MenuMENU

zurück

Die Stadt und ihr Bild

Der Verfall nach Merz und die Fehler der Linken

Cinzia Sciuto


In Frankfurt am Main. Foto: Alexander Paul Englert

Es hat verschiedentliche Interpretationen gegeben, um das Merz-Wort vom Problem im Stadtbild um die rassistische Assoziation herumzuführen. Das will nicht recht gelingen. Denn das eigentliche Problem ist das Bild vom Stadtbild mit den dazugehörigen Töchtern. Cinzia Sciuto, Chefredakteurin der italienische Zeitschrift „MicroMega“, stellt in ihrem Kommentar einiges zur Diskussion.

 

In Mark Twains Erzählung „Die Gefahr, im Bett zu bleiben” berichtet der Protagonist, dass er beim Studium von Statistiken zu seