Fotografen erschaffen das, was sie sehen, indem sie es verwandeln. Vom Lichteinfall über den Rahmen, die Positionierung der Personen oder Gegenstände darin bis zur Intention der Bewegungen – das alles hat der künstlerische Fotograf zu wählen, so wie ein Maler die Farbe, die Anlage und den Bildausschnitt wählt. Die Fotografien spiegeln deshalb die Persönlichkeit des Fotografen oder der Fotografin. Noch bis zum 26. Oktober 2025 zeigt das Frankfurter Dommuseum die Sonderausstellung „Gerald Domenig – DOM“. Zur Ausstellung gibt es ein Katalogbuch. Wolfgang Rüger hat sich beide angeschaut.
In Frankfurt gibt es eine Reihe herausragender FotografInnen. Einer davon ist Gerald Domenig. Wenn er mit dem Fahrrad unterwegs ist, können ihn mit ein bißchen Glück auch Passanten, die ihn nicht kennen, auf Frankfurts Straßen leicht identifizieren. Ein großer, hagerer Mann, um die siebzig, Glatze, „mit der Rechten das Rad lenkend, in der Linken das schwere Stativ mit der Kamera balancierend“.
Der gebürtige Österreicher („Dabei wäre ich so gerne der Ornette Coleman der Fotografie.“) ist beglückt, jetzt wenige seiner Kirchenfotos im Frankfurter Dom zeigen zu können. „Wo wäre ein Versuch, das fotografische Bild zu beschwören, besser aufgehoben als im Dommuseum?“ Der kleine Raum bietet nicht viel Platz. Um den Rang des ausgestellten Künstlers zu manifestieren, bedarf es einer kompromisslosen Auswahl aus dem Oeuvre. Domenig und der Kuratorin Bettina Schmitt ist das gelungen. Die Ausstellung zeigt über 50 Fotos in unterschiedlichen Formaten, mit einer Ausnahme alle in Schwarzweiß.
Wie eng Kuratorin und Fotograf zusammengearbeitet haben, dokumentiert das die Ausstellung begleitende Fotobuch. Ein Jahr im Voraus hat sich Domenig mit dieser Schau beschäftigt, auf sie hingearbeitet. Jetzt hängen „Fotos, die ohne Grund, ohne Anlaß gemacht“ wurden neben solchen, „die in einer bestimmten Absicht, zum Beispiel auf eine Ausstellung hin“ entstanden sind, und der Fotograf fragt sich, welche besser sind, „ob unterschiedliche Arbeitsbedingungen und Motivationslagen sich im Ergebnis widerspiegeln müssen“. Domenig kommt für sich zu einem klaren Ergebnis. „Ich bin nicht ungern Auftragskünstler. Ein guter Auftrag befreit vom Selbstverwirklichungszwang.“ Für den Betrachter ist diese Frage unerheblich. Für ihn zählt nur die Wirkung. Und in dieser Ausstellung ist sie eindeutig. Domenigs Meisterschaft, mit Licht und Schatten zu spielen, läßt keinen Betrachter unberührt. Sind die Fotos größer abgezogen wie „Das große Domfoto“ und das farbige „Kreuzgang, Detail“, dann entfalten sie eine zusätzliche Wucht.
