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Christian Schloyers Gedichtband „Venus / Mars“

Auf frischgefiederten Straßen

Alexandru Bulucz


Mars. Foto: Arthur Ribeiro, pixabay

Christian Schloyers Lyrik nimmt eine solitäre Stellung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ein. Es ist eine Experimentalpoesie par excellence. Das lyrische Ich bleibt wie im Vorgängerband JUMP ’N‘ RUN, in dem es um eine apokalyptische Menschheitsdämmerung als Folge technischen Fortschritts ging, ein homo ludens, ein spielender Mensch. Nur als solches erträgt es auch im neuen Doppelband Mars-Venus den Populismus, das Patriarchat und den Leistungsfetisch seiner Welt sowie die Selbstzerstörung des homo sapiens. Alexandru Bulucz hat die Neuerscheinung gelesen.

 

 „Venus“ und „Mars“ liegen kopf- und gegenüber. Und so ist dieses Werk auch aufgebaut. „Venus“, möchte man denn damit anfangen, kann man wie gewohnt von vorne nach hinten lesen. Dann kann man das Buch umdrehen, auf den Kopf stellen und sich auf die Lektürekoordinaten des „Mars“ einlassen. Oder man alterniert: Man liest eine Seite aus der einen Richtung, dreht das Buch, ohne umzublättern, um 180 Grad und liest die benachbarte Seite aus der anderen Richtung.

Mars und Venus sind bei Christian Schloyer nicht der Kriegsgott respektive die Liebesgöttin, also das berühmte Liebespaar aus der römischen Mythologie. Hier geht es um die gleichnamigen Planeten, die als erdähnliche Himmelskörper seit Jahrzehnten daraufhin untersucht werden, ob sie sich als Menschensiedlungen eignen. Wobei der Mars aufgrund seiner lebensfreundlicheren Eigenschaften in den Vordergrund der Untersuchung gerückt ist.

Christian Schloyer entwirft eine lyrische Planetologie, darauf angelegt, die Evolution nachzuvollziehen, vom Urknall bis zum menschengemachten Klimanotstand und anderen ökologischen Krisen sowie einer Erde, die bald zu einem unbewohnbaren Habitat werden könnte:

 

wir sind nur zufällig […]

mithörende solange wir zu verstehen

 

suchen wir uns immer nur selbst […] hören immer nur das was wir zu […] sagen haben

 

spricht wer […] über uns? über das fortwährende […] versagen zivilisatorischer

intelligenz? über den […] sekundenschnellen zerfall

 

der evolution & wie der […] zufall kam in unsre gene? sich über uns […] entfaltete? ein

atmosphärisches […] leck (damit überschüssiges glück […] entweichen konnte)“

 

Der „Venus“-Teil ist als wütende Schuldzuweisung ein Frontalangriff, nicht nur auf eine abstrakte Menschheit als Ganzes, wie sie in der Wendung vom „Versagen zivilisatorischer Intelligenz“ zum Ausdruck kommt, sondern ganz konkret: auf die sogenannte Mehrheitsgesellschaft und deren alle Lebensbereiche erfassende Konzepte, sei es die Atomkraft- oder die Auto- wie Autobahnlobby, die Konsumkultur, der Marktliberalismus mit seinem nur auf sich selbst bezogenen Unternehmertum à la Elon Musk oder der Kreationismus – die religiöse Auffassung also, dass das Universum und das Leben so entstanden sind wie in der Genesis beschrieben.

Mit anderen Worten: Es gibt im „Venus“-Teil eine kapitalismus- und religionskritische Botschaft. Er ist von der grünen Idee getragen, wie sie in Klimaschutzinitiativen wie Fridays for Future oder Letzte Generation zum Tragen kommt, und nimmt die Reaktion der Widersacher dieser umweltpolitischen Richtung in provokanter Manier vorweg:

 

frei sind wir + großspurig einhellig + stetig high

 

way to hell! auf frischgefiederten straßen […] schlachten wir klimagender-

klebesternchen! rufts […] hinter den 7 bergen (der tod ist ein autobahn

 

meister aus deutschland!) lasst uns das auto leben […] wie adipöse einkaufswagen über

allem schweben

 

über den wolken (muss die freiheit wohl) über allem […] woken lasst uns weiterhin

grenzenlos sein

 

Grünes Denken, der Ruf nach gendergerechter Sprache, geschlechtliche Identität jenseits von Binarität (an einer Stelle chiffriert in einem sich die Fuß- und Fingernägel lackierenden tibetischen Mönch) – das sind wesentliche Reizthemen der Gegenwart, an denen sich die Geister der Progressiven auf der einen und der Konservativen bis Populisten auf der anderen Seite spalten. Christian Schloyer greift auch den Generationenkonflikt auf: Sein Sohn und dessen Generation müsse „mit unserer ramponierten Weltbühne irgendwie klarkommen“, wie es in der Widmung zum „Mars“-Teil heißt.

Das Gegengewicht zur Unversöhnlichkeit der lyrischen Erzählinstanzen ist die literarische Form selbst, beginnend mit dem exzessiven Einsatz der Auslassungspunkte. Sie nehmen die Funktion des Zeilensprungs ein oder werden als Instrument zur Sprachanalyse bis in die morphologische Struktur der Wörter eingesetzt. Christian Schloyer scheut, um Klangstrukturen der Sprache freizumachen, nicht einmal vor der agrammatikalischen Worttrennung zurück: „irregulär“ wird zum Beispiel in „irr“ und „egulär“ geteilt.

Hinzu kommt der Gebrauch des Englischen, der schnelllebigen Digitalsprache und der translingualen Assoziation, die auch einmal bei „majesty“ beginnen und bei „matjes […] filets“ landen kann. Unverkennbar also der Einfluss der Lautpoesie des Dadaismus und anderer experimenteller Sprachströmungen.

Christian Schloyer
VENUS-MARS
Gedichte
120 S., brosch.
ISBN 978-3-948305-27-7
poetenladen, Leipzig 2024
 
 
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Erstellungsdatum: 11.02.2025