Namen von Landschaften, Städten und Dörfern sind Chiffren für Geschichte und Geschichten. Sie zu entziffern und sich damit unserer Geschichte innezuwerden, ist ohne Recherchen meist nicht möglich. Dass die Geschichte, zumal die deutsche Geschichte im Osten Europas, dennoch weiterwirkt, mag auch Irrationales zwischen den Nachbarn erklären. Matthias Buth hat sich auf den Weg begeben.
Kaum einer kennt mehr die Straßen, die Namen der Städte im Osten. Sie sind ferne Vergangenheit, lange schon versenkt ins Moor des Vergessens. Das östliche Europa eine terra incognita: Erst jetzt kommt es jetzt wieder an die Oberfläche unseres historischen Bewusstseins durch den Krieg, den Putin entfesselt hat und über den östlichen Teil unseres Kontinents führt, erst digital, dann mit „grünen Männern“, nun mit seiner Armee, mit Drohnen, Artillerie und Panzern. Die Ukraine ist nur der Anfang. Er will sein russisches Imperium zurück, das die Kremlherrscher mal hatten und das wiederherzustellen der in Dresden sozialisierte KGB-Mann sich geschichtlich begründet, schlicht, aber effektiv. Wohl 70 Prozent der Bevölkerung in der Russischen Föderation leuchtet das ein und tragen Putins Ideologie, der nicht mit seiner Armee die Ukraine angegriffen hat, sondern sich – so seine Parole – gegen den „kollektiven Westen“ verteidigt. Aber plötzlich schauen bei ARD und ZDF auf die Landkarten, sehen das Stückchen (Nord) Ostpreußen wie einen Flugzeugträger zwischen den Baltischen Staaten und Polen liegen, lauernd: Die Oblast Kaliningrad.
Wer kennt Deutsch-Eylau? Wo kann dieser Ort liegen? Die Vorsilbe „Deutsch“ kommt in Ortschaften vor, die in Rumänien liegen, wie zum Beispiel „Deutsch-Weißkirch“ im Kreis Kronstadt/Brasov, bekrönt von der prächtigen Kirchenburg zum Schutz vor osmanischen Reitertrupps, heute leben dort von ehemals 300 deutschen Siedlern noch 24. Die Vorsilbe „Deutsch“ war Ausdruck für Selbstbehauptung. Gegründet wurde der Ort im 12. Jahrhundert von sächsischen Siedlern, im 16. Jahrhundert entstand die Kirchenburg. In anderen Regionen des östlichen Europas gab es viele Burgen, aber keine Kirchenburgen. Aber Bezeichnungen begründen Status und Anspruch. Mit Ortsnamen sollte auch in West- und Ostpreußen, auf der Krim und wo sonst Deutsche ist Osteuropa siedelten, gesagt werden: Wir sind hier und wollen bleiben. So auch in Deutsch-Eylau. Heute liegt die ehemals westpreußische Stadt in Polen und heißt Ilawa, in Ermland-Masuren. Es gab aber auch einmal Preußisch-Eylau in der Oblast Kaliningrad gelegen, es heißt russisch Bagrationsnowosk. Preußen in der Vorsilbe klingt noch imperialer als Deutsch, ist eben Siedler-Deutsch.
Die Christen-Ritter des Deutschen Ordens bedrängten die Pruzzen, bis sich verschwanden und im Namen Preußen aufgingen. Der Name Preußen ist in Städtenamen wie „Preußisch Oldendorf“ noch präsent und in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, ein Name, den die ehemalige Staatsministerin Claudia Roth gerne streichen wollte, gilt dieser ihr und ihren politischen Mitstreitern doch als gestrig, abwegig oder gar für politisch gefährlich. Dass unsere Nationalkicker im Schwarz-weiß der preußischen Farben auflaufen, in Münster gar eine Zweitliga-Mannschaft so heißt, der letzte Hohenzollern-Kronprinz sich dem NS-Staat anbiederte, Preußen kulturgeschichtlich jedoch kein Begriff für Abschaum und Militarismus ist, sondern zum deutschen Einheitsstaat von 1871 führte, zu Voltaire, zu Mozarts preußischen Quartetten und zu Kant und Schopenhauer und zu Lebensmaximen wie „Mehr sein als scheinen“, wird politisch oft weggezoomt.
