Der öffentliche Philosoph sitzt nicht mehr in der Tonne und sagt seinem König, er solle ihm aus der Sonne gehen. Er sitzt vielmehr in Fernsehstudios, im Radio, in vielen Internetkanälen und verteilt Vernunft, Esoterik, Lebenshilfe und Provokationen, die er auch in seinen Büchern vertreibt. Der akademische Philosoph übt sein Amt in der Uni aus und bleibt unbekannt. Bernd Leukert hat einige Aspekte zu einer uralten Kontroverse zusammengetragen.
Die Liebe zur Weisheit hat zu jahrtausendelangen Streitereien unter den Liebhabern geführt, denn – wie im richtigen Leben – will niemand die Geliebte mit anderen teilen. Tatsächlich ist die Angelegenheit komplizierter, selbst komplizierter als der Gegensatz zwischen akademischen und öffentlichen Philosophen, der immer wieder mal eskaliert, nach gründlichem Bedenken aber in eine versöhnlichere Anerkennung der Differenzen mündet.
Diese Differenzen gründen auf unterschiedlichen Arbeitsmethoden und dem damit verbundenen drohenden Verlust von Anerkennung und Ansehen. Die Auseinandersetzung ist dementsprechend polemisch:
„Oberflächliche Kulturen gedeihen auch auf hohem gesellschaftlichen Niveau. Der Analphabetismus hat viele Formen. Er reicht von der Lese- und Schreibschwäche bis zur Denkschwäche, und wo das Denken aufhört, beginnt das Geschwätz, z.B. im Dauerreigen der Talkshows und der Modephilosophen. In unserer Gesellschaft nimmt eine exhibitionistische Geschwätzigkeit beunruhigend zu und ein ernstes Nachdenken ab. Die Zeit wird durch das Maß des Aktuellen, oft des Seichten, nicht durch das Maß des Beständigen und des Wesentlichen geteilt – als ob es darauf ankäme, die Dummheit statt den Verstand zu demokratisieren.“1
So beurteilt der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß diejenigen Medienphilosophen, die man öffentliche Philosophen, Illusionisten, Populärphilosophen oder Modephilosophen nennt. Dabei ist die Palette der Tätigkeitsfelder für frei Philosophierende riesig – von den Gurus, die, ausgestattet mit den Sprüchen bekannter Denker, jedem Gegenargument mit einem Zitat begegnen, über jene, die als Wissende Lebenshilfe anbieten, bis zu den Universalisten, die den Kosmos der Alltäglichkeiten zu Buche schlagen lassen und eine Philosophie des Singens, des Kochens, des Laufens, des Radfahrens, des Lippenstifts, des Streichholzes oder des Kletterns publizieren, so, daß Christian Geyer am 24. Mai 2023 in der FAZ schreiben konnte: „Öffentliches Philosophieren wird gerne missverstanden als ein berufsmäßiges Meinen zu allem und jedem. ... Selbst in Philosophiemagazinen werden um der leichteren Anknüpfbarkeit an öffentlich eingespurte Fragestellungen willen politische und psychologische Herangehensweisen fälschlicherweise als Philosophie ausgegeben.“
Plato widmet den Animositäten zwischen der Akademie und den Sophisten ein eigenes Buch. Die Akademie war gedacht als eine Lehr-, Lern- und Lebensgemeinschaft. Die Sophisten dagegen ließen sich dafür bezahlen, mit rhetorischen und nicht immer lauteren Mitteln bestimmte Ansichten, auch Falschnachrichten zur gezielten Beeinflussung wichtiger Entscheidungsträger plausibel zu machen und zu verbreiten, – ein Vorgang, den man seit der Gegenreformation Propaganda nennt.
Nun hat sich seit der Antike fast alles für die nicht-akademischen Philosophen, die gegenwärtig als geistige Influencer in den Medien auftreten, verändert: methodisch, weshalb sie auch nicht mehr Sophisten heißen, und gewerblich, da sie ihr Einkommen über Vorträge, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, sowie über den Zeitschriften- und Buchmarkt erwirtschaften müssen.
