen fast fliegen oder tanzen lassen. Jubel und Singen sind verschwistert.

Im Hymnus „Alle Menschen werden Brüder“ werden Musik und Dichtung verwoben. Jeder Mensch wird davon mitgerissen, und wir Deutsche haben das Glück, dass gerade Ludwig van Beethoven und Friedrich Schiller diesen Freudentaumel geschaffen haben. Das macht Deutschland als das Unheil-Land des 20. Jahrhunderts nicht vergessen, lässt uns aber doch wurzeln im romantischen Musikjahrhundert zuvor.

Was war zuerst? Die Sprache, die Dichtung Schillers oder die Musikidee des Komponisten? Und wie oszillieren beide?

Eine tief lotende Studie zur Musik-Ode an die Freude. Die Frankfurter Musikwissenschaftlerin Ute Jung-Kaiser geht „Schillers Utopie und Beethovens Verheißung“, wie es im Untertitel heißt, mit sprachlicher Eleganz und profunder Kenntnis nach, ja, man will das 300 Seiten starke Buch gar nicht aus der Hand legen. Denn es fesselt und vermittelt Erkenntnisse nicht nur über die Welt der beiden Sprach- und Musikschöpfer, sondern lässt zugleich erkennen, was Deutschland und Europa geistesgeschichtlich begründet. Allerdings spart die Autorin die nähere Diskussion des Beethoven‘schen und Schiller’schen Gottesbegriffs aus.

Die Schiller-Ode bekrönt die Beethoven-Symphonie, sie nimmt Verse hinzu, die an einigen Stellen eigentlich zu leicht sind, dem musikalischen Gebirge der vier Sätze nicht entsprechen. Schiller sah in dem Epos auch nicht sein Meisterwerk und meinte im Brief vom 21. Oktober 1800 an Christian Gottfried Körner, die Freude sei nach „jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft“ und „ob sie sich gleich durch ein gewisses Feuer“ empfehle, sei sie doch ein schlechtes Gedicht“. Und wörtlich: „Deine Neigung zu diesem Gedicht mag sich auf die Epoche seiner Entstehung gründen; aber diese giebt ihm auch den einziger Werth, den es hat, und auch nur für uns und nicht für die Welt nicht für die Dichtkunst.“ Die 1785 geschriebene Ode hatte schon den Atem, der dann in Paris im Jahre 1789 zum Dreiklang „Liberté, Egalité, Fraternité“ führte und freimaurerische Weltsichten einfing.

In der Zeit der Restauration um 1824, als Beethoven sein Meisterwerk schuf, wollte er zurück zur Utopie des Weltfriedens, ein kantischer Impetus, der auch in der dritten Symphonie, der Eroica, hineinweht.

Auch ohne die Götterfunken-Apotheose wäre die Neunte ein Manifest von Geist, Schönheit und Beglückung. Die symphonische Erzählung des gequälten Menschen hin zum Erlösungslicht würde auch ohne das Schiller-Gedicht erkennbar und mitnehmen. Der Klang des Orchesters ist weitaus bedeutender als die Verse, die dann durch den Chor im Orchester aufgehen und sich mit den menschlichen Stimmen verbinden. Der Chor quasi als zweites Orchester.

Richard Wagner bekannte, „die Neunte sei Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft.“

Beethoven verschwistert das menschliche mit dem göttlichen Lieben, Musik als ein Aufgehen in Gott.

Das Andante maestoso im Schlusssatz führt zu der gipfelnden Aussage „Brüder! Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Der Komponist will den Hörer die Summe aller Musik erkennen lassen und gibt der Symphonie einmal mehr sakralen Charakter und das in schmetterndem Fortissimo im Schlussteil des Chorfinales, das zunächst durch das Unisono der Männerstimmen schon mächtig, dann durch den Einsatz der Frauenstimmen jauchzend und überwältigend klingt.