Preußisch-Eylau ist uns heute fern, gehört zum russischen Staatsgebiet, de facto seit 1945, völkerrechtlich freilich erst durch den 2 plus 4 – Vertrag vom 12.9.1990, den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ der vier Alliierten und Siegermächte mit den beiden deutschen Staaten. Auch die Sowjetunion stimmte dem Vertrag zu, der einen Friedensvertrag ersetzte und Verbindlichkeit über die Abtretung der nach der Haager Landkriegsordnung an sich völkerrechtswidrig annektierten Ostgebiete des Deutschen Reiches schuf. So wollte es der Kreml und das von ihm gesteuerte Polen. Die Grenzen sind anerkannt und sakrosankt.
Das war nicht immer so. Die alte Bundesrepublik Deutschland (von 1949 bis 1990) betrieb 20 Jahre lang eine Erinnerungs- und so Geschichtspolitik, die sich in der politischen Forderung „Deutschland dreigeteilt? Niemals“ widerspiegelte. Die überparteiliche Vereinigung „Kuratorium Unteilbares Deutschland – Ausschuss für Fragen der Wiedervereinigung e.V.“ hatte sich in Bad Neuenahr 1954 gegründet und setzte sich für die politische Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1937 ein, also einschließlich der nunmehr historischen Ostgebiete. 1992 wurde der Verein aufgelöst. Herbert Wehner war dabei und weitere Bundespolitiker wie Jakob Kaiser, Paul Löbe, Ernst Lemmer, Hermann Ehlers und Bundespräsident Theodor Heuss, der den Namen vorschlug. Es war also keine sinistre NPD-Organisation, die aber - ich erinnere mich an die Plakate in den Bahnhöfen der Wuppertaler Schwebebahn – gerne 1962 Willy Brandt zitierte, der sich diese Parole zu eigen gemacht hatte. Der Aufruf, zu Weihnachten Kerzen ins Fenster zu stellen, um sich zu den „Menschen drüben“ zu bekennen und die Organisation des millionenfachen Versendens von Päckchen in die „Zone“, zu den „Menschen hinter Mauer und Stacheldraht“, waren Ausdruck einer Politik, die heute von manchen belächelt wird, jedoch in Westdeutschland mit Ernst und Nachdruck betrieben wurde, parteiübergreifend. Nach dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 umso mehr. Herbert Hupka (Chef der Landsmannschaft Schlesien) war viele Jahre Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, bevor er zu CDU wechselte.
Preußisch-Eylau gab es als Name noch lange im Westen Deutschlands. An der Bundesautobahn A 27 auf 162 Kilometern zwischen Cuxhaven und Bremerhaven bis Bremen. Nicht real, aber als Bezeichnung einer Raststätte. Wie die Pressestelle des Bundesverkehrsministeriums mitteilt, wurde die so benannte Raststätte inzwischen „geschlossen bzw. rückgebaut.“ Preußisch-Eylau wurde 1325 vom Deutschen Orden gegründet, der dem Ort bald eine „Handfeste“ erteilte, eine in den Siedlungen der Ordensritter häufige gewendete Urkundeform, die Rechte und Privilegien begründete zur Gerichtsbarkeit, zu Hofgrößen sowie zu Mühlen-, Fischerei- und Bierbraurechten. Daraus folgte 1348 eine Handfeste für die Siedlung und 1585 durch Herzog Georg Friedrich das volle Stadtrecht. Im Umgangsdeutsch wird heute noch – bei einem Streit - von einem handfesten Krach oder von handfesten Typen gesprochen; daher kommt der Begriff.
1807 erlitt Napoleon in Preußisch Eylau seine erste Niederlage. Der russische General Fürst Bargation, der das preußische Heer unterstützte, trug mit dazu bei. Nun trägt die Stadt seinen Namen. Das ca. 60 Kilometer von Königsberg gelegene Städtchen mit im Jahre 1939 nur 7431 Einwohnern wurde im Februar 1945 von der Roten Armee überrannt, die Deutschen flohen oder wurden vertrieben - wie fünfzehn Millionen andere aus den historischen Reichs- und Siedlungsbieten. Drei Millionen unserer Landsleute im Osten überlebten nicht.