Doch schon das platonische Streitgespräch zur Definition des Sophisten, das mit der Bemerkung des Fremden aus Elea endet: „Denn unter den Wissenden war der Sophist nicht, wohl aber unter den Nachahmenden. (267e)“2, verläuft nicht so parteiisch, wie der schlechte Ruf, den die Sophisten letztlich hinterließen, nahelegt.
Daniel-Pascal Zorn schreibt: „Sokrates trifft in Platons Dialogen manchmal auf Gesprächspartner, die ihm auf den Kopf zusagen, dass er ein Sophist, ein Meister der täuschenden Rhetorik sei. Es gibt sogar Lehrerfiguren wie den Fremden aus Elea im Dialog Sophistes, der zwar Sokrates nicht nennt, aber seine Herangehensweise als „edle und vornehme Sophistik“ charakterisiert. (Zorn S.46)3
Und so geht es fort bis heute, indem ein Autor den anderen zum Pop-Philosophen erklärt; wenn etwa Uwe Justus Wenzel in der FAZ vom 15.01.2020 feststellt:
„Ein anderes Beispiel verkörperter Pop-Philosophie hat weniger Ähnlichkeit mit einem massenwirksamen Propheten und mehr mit einer Sphinx oder einem Orakel. Im Rechts-links-Spektrum ist es eher auf der Hardt und Negri gegenüberliegenden Seite zu lokalisieren: Peter Sloterdijk. ... Es ist auch seine mediale Durchlässigkeit für Zeitströmungen und deren Unterströmungen, die Sloterdijk zum Paradebeispiel einer eigenen Spielart der Pop-Philosophie qualifiziert.“4
Sloterdijk schrieb aber seinerseits schon in „Zeilen und Tage III“:
„Agambens Beiträge auf dem Podium von Istanbul stellen etwas von der okkulten Mission heutiger publikumswirksamer Philosophie unter Beweis. Was soll sie denn anderes liefern als verschlüsselte Angebote für die Sehnsucht nach der großen Alternative? Die Welt ist eben doch nicht alles, was der Fall ist.“
Oder, anläßlich des griechischen Referendums 2015:
„Habermas wäre nicht der Illusionist, als den man ihn kennt, würde er nicht jetzt auch die „Position der griechischen Regierung“ unterstützen.“5
Das Ungenügen an der akademischen Philosophie wiederum gründete noch im 17. Jahrhundert auf deren sophistischer Rabulistik und der gegenreformatorischen Aneignung universitärer Freiräume.
Deshalb konnte Voltaire schreiben:
„Der Kanzler Bacon ... hatte schon frühzeitig abgelehnt, was die Universitäten als Philosophie bezeichneten; und er tat, was er konnte, daß diese Gesellschaften, eingerichtet zur Vervollkommnung der menschlichen Vernunft, nicht fortführen, sie zu verderben mit ihren Quidditäten, ihrem Schrecken der Leere, ihren substantiellen Formen und all den anmaßenden Worten, die nicht nur die Unwissenheit ansehnlich machte, sondern die eine lächerliche Vermengung mit der Religion fast heilig gemacht hatte.“6
Der Gewährsmann der freien Philosophen, Arthur Schopenhauer, der mit seiner zu Hegel in Konkurrenz gesetzten Dozentur scheiterte, konnte allerdings von seinem geerbten Vermögen und deshalb als freier Philosoph leben, ohne sich und seine Philosophie prostituieren zu müssen. Doch wer hörte sie, wer las sie?
Der Journalist Henning Ritter folgerte: „Aber kann eine Philosophie Schopenhauers, die es ausdrücklich verbietet, universitären und akademischen Gebrauch von ihr zu machen, einen anderen Adressaten haben als die Menschheit?“7
Dieser Gedanke öffnet das Tor zur öffentlichen Philosophie.
Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn behandelt in seinem Buch „Shooting Stars“ die Philosophie zwischen Pop und Akademie zunächst offensiv, indem er die heterogenen Interessen der philosophischen Parteien betont:
„Der Streit gerät deswegen unproduktiv, weil beide Parteien sich hochgerüstet gegenübertreten: die Populärphilosophie mit der Autorität des Publikums und die akademische Philosophie mit der Autorität der Wissenschaft. (S.8)3
Während die akademischen Philosophen vom sicheren Hort ihres – vorausgesetzt, sie haben eines – Lehramtes auf der methodischen Selbstkritik und der klaren Begrifflichkeit bestehen, sieht Zorn den Pop-Philosophen angewiesen auf den freien Markt. Er zitiert etwa den Chefredakteur der Zeitschrift Hohe Luft, Thomas Vašek, mit der Aussage: „Philosophen sollten sich bemühen, „die Relevanz ihres Fachs auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln – und damit womöglich sogar etwas Geld zu verdienen.“
Die Erwartungshaltung des Publikums, so Zorn, sei der Maßstab, sonst nichts (S.5), und: „Populärphilosophie ist angelegt als Kampf um Aufmerksamkeit.“ (S.26)
Als sogenannte Player auf dem Markt des Deutungsgewerbes müssen die nichtakademischen Philosophen einen hohen Unterhaltungswert anstreben, um Publikum, also Kunden an sich zu binden. Zorn schreibt:
„Es reicht, dass man es tut, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und weil man es tut, reicht es allen anderen, dass man es tut. TV-Redaktionen buchen Richard Precht nicht, weil er ein guter Philosoph ist, sondern weil er zu jedem Thema vergleichsweise kluge Dinge sagen kann. Außerdem sieht er vergleichsweise gut aus und wirkt wie ein Typ, der mitten im Leben steht.“ (S.27)
Der Erfolgsdruck ist hoch, die Medien rechnen nicht mit Qualität, sondern mit Klicks und Quoten. So ist es naheliegend, daß Zorn bei den freien Philosophen die Neigung sieht, dem einfachen Denken einfache Wahrheiten anzubieten:
„Sie müssen sich an den Erwartungen des Publikums orientieren. Wie Hofnarren, die den König beleidigen und beschimpfen dürfen, solange sie ihn unterhalten, dürfen auch die Populärphilosophen das Publikum herausfordern, solange sie es nicht überfordern.“ (S.28)
Was sich in freier Rede attraktiv in pointierten Sprüchen ausformt, wenn die Kamera läuft, verändert auch die schriftliche Darreichungsform. Zorn sieht die Tendenz, den Schulformen zu entfliehen mit Texten, die den Leser mehr in das philosophische Geschehen einbinden:
„Das gilt etwa für philosophische Gedanken, die in Form von Aphorismen niedergeschrieben werden – der fehlende Zusammenhang muß vom Leser hergestellt werden und ermöglicht zugleich das Ausbrechen aus der starren Form einer von vorne bis hinten durchlaufenden Argumentation.“ (S.56)
Nun haben nach der Epoche der umfassenden Welterklärung in Form eines systematischen Traktats allerdings auch die Universitäts-Philosophen der Gegenwart wieder an die vorsokratische Aphoristik angeknüpft, was bei strengeren Denkern zum Um- und Einkreisen ihres Gegenstands, bei anderen eher zum buchgewordenen Zettelkasten der Gelegenheitsverlautbarungen verführt.
Beim Vergleich der akademischen mit den Popphilosophen erweisen sich bei näherem Besehen die unvereinbaren Positionen schließlich als falsche Gegensätze. „Die Lage ist also verzwickter als am Anfang gedacht.“ (S. 85) schreibt Zorn und resümiert: „Die Alternative besteht vielmehr zwischen schlechter und guter akademischer Philosophie, zwischen schlechter und guter Populärphilosophie.“ (S.90)
Der Gründer und Leiter der Berliner denkwerkstatt grenzenlos, der Philosoph Claus Langbehn, nähert sich dem Gegenstand der öffentlichen Philosophie mit kleinen, vorsichtigen und sichernden Schritten. In seinem Buch „Kultur des Selbstdenkens“ richtet er diese öffentliche Philosophie etwas anders aus, als in der herkömmlichen Kontroverse vorgesehen. Er fragt zum Beispiel, wie Verständlichkeit durch Präzision zu erreichen ist, da doch diese begriffliche Präzision offenbar zur Unverständlichkeit geführt hat. Und er verweist diplomatisch auf ein akademisches Problem, das auch Voltaire schon benannte:
„Ebenso gut kann die Geschichte der Philosophie dogmatisch gewendet werden. In diesem Fall tritt zum Beispiel das schulisches Denken, das noch offen für anderes Denken ist, hinter ein verschultes Denken zurück, in dem immer schon feststeht, mit wem man sich beschäftigen und nicht beschäftigen darf. Hier nistet man sich gleichsam mit einem Familienbewusstsein in die Philosophiegeschichte ein, markiert Freund und Feind und macht philosophische Geltung von Namen abhängig. Solches Stricken an der richtigen Tradition kann Provinzposse nicht weniger als Machtanspruch sein, mit dem sich Denkverbote artikulieren.“ (47)8
Dieses elitäre Selbstbewußtsein wird gerne zum Anlaß genommen, mit ihm auch die wissenschaftlichen Standards abzulehnen, ohne die das Fach nicht zu denken ist. Die Schreckbilder, die von den akademischen Philosophen von den öffentlichen, und umgekehrt, gezeichnet werden, bringen beide in Mißkredit. Claus Langbehn setzt nun gegen die Schmähungen das Idealbild des öffentlichen Philosophen:
„Öffentliche Philosophen, die für sich in Anspruch nehmen können, selbstdenkend tätig zu sein, sind nicht fremdbestimmt, denken nicht irrational und sind frei von Gewohnheitsdenken. Außerdem sind sie in der Lage, sich angemessen zu Problemstellungen zu verhalten; sie sind kritisch und identifizieren sich mit dem Gedachten. Darüber hinaus zeichnet sich die philosophische Praxis öffentlicher Philosophie dadurch aus, die Ansprüche einer Kultur des Selbstdenkens mit dem Anspruch zu versöhnen, verständlich für ein möglichst großes Publikum zu sein.“ (68f)
Was also ist dabei der Unterschied zum akademischen Philosophen? Das Vokabular, das für ein möglichst großes Publikum verständlich zu sein hat! Und das scheint der Unterschied ums Ganze zu sein. Wenn nicht – meist unausgesprochen – hinter dieser Forderung der Vorwurf der elitären Exklusivität steckt, nämlich daß an der Universität bewußt eine Fachterminologie gepflegt wird, damit sie für „den einfachen Menschen“ unverständlich bleibe, dann unterstellt sie sowohl die Möglichkeit, philosophisches Schrifttum (etwa Cusanus, Spinoza, Kant, Hegel?) in einfache Sprache zu übersetzen, als auch, daß eine andere, einfachere, verständliche Philosophie möglich sei, die aber dem „einfachen Menschen“ bisher vorenthalten wurde. Die „Arbeit des Begriffs“, mit der Hegel die Philosophie charakterisierte, wird damit zum Ausschlußkriterium. Wer ist der einfache Mensch? Wenn er existieren sollte, – ist davon auszugehen, daß er Interesse für Philosophie aufbringt? Und wo beginnt für ihn die Verständlichkeit? Gibt es für ihn eine Philosophie der Evidenz?
Öffentliche Philosophie ist vielleicht nicht essentiell, umso mehr existentiell abhängig von den Gesetzen des Marktes. Das Publikum muß von deren Argumentationen nicht nur überzeugt werden; es muß sie abkaufen, um sie zu konsumieren.