Das Freudenthema und das Sakralmotiv werden verbunden, also Himmel (Sakralmotiv: „über ‘m Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“) und Erde (Freudenthema: „Alle Menschen werden Brüder“). Beethoven meint „den Schöpfer-Gott“, nicht Christus. Johannes Brahms spricht in „Ein deutsches Requiem“ ebenso nicht den Menschensohn an und aus, sondern wählt die Bibelstellen so aus, dass Gott ein ferner Tröster bleibt. Damit wird eine klare Dissonanz zum dreifaltigen Gott der Christenheit erkennbar. Der Vater „über‘m Sternenzelt“ ist für Dichter und Komponist wohl nicht derjenige, der aus dem Wort zu Fleisch geworden und zum Vater gegangen ist. Der Götterglaube der Griechen bestimmt Gedicht und Musik. Goethe lässt den Gottsucher Faust, nach dem „Allesbeweger“ fragen. Gretchen bringt es auf den Punkt und erkennt, dass Faust kein Christentum in sich trägt. Goethe und sein Alter Ego Schiller sahen sich eher freimaurerisch und formulierten das antikirchlich und religionskritisch. Dieses Geistes- und Weltsicht nahmen später auch Atheisten auf. Nach Aufklärung und Französischer Revolution blieb als religiöse Anwandlung maximal ein nichtchristlicher ferner Schöpfergott übrig. Für Kant war Gott nicht mehr als eine regulative Idee. In diesem Gedanken- und Empfindungsstrom bewegt sich die Götterfunken-Komposition und ist insofern weit entfernt von einem zweiten Grundwerk der abendländischen Musik, der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Ein bloßer Theismus war Bachs Sache nicht, wie hätte er seine Musik, seine Kantaten und Oratorien sonst schreiben können? „Jesus bleibet meine Freude“, das setzte Bach, nicht Beethoven in Klang.

Beethoven hatte den Schillertext lange im Auge, eine Ode in der Tradition Pindars. Die Weltumarmung ist in den Gedichtversen angelegt, man könnte fast sagen, die orchestrale Wucht spüle sie hinweg. Nur wenige Zeilen sind jedem gewärtig, die freudetrunkenen Ausrufe „Freude, schöner Götterfunke“, „Alle Menschen werden Brüder“ und „Diesen Kuss der ganzen Welt“.

Heinrich Heine, der geniale Dichter und Spötter, sah die Schiller’sche Dichtung kritisch, zu viel Geist, zu wenig Poesie, und stellte fest: „Bei Schiller feiert der Gedanke seine Orgien – nüchterne Begriffe, weinlaubumkränzt, schwingen den Thyrsus, tanzen wie Bacchanten – besoffene Reflexionen.“

Jung-Kaiser durchmisst alle Stationen von Schillers Gedicht, seinem Kant‘schen transitorischen Impetus, der sich mit jenem von Beethoven trifft. Göttermusik entstand, ein funkenschlagendes Gesamtkunstwerk, das sich die Europäer als Hymne gegeben haben und die eine Weltmusik geworden ist. Deutsch und romantisch. Die Rezeption von Schillers Utopie, die in Beethovens Sternenklängen aufgeht, führt die Autorin mit Können und Leidenschaft vor Augen.

Wirklich erfassen und in seine eigene Sprach- und Empfindungskosmos überführen kann man dies alles nie, wie alle Kunst bleibt viel offen und jede und jeder hört und fühlt anders. Musik ist das Medium, das alle Sprachen aufnimmt und vergessen machen kann. Klänge liegen vor dem Menschen, vor den ersten Worten. Und sie gehen ihnen nach, wenn die Sätze und Verse verklungen sind. Im Anfang ist der Klang und – im Ende auch. Er überlebt. Alle Menschen singen, im Konzert, in Kirchen und in unseren Erinnerungen, die alle Partituren sammeln.

Ute Jung-Kaiser
„Alle Menschen werden Brüder“
Schillers Utopie – Beethovens Verheißung
298 S., brosch.
ISBN 978-3-487-16773-2
Georg Olms Verlag, Baden-Baden 2024

 
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Erstellungsdatum: 16.12.2024