Die Gebiete von Flucht und Vertreibung waren seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 politisch präsent. Es gab sogar von 1949 bis 1969 ein eigenes Ministerium in Bonn, das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlingen und Kriegsgeschädigte, das im Zuge der Brandt´schen Ostpolitik aufgelöst wurde und dessen Aufgaben in Teilen an das Bundesinnenministerium gingen. Daneben gab es seit 1949 das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, das ab 1969 als Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen firmierte und 1991 aufgelöst wurde.
Nahe liegend wäre gewesen, wenn die Geschichtspolitik auf den Autobahnen von diesen Ressorts betrieben worden wäre, die Raststätte Preußisch-Eylau (zwischen Dreieck Walsrode und Kreuz Bremen) war nämlich kein Einzelfall. Es gab und gibt bis auf den heutigen Tag zahlreiche (Namens-) Gedenkorte an den Autobahnen. Die Städtenamen sind ungleich verteilt, so gibt es die Raststätten „Allenstein“, „Kolberg“ und „Stettin“ an der A 2, „Landsberg an der Warthe“ sowie „Tilsit Ost und West“ an der A 3 (allerdings inzwischen geschlossen und zurückgebaut) und an „Königsberg Nord und Süd“ (also in beiden Richtungen) wird auf der A 44 erinnert.
Allenstein liegt in der polnischen Woiwodschaft „Ermland-Masuren“ und heißt heute Olzstyn. Der bekannte Soziologe und Wissenschaftspolitiker Wolf Lepenies wurde in Allenstein 1941 geboren, auch der SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski (1922-2005). Aber warum gerade Allenstein den Deutschen ins historische Bewusstsein vermitteln? Königsberg, die Krönungsstadt der preußischen Könige seit 1701 (Friedrich III. von Brandenburg wurde am 18. Januar Friedrich I, König in Preußen, da es außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation lag); ja, das leuchtet ein. Auch Stettin in West-Pommern an der Odermündung, wo das Schloss der pommerschen Herzöge steht sowie Kolberg, beides Hanse-Städte an der Ostsee haben Erinnerungswert, wenngleich manche mit Kolberg eher den Durchhaltefilm aus dem Jahre 1945 von Veit Harlan (Titelrolle: Heinrich George) auf Wunsch des NS-Propagandaministers Goebbels verbinden.
Tilsit, einst Stadt in Ostpreußen, kann wohl nicht wie Danzig einen weiten Nachklang zur deutschen Siedlungsgeschichte im östlichen Europa erzeugen und so den gesetzlichen Wunsch, die östlichen Provinzen „im Bewusstsein des deutschen Volkes und des Auslands“ (so der Kulturparagraf 96 im Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz – BVFG) zu erhalten, erfüllen. Mit Landsberg an der Warthe (früher: Rastplatz Kutscheider Hof), dessen Namenschild der Autofahrer auf der A 3 im Westerwald wahrnehmen kann, können die wenigsten etwas verbinden. Die Stadt wurde vor 750 Jahren gegründet, war Kreisstadt in der Mark Brandenburg und ist heute die größte in der Woiwodschaft Lebus in Polen. Prägend für die Erinnerungsspuren?
Wer hat sich das alles ausgedacht, wo doch Städte wie Breslau, Neiße, Opeln, Danzig und Glogau fehlen, von den Städten in den Siedlungsgebieten der Deutschen wie im rumänischen Banat und Siebenbürgen oder der Bukowina einmal abgesehen. Das Vertriebenen- und das gesamtdeutsche Ministerium waren es nicht. Zum Erinnerungspolitiker schwang sich der Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm auf, von 1949 bis 1966 im Amt und zugleich Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Der über 17 Jahre amtierende Verkehrsminister gab die Richtung vor und erließ Rundschreiben an die Länderkollegen, die nach Artikel 90 GG die Autobahnen als Auftragsverwaltung betreiben. Und er fügte – imperial - hinzu, dass die lieben Kollegen ihm über das von diesen zu Veranlassende zu berichten hätten. Nicht allen passte das. Aber viele Städtenamen sind geblieben, im Westen.