„Sie kündet nicht nur von der Aufgabe“, schreibt Langbehn, „mit konkreten Standpunkten gesellschaftlich wahrgenommen zu werden, weil es einen Kampf um öffentlichen Raum gibt, in dem verschiedene gesellschaftliche Akteure versuchen, diesen Raum für eigene Interessen zu nutzen. Öffentliche Philosophen dürfen sich nicht zu schade sein, an dieser Auseinandersetzung teilzuhaben.“ (72f)
Es liegt nahe zu fragen, wo die öffentlichen Philosophen überhaupt herkommen. Sind sie Teil der großen Anzahl promovierter und habilitierter Philosophen, die nie eine Chance auf eine Professur bekamen? Gehören sie zu den besonders korrekt und gründlich denkenden Autodidakten, deren Geltungsprobleme in der Titel-gierigen Gesellschaft mit erworben wurden? So genau weiß man das nicht. Und auch Langbehn bleibt im Allgemeinen:
„Öffentliche Philosophen sind vom Leben Getriebene, die sich philosophisch durchlenken und Standpunkte erreichen, auf denen sie wettbewerbsorientiert zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beitragen.“ (73)
Claus Langbehns Überlegungen münden in die Vision einer Philosophie der Weltausstellung, bei der nicht eine Philosophie mittels einer Ausstellung vermittelt wird, sondern der Sinn und Zweck der Ausstellung selbst Philosophie ist. Damit läßt sich der Begriff der öffentlichen Philosophie in eine materiell-sinnliche Dimension überführen, in der „Öffentlichkeit“ sich anschließen läßt an das aussagekräftige, „sprechende“ Ambiente, möglicherweise sogar an die „sprechende“ Natur, die Hegel verneinte.
Michel Onfray gehört zu den bekanntesten Philosophen Frankreichs, denn er sucht und nutzt die Öffentlichkeit, wo es möglich ist. Der promovierte Philosoph unterrichtete von 1983 an in Caen an einer höheren berufsbildenden Schule. Im Jahre 2002 gründete er dort nach dem Vorbild der nach 1968 eingerichteten Modellhochschule Centre universitaire expérimental in Vincennes die freie Université populaire de Caen, die einen offenen und freien Zugang für jedermann anbietet. Denn Onfray betreibt die Demokratisierung der Kultur.
Bekannt wurde er, indem er von der Bühne eines vollbesetzten Theaters Vorlesungszyklen hielt, diese dann anschließend in seinem Landhaus jeweils in ein Buch verwandelte, das das Publikum beim nächsten Zyklus getrost nach Hause tragen konnte. So konnte der Philosoph sich als Autor sein Publikum heranziehen, ohne finanziell aufwendige Webekampagnen einzusetzen. Onfray hat über 50 Bücher publiziert, in der Neuen Züricher Zeitung (16.07.2020) steht, es seien 100. Vom erfolgreichsten, Traité d'athéologie. Physique de la métaphysique (2005), wurden innerhalb kürzester Zeit 200.000 Exemplare verkauft. Der brillante Rhetoriker wird gerne in Rundfunk und Fernsehen zu Interviews und Streitgesprächen mit politischen Gegnern eingeladen, wo er mit provozierenden Thesen die französische Debattenkultur belebt. Im Frühjahr 2020 gründete Onfray die Zeitschrift Front Populaire. Auf den einschlägigen Internetarchiven ist er mit einer Unzahl politischer Statements im Minutenformat, aber auch mit Vorlesungen im Stundenformat präsent. Politisch hatte sich der Atheist und Laizist links positioniert, wich aber unter dem Eindruck seiner Camus-Lektüre von der reinen Lehre ab und griff gelegentlich auch nach den Argumenten der Rechten.
