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Die Wurzeln des Nahostkonflikts

„Brutale Nachbarn“

Jutta Roitsch


Jerusalem, Tempelberg. Foto: wikimedia commons

Seit der Gründung Israels hat es tätige Versuche gegeben, eine friedliche Koexistenz zwischen Juden und Arabern herzustellen. Genauso lange haben beide Seiten versucht, dies zu verhindern. Solange das Prinzip der Unversöhnlichkeit herrscht, gibt es keine Lösung für das hundertjährige Problem. Aufgrund zweier Bücher kann Jutta Roitsch diesen Kampf der „brutalen Nachbarn“ besser verstehen und deren Lektüre nur empfehlen.  

 

Freiheit wäre, nicht zwischen Schwarz und Weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten.“ Mit diesem Satz des deutsch-jüdischen Philosophen Theodor W. Adorno, geschrieben im kalifornischen Exil, publiziert in den Minima Moralia, wendet sich der 1954 in Zürich geborene israelische Wissenschaftler José Brunner an seine Leserinnen und Leser. „Brutale Nachbarn. Wie Emotionen den Nahostkonflikt antreiben – und entschärfen können“ ist der Titel seines Buches, das jetzt in Deutsch und bisher nur in Deutsch erschienen ist. Eindringlich beschwört er auf knapp 300 Seiten, „sich nicht mit der einen oder anderen Seite zu identifizieren“. Und führt fort: „Lassen Sie sich durch die Opferdiskurse beider Seiten weder abschrecken noch verführen.“

Mit seinem Buch schreckt er weder ab, noch verführt er. Er zwingt zum Nachdenken, wie es zu diesem nahezu hundertjährigen Gewaltausbruch zwischen Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern kommen konnte. Und wie politische, nationalstaatliche Lösungen gelingen könnten, obwohl bisher alle gescheitert sind: Die „brutalen Nachbarn des Nahostkonflikts, die sich weigern, die jeweils anderen als legitime Nachbarn zu akzeptieren, nicht auf Täter und Opfer, Gute und Böse, reduzieren“, sondern sie als Menschen in einem nationalen Konflikt sehen. Sie kämpften um „Existenz, Identität, Sicherheit, Souveränität, Macht, Rechte und Territorium“. Beide wendeten Gewalt an, „und jede Nachbarnation begeht Kriegsverbrechen an der anderen – wenn auch Israel mit seiner mächtigen Armee dies in einem weitaus größeren Maßstab tut“ (S. 292).

 

Ein kühnes Unterfangen

Brunner, Politik- und Rechtswissenschaftler an den Universitäten von Tel Aviv, Harvard und Zürich, langjähriges Mitglied im Beirat des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, macht es sich (und der Leserschaft) nicht leicht. Er will die Frage beantworten, „wie es zu der unerbittlichen Brutalität dieses Konflikts kommt“ (S. 9). Im Laufe der Zeit sei er zu der Überzeugung gelangt, dass diese Brutalität „primär auf Gefühle, Grundeinstellungen, Geistesverfassungen und psychologische Dynamiken zurückgeht, aus denen der Konflikt entstanden ist und die ihn seit Jahrzehnten nicht nur antreiben, sondern mit immer neuen Wendungen aufrechterhalten – wie dies auch am 7. Oktober 2023 geschah“, dem grausamen Massaker der Hamas und ihrer islamistischen Terrortruppen auf israelischem Territorium an über tausend jüdischen Frauen, Kindern, Männern, tanzenden Menschen auf einem Musikfestival und Hunderten von verschleppten Geiseln. Und aus der Vergeltungsinvasion Israels in Gaza, die für Brunner von Anfang an „als Vernichtungskrieg angelegt“ war, ist ein weitreichender israelisch-arabischer Krieg geworden.

„Es ist ein Krieg, der zwar mit einem Gewaltexzess der Hamas begann, hintergründig jedoch lange vor dem 7. Oktober 2023 seinen Anfang nahm und sich langfristig auf die Zukunft des ganzen Nahen Osten auswirken wird.“

Um diese Hintergründigkeit geht es José Brunner, um die Akteure und die Menschen, die diesen Nahostkonflikt direkt erleben und in ihn involviert sind. Ihm geht es um Gefühle und psychologische Verfassungen. Er möchte zeigen, „wie Israelis und Palästinenser, die beiden befeindeten Nachbarn, die im Kern dieses Konflikts stehen, diesen Krieg erleben und erlebt haben“. Es ist ein „kühnes Unterfangen, weil dieser Krieg zum Zeitpunkt des Schreibens immer wieder neue Formen annimmt und weitere Grenzen überschreitet“: Im besetzten und immer stärker israelisch besiedelten Westjordanland, in Iran, in Syrien, im Süden Libanons. Kühn aber auch, weil Brunner auf rund 300 Seiten die bisher „weithin bekannten Erklärungs- und Lösungsmodelle“ hinterfragt, genauer: verwirft.

 

In existentielle Ängste verstrickt

Er hat sich vertieft in die internationale psychoanalytische und sozialpsychologische Fachliteratur, wertet sie (nachvollziehbar und gut lesbar für Nichtfachleute) mit einer überraschenden Erkenntnis aus: Israelis und Palästinenser stehen sich nicht nur als unversöhnliche Feinde gegenüber. Sie sind sich ähnlicher, als sie bereit sind zuzugeben. „Vor allem sind sie beide zu Recht in existenzielle Ängste verstrickt, die ihnen nicht erlauben, sich selbst und die andere Seite nüchtern wahrzunehmen“ (S.17). Es gehe um nationale Selbstbestimmung und internationale Anerkennung, um kollektive Identitäten und individuelle Lebensbedingungen.

„Wer hier lebt, muss bereit sein, für seine Nation zu töten und zu sterben. Und das ist kein abstraktes Prinzip, sondern Alltag.“ Das Land „from the river to the sea“ (palästinensischer …) oder „from the sea to the river” (israelischer Messianismus) „verkörpert die religiöse, kulturelle und historische Identität beider Seiten – was einer der Gründe ist, warum praktisch formulierte, rational erscheinende Lösungsvorschläge wie die einfache Zweistaatenlösung zwangsläufig ins Leere laufen.“

Mit seiner Klarheit und Entschiedenheit setzt sich José Brunners Buch von nahezu allen anderen ab, die nach dem Massaker der Hamas und dem brutalen Gaza-Krieg die Büchertische von Berlin über Paris bis Washington füllen. Mit einer Ausnahme, auf die noch einzugehen sein wird: Oren Kesslers Buch „Palästina 1936. Der Große Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts“.

José Brunner
Brutale Nachbarn
Wie Emotionen den Nahostkonflikt antreiben – und entschärfen können
368 S., geb.
ISBN: 9783549110034
Ullstein/Propyläen Verlag, Berlin 2025 
 
 
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Oren Kessler
Palästina 1936
Der Große Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts
384 S., geb.
ISBN: 978-3-446-28290-2
Hanser Verlag, München 2025

 
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Erstellungsdatum: 06.08.2025