Christian Schloyers Lyrik nimmt eine solitäre Stellung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ein. Es ist eine Experimentalpoesie par excellence. Das lyrische Ich bleibt wie im Vorgängerband JUMP ’N‘ RUN, in dem es um eine apokalyptische Menschheitsdämmerung als Folge technischen Fortschritts ging, ein homo ludens, ein spielender Mensch. Nur als solches erträgt es auch im neuen Doppelband Mars-Venus den Populismus, das Patriarchat und den Leistungsfetisch seiner Welt sowie die Selbstzerstörung des homo sapiens. Alexandru Bulucz hat die Neuerscheinung gelesen.
„Venus“ und „Mars“ liegen kopf- und gegenüber. Und so ist dieses Werk auch aufgebaut. „Venus“, möchte man denn damit anfangen, kann man wie gewohnt von vorne nach hinten lesen. Dann kann man das Buch umdrehen, auf den Kopf stellen und sich auf die Lektürekoordinaten des „Mars“ einlassen. Oder man alterniert: Man liest eine Seite aus der einen Richtung, dreht das Buch, ohne umzublättern, um 180 Grad und liest die benachbarte Seite aus der anderen Richtung.
Mars und Venus sind bei Christian Schloyer nicht der Kriegsgott respektive die Liebesgöttin, also das berühmte Liebespaar aus der römischen Mythologie. Hier geht es um die gleichnamigen Planeten, die als erdähnliche Himmelskörper seit Jahrzehnten daraufhin untersucht werden, ob sie sich als Menschensiedlungen eignen. Wobei der Mars aufgrund seiner lebensfreundlicheren Eigenschaften in den Vordergrund der Untersuchung gerückt ist.
Christian Schloyer entwirft eine lyrische Planetologie, darauf angelegt, die Evolution nachzuvollziehen, vom Urknall bis zum menschengemachten Klimanotstand und anderen ökologischen Krisen sowie einer Erde, die bald zu einem unbewohnbaren Habitat werden könnte:
„wir sind nur zufällig […]
mithörende solange wir zu verstehen
suchen wir uns immer nur selbst […] hören immer nur das was wir zu […] sagen haben
spricht wer […] über uns? über das fortwährende […] versagen zivilisatorischer
intelligenz? über den […] sekundenschnellen zerfall
der evolution & wie der […] zufall kam in unsre gene? sich über uns […] entfaltete? ein
atmosphärisches […] leck (damit überschüssiges glück […] entweichen konnte)“
Der „Venus“-Teil ist als wütende Schuldzuweisung ein Frontalangriff, nicht nur auf eine abstrakte Menschheit als Ganzes, wie sie in der Wendung vom „Versagen zivilisatorischer Intelligenz“ zum Ausdruck kommt, sondern ganz konkret: auf die sogenannte Mehrheitsgesellschaft und deren alle Lebensbereiche erfassende Konzepte, sei es die Atomkraft- oder die Auto- wie Autobahnlobby, die Konsumkultur, der Marktliberalismus mit seinem nur auf sich selbst bezogenen Unternehmertum à la Elon Musk oder der Kreationismus – die religiöse Auffassung also, dass das Universum und das Leben so entstanden sind wie in der Genesis beschrieben.
Mit anderen Worten: Es gibt im „Venus“-Teil eine kapitalismus- und religionskritische Botschaft. Er ist von der grünen Idee getragen, wie sie in Klimaschutzinitiativen wie Fridays for Future oder Letzte Generation zum Tragen kommt, und nimmt die Reaktion der Widersacher dieser umweltpolitischen Richtung in provokanter Manier vorweg:
„frei sind wir + großspurig einhellig + stetig high
way to hell! auf frischgefiederten straßen […] schlachten wir klimagender-
klebesternchen! rufts […] hinter den 7 bergen (der tod ist ein autobahn
meister aus deutschland!) lasst uns das auto leben […] wie adipöse einkaufswagen über
allem schweben
über den wolken (muss die freiheit wohl) über allem […] woken lasst uns weiterhin
grenzenlos sein“
Grünes Denken, der Ruf nach gendergerechter Sprache, geschlechtliche Identität jenseits von Binarität (an einer Stelle chiffriert in einem sich die Fuß- und Fingernägel lackierenden tibetischen Mönch) – das sind wesentliche Reizthemen der Gegenwart, an denen sich die Geister der Progressiven auf der einen und der Konservativen bis Populisten auf der anderen Seite spalten. Christian Schloyer greift auch den Generationenkonflikt auf: Sein Sohn und dessen Generation müsse „mit unserer ramponierten Weltbühne irgendwie klarkommen“, wie es in der Widmung zum „Mars“-Teil heißt.
Das Gegengewicht zur Unversöhnlichkeit der lyrischen Erzählinstanzen ist die literarische Form selbst, beginnend mit dem exzessiven Einsatz der Auslassungspunkte. Sie nehmen die Funktion des Zeilensprungs ein oder werden als Instrument zur Sprachanalyse bis in die morphologische Struktur der Wörter eingesetzt. Christian Schloyer scheut, um Klangstrukturen der Sprache freizumachen, nicht einmal vor der agrammatikalischen Worttrennung zurück: „irregulär“ wird zum Beispiel in „irr“ und „egulär“ geteilt.
Hinzu kommt der Gebrauch des Englischen, der schnelllebigen Digitalsprache und der translingualen Assoziation, die auch einmal bei „majesty“ beginnen und bei „matjes […] filets“ landen kann. Unverkennbar also der Einfluss der Lautpoesie des Dadaismus und anderer experimenteller Sprachströmungen.
Dass sich das Werk nicht nur auf das Sprachspiel beschränkt, zeigt sich dann im „Mars“-Teil, der eine Spielanleitung mit Regeln bereithält und sich als ein „Text Adventure Game“ erklärt, nach dem Vorbild des gleichnamigen Computergamegenres aus den Siebzigerjahren. Der Text ist hier die feindselige Landschaft des roten Planeten, und der Leser kämpft ums Überleben. Es gilt nach genauer Anweisung hin- und herzuspringen. Auf Seite 9 wird man etwa angehalten, „zurück nach norden“ zu kehren und sich „nach süden“ weiterzukämpfen. Das hieße dann, zur Seite 43, dem Gedicht „ausgangspunkt“, respektive zur Seite 37, dem Gedicht „migrationshintergrund marslandschaft“, umzublättern.
Christian Schloyers Experimentalpoesie, nunmehr im Mantel der Ideologiekritik, genießt eine solitäre Stellung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sie konterkariert thematische Schwere mit der spielerischen Form eines auf die Spitze getriebenen Assoziationsfurors und einer Art lyrischem Schachspiel. Die Ernsthaftigkeit des Lebens und Überlebens wird zum Feld des lyrischen Spiels. Wobei es weniger darum geht, es der Kategorie der Verständlichkeit zu unterwerfen und aufzulösen, als es ästhetisch zu genießen.
Eine Kurzversion dieses Beitrags wurde am 3. Februar 2025 im Büchermarkt des Deutschlandfunks gesendet.
Christian Schloyer
VENUS-MARS
Gedichte
120 S., brosch.
ISBN 978-3-948305-27-7
poetenladen, Leipzig 2024
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Erstellungsdatum: 11.02.2025