Im Buch sind die Fotos formatbedingt kleiner, dafür zahlreicher und nicht nur schwarzweiß. Vor allem die rötliche Außenfassade des Doms bekommt hier mehr Gewicht. Das große Plus des Buches ist aber die ungewöhnliche Chance, dem Denken des Fotografen beizuwohnen. Domenig läßt den Leser und Betrachter an seinen Überlegungen teilhaben, entfaltet in aller Offenheit seine Philosophie des Fotografierens und Ausstellens. Selbstverständlich schauen wir hier keinem Knipser zu, der mit seiner Digitalkamera wahllos rumschießt. Domenig ist ein Fotograf alter Schule, der im Extremfall aus dem Sperrmüll alte, längst abgelaufene Filme klaubt, um ihnen in der Dunkelkammer dann noch Kunstwerke abzuringen. „Auch alte Dias habe ich schon gefunden, und zweimal sogar alte Diafilme. Ich ging kein großes Risiko ein, wenn ich mit ihnen fotografierte. Das Vergnügen des Fotografierens ist ein Ziel in sich, die Entwicklung war nicht teuer, und wenn die konkreten Ergebnisse indiskutabel waren, entsorgte ich sie.“
Wie old fashioned er ist, zeigt das kleine Kapitel, in dem er den Unterschied zwischen Fotos schießen und fotografieren abhandelt. „Und keiner kann Ihnen so wie ich gut begründen, warum Fotografieren das Gegenteil von Schießen ist. Wer schießt, will ein Objekt treffen. Wenn ich fotografiere, will ich ein in der Dreidimensionalität verstecktes Bild, eine latente Zweidimensionalität in ein konkretes Bild übersetzen. Schießen: aus einer beliebigen Position im Raum ein bestimmtes Objekt treffen. Fotografieren: von einem bestimmten Punkt aus, aus einer genauen Position, den Raum in einer Fläche verschwinden lassen.“
Domenig ist ein brillanter Bildermacher (er malt auch) und ein fabelhafter Erzähler. Wer das Vergnügen hatte, ihn mal live zu erleben, weiß, wovon ich rede. Vor Kurzem bin ich ihm bei einer Vernissage in der Weißfrauen Diakoniekirche begegnet, wo er in wenigen Worten und in weit ausholenden Gesten ein riesiges Gemälde seiner Kollegin Jutta Obenhuber erklärte, vor dem Amateure wie ich eher etwas ratlos standen. In dem farbenfrohen Kunstwerk, das sich wie ein Teppich über die Altarstufen ergoß, sah er sofort Dinge, die ich nicht sah. Emphatisch umriß er Obenhubers Malerei. Anschließend gab er kokette Anekdoten über sich und seinen Städelschule-Lehrer Raimer Jochims zum Besten, hier ganz der Performance-Künstler und sich seiner Rolle bewußt. „Jedem Künstler, der auf Erden zuviel geredet hat, wird in der Hölle sein eigener Folterteufel zugeteilt. Meiner hat seinen Spaß an mir.“
Domenig plaudert auch in seinen Texten scheinbar absichtslos vor sich hin („… denn meine Stärke liegt im So-dahin-Schreiben, im bedenkenlosen Schwadronieren“), dabei ist dieses Buch voller Denk-Sprengsätze. Aus Platzgründen kann ich hier gar nicht alles ansprechen und ausführen (z.B. sein Spiel mit ausgestrichenen Wörtern), nur so viel: Hier weiß einer ganz genau, was er schreibt, und er hat lange darüber nachgedacht. „Schreiben fördert das Denken auf unvergleichliche Weise. Und wer denkt, dem steht die Welt der Ideen offen.“ Domenig fotografiert seit einem halben Jahrhundert. Für die Ausstellung im Dommuseum ist er eingetaucht in seinen Fundus „von einigen hunderttausend Negativen“ und hat ein paar wenige ausgesucht, die vor seinem eigenen, rigorosen Urteil bestehen können und in das DOM-Konzept passen.