Onfray bedient sein Publikum mit allgemein interessierenden Themen wie Hedonismus („Der Bauch des Philosophen“, „Der sinnliche Philosoph“ etc.), Subversion, Rebellion, Widerstand, Freiheit, Atheismus, kulturelle Dekadenz und dekliniert sie mit den Fundstellen der Literatur durch, ohne irgendwen damit zu überfordern:
„Die Möglichkeit einer Philosophie des Körpers ist jüngeren Datums, auch wenn der Hedonismus nie aufgehört hat, mit seinen unterirdischen Energien die Geschichte der Ideen zu durchziehen. Schon allein, daß das Christentum unter Anklage gestellt wird, erlaubt das Auftauchen einer neuen Positivität, die den enthusiastischen Körper lobpreist.“9
Michel Onfray entspricht also ganz der zeitgenössischen Definition des Pophilosophen. So wird er in der Presse auch bezeichnet und auch gerne mit Peter Sloterdijk oder Richard David Precht verglichen. – Sicher steht in Deutschland der Philosoph beim „einfachen Menschen“ nicht in einem so hohen Ansehen, wie das in Frankreich der Fall ist. Auch ist bei uns die Dichte der Streitgespräche (le débat), die in Frankreich die Programme von Rundfunk und Fernsehen prägen, wegen mangelnden Publikumsinteresses nicht vorstellbar. Deshalb ist der Vergleich Onfrays mit den deutschen Kollegen nicht so ernst zu nehmen. Der wichtigste Unterschied aber ist der Aspekt der demokratisierten Lehrtätigkeit an der Volksuniversität.
Ende 1900 hatte zwar Max Hirsch im Rahmen der Arbeiterbildung in Berlin die erste Volksuniversität (Humboldt-Akademie) gegründet; und nach 1968 gab es auch bei uns „Kritische Universitäten“, die sich aber zumeist selbst wieder abgeschafft haben. Stattdessen gibt es die „Bürgeruniversitäten“, die von Hochschulen selbst veranstaltet werden und ihre Präsenz in der Öffentlichkeit der jeweiligen Städte zeigen, ein Versuch, die eigene Existenz vor der Allgemeinheit zu legitimieren. Die Dozenten dieser Vorlesungsreihe außerhalb des akademischen Betriebs, die der interessierten Bevölkerung den Zugang zu Wissenschaftsthemen öffnen will, stellt die Universität zur Verfügung. Handelt es sich also um Philosophie, können wir darin den eingehegten Versuch einer philosophischen Öffentlichkeit ohne den öffentlichen Philosophen sehen. Gemeinsam ist den Arbeitsmodellen der Université populaire und der Bürgeruniversität der soziale Faktor, der allerdings von sehr unterschiedlichen Interessen gesteuert wird.
1Jürgen Mittelstraß: Fröhliche Wissenschaft? Philosophische Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2021, S. 114
2Platon, Werke Bd.6, Sophistes, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1970/1990, S. 220ff
3Daniel-Pascal Zorn, Shooting Stars. Philosophie zwischen Pop und Akademie, Klostermann Essay 2, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2019
4Uwe Justus Wenzel: Die Denker auf der Bühne. In: FAZ vom 15. Januar 2020, Nr. 12, S. N3
5Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III, suhrkamp, Berlin 2023, 19. April 2015, S. 307 und 23. Juni 2015, S. 325
6Voltaire: Zwölfter Brief. Über den Kanzler Bacon. In: ders., Philosophische Briefe. Hrsg. und übersetzt von Rudolf von Bitter. Ullstein Materialien, Ullstein, Frankfurt/M.; Berlin; Wien 1985. S. 48.
7Henning Ritter: Notizhefte. Berlin Verlag, Berlin 2010. S. 307
8Claus Langbehn, Kultur des Selbstdenkens. Versuch über öffentliche Philosophie. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022
9Michel Onfray: Der sinnliche Philosoph. Über die Kunst des Genießens. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Campus Verlag, Frankfurt/New York. Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Paris 1992. Nachbemerkung S. 147
Claus Langbehn
Kultur des Selbstdenkens
Versuch über öffentliche Philosophie
136 S., brosch.
ISBN 978-3-95832-307-0
Velbrück Wissenschaft,
Weilerswist-Metternich 2022
Daniel-Pascal Zorn
Shooting Stars
Philosophie zwischen Pop und Akademie
100 S., brosch.
ISBN 978-3-465-04398-0
Klostermann Essay 2
Klostermann, Frankfurt am Main 2019
Erstellungsdatum: 04.08.2024