Dass die DDR-Verwaltung auf solche Ideen nicht kam, lag ideologisch nahe, denn die SED sah die Bundespublik auf Hort des Revanchismus und der Friedensfeinde, hatte das Begriffs-Tandem „Flucht und Vertreibung“ längst eliminiert und etikettierte die etwa vier Millionen Deutschen aus den Ostgebieten in ihrem Machbereich euphemistisch als „Umsiedler“. Das Görlitzer Abkommen mit der VR Polen (auch „Görlitzer Grenzvertrag) vom 6. Juli 1950 sollte die Provinzen rechtlich verabschieden, was aber erst 1990 möglich war.
Und was folgt aus alledem? Autobahnen denken lautlos, aber so, wie der Staat es diesen vorgibt.
Das Bundesverkehrsministerium teilt auf Anfrage mit, dass die Rastanlagen an den Bundesautobahnen landschaftsbezogene Namen erhielten. Auf Vorschlag der Autobahn-GmbH des Bundes würden die Namen durch das Fernstraßenbundesamt bestimmt. Das klingt nach viel outgesourcter Demokratie und Sachkenntnis. Und: es gebe keine Absichten, die fraglichen Raststätten umzubenennen. Das ist ein Wort.
Die Geschichte lebt fort, ist eigentlich immer Gegenwart. Und zum Selbstverständnis Deutschlands als europäisch gewachsene Kulturnation gehören auch Städte wie Stettin, Königsberg, Breslau, Prag, Czernowitz oder Hermannstadt. Städte sind Erinnerungsorte, besiedelt vom Geist der Menschen, die dort leben oder gelebt haben. Die deutsche und europäische Aufklärung ist ohne Immanuel Kant nicht denkbar, Joseph von Eichendorffs Gedichte und Prosa gehört zu den himmlischen Spuren der deutschen Literatur, ebenso wie Volkslieder wie das „Ännchen von Tharau“ und die Lyrik von Max Hermann-Neiße. Und auch Paul Celan und Rose Ausländer aus Czernowitz waren deutsche Dichter. So wie Andreas Gryphius und der Begründer der deutschen Poesie Martin Opitz aus Danzig.
Die Bücher von Karl Schlögel sind immer lesenswert, besonders jenes mit dem sprechenden Titel „Die Mitte liegt ostwärts /Europa im Übergang“ aus dem Jahre 2008. Die Bundesregierung hat großzügig die bedeutende zehnbändige Reihe in Siedler Verlag „Deutsche Geschichte im Osten Europas“ (begründet mit dem Band „Ost- und Westpreußen“ von Hartmut Boockmann) und beschlossen mit jenem zu „Galizien - Bukowina – Moldau“ von Isabel Röskau-Rydel“ gefördert. So viel Geschichte kann man nicht zur Seite schieben oder abschreiben.
Der neue Kulturausschuss des Deutschen Bundestages und der neue Kulturstaatsminister Weimer sollte sich dieser Geschichte endlich umfassend zuwenden und es herausholen aus dem Fördergarten des § 96 BVFG einer sog. Vertriebenenkultur und dann die hier angesprochenen Raststätten an den Autobahnen mit Namen von Dichtern und Denkern ausstatten und so Sinn geben. Das hätte Wirkung und würde die Horizonte des Geistes öffnen. Denn diese machen uns als Deutsche aus. „Was aber bleibet, stiften die Dichter“, meinte Friedrich Hölderlin. Das klingt ein wenig selbstüberschätzend, ist aber auch nicht abwegig. Günter Grass bekannte sich in seinen letzten Lebensjahren zur deutschen Kulturnation und ausdrücklich bei Einweihung der Bundeskulturstiftung in Halle am 23. Januar 2002. Auch der Deutsche Bundestag tat dies einstimmig im Jahre 2004 bei der Novellierung des Deutsche Welle-Gesetzes.
Also: Überlassen wir das Denken nicht den Autobahnen. Wir sind gefragt, die Bundesbürger und deren Repräsentanten beim Bund und den Ländern. Die Sprache macht Deutschland aus in Dichtung und Wissenschaft. Sie hat offene Arme.
Erstellungsdatum: 03.05.2025