Am Beispiel dieser ausgewählten Fotos erzählt er über die Entstehungsgeschichte, macht deutlich, „… daß ein Bild nicht geliefert wird, sondern nur abgeholt werden kann, daß sein Erscheinen für gewöhnlich mit Arbeit, mit Wahrnehmungsarbeit verbunden ist“. Fast die gesamte Menschheit knipst heute, aber die wenigsten haben den Blick für ein Bild. Sein Foto vom Eisernen Steg, auf dem fast jeder der Abgebildeten ein Handy in der Hand hat, sagt alles: „Mir ist es ein Rätsel, wie die Fotografie bei mir das Denken fördert, bei den allermeisten Menschen aber zur Verblödung beiträgt.“
Ungezählte Male schon ist Domenig mit wachen Augen um den Frankfurter Dom gestreift („… um den ich übrigens für gewöhnlich im Uhrzeigersinn herumgehe“), weil er weiß: Auch Monumente verändern sich ständig. „Ich freue mich, wenn ich hin und wieder am Dom etwas entdecke, was ich bzw. was man fotografieren sollte …“ Oft sind es kleine Veränderungen oder Details, die ihm auffallen und die er aufnimmt, oder Altbekanntes, aber in neuem Licht, „wohl wissend …, daß, wenn ich es nicht fotografiere, niemand es fotografieren wird“. In einigen Jahrzehnten werden diese Aufnahmen ein historisches Dokument sein und sich Domenig damit einreihen in die Ahnengalerie der großen Frankfurt-Porträtisten, von denen jeder unter anderen Bedingungen gearbeitet hat. „Ich sage, Mylius, Geldmacher, die Gebrüder Mohr und andere unserer frühen Fotografen seien zu beneiden, sie hätten noch eine halbwegs freie Sicht auf den Dom gehabt. Kein einziges Auto in der Domstraße.“
Es gibt nur ein Foto, das die Ausmaße des Frankfurter Doms St. Bartholomäus ahnen läßt, aufgenommen von dribbdebach, mit viel Baumwerk im Vordergrund. Domenig interessiert sich nicht für das Große, ihn fasziniert das Detail, das Abseitige, der Ausschnitt. „Dort, wo ich mich fotografierend herumtreibe, treibe ich mich gerne herum. Hochangereicherte, unkontrollierte Orte, Ordnungen, Grauzonen wie Stadtrand, brachliegende Grundstücke, Baustellen, geben mir mehr Chancen zum Bild, nämlich zu Bildreichtum zu kommen.“
„Sehen ist Schweifen, Schreiben ist Abschweifen“, hat er vor 30 Jahren in einem anderen Buch geschrieben. Und deshalb erlaubt er sich auch im vorliegenden Buch ab und zu einen kleinen Abschweifer in seinen Präsens-Erzählungen. Den er dann aber sofort mit einem aphoristisch gestanzten Satz entschuldigt. „Ein kleines Imperfekt hin und wieder ist wie eine Erinnerung an das Glück dann und wann, also daß es das Glück gibt, die Glücksmomente.“ So wie die heimlich fotografierte Hütte von Ilya Kabakov, die er in einer Ausstellung gesehen, aber nicht betreten hat. Und über diesen kleinen Regelverstoß und das Versäumnis räsoniert er seitenlang, um seine Überlegungen dann in Zusammenhang zu bringen mit einem „Kapellele“, das er 1983 in Hermagor (Kärnten) fotografiert hat.
Und zu guter Letzt ist Domenig ein großer Freund des Buches. Jeder seiner Ausstellungskataloge ist eine haptische und optische Freude, seine limitierten Privatdrucke sind Sammlerstücke. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt inspiziert er jeden Bücherschrank, jede achtlos auf die Straße gestellte Bücherkiste, um die Bücher zu retten, die es nicht verdient haben, dort ihr Elendsdasein zu fristen. Wer weiß, für was sie einmal noch gut sind. „In einem Buch, das von der inneren Westwand der Kathedrale von Reims handelt, etwas finden zu wollen, was mit meinem Foto der Götterbäume an der Südseite des Stephansdoms in einen Dialog treten könnte, war das nicht vermessen? Wahrscheinlich.“
„Der einzige Begriff, der Kunst und Leben verbindet, ist Bewegung.“ Unterwegs sein und finden. Und das Finden immer wieder variieren. Vielleicht ist das die Kunst des Gerald Domenig und damit wäre er dann den Cross-over-Improvisationen des Ornette Coleman in der Fotografie sehr nahe gekommen. „Ich fotografiere es. Denn das ist eine Art Notwendigkeit. Da ist kein Gedanke an Verwertung.“ Es geht um das Festhalten des Augenblicks. „Ich bin mit meinen Bildern glücklich, so oder so, sie sind der Sinn meines Lebens.“
Tipp:
2 Dia-Shows mit Gerald Domenig im Dommuseum Frankfurt
Teil I - Donnerstag, 18. September, 19.00 Uhr
Teil II - Mittwoch, 1. Oktober, 19.00 Uhr
Gerald Domenig
Bettina Schmitt
GD DOM
184 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN 13: 9783753308838
Verlag: Walther König, Juni 2025
Erstellungsdatum: 11.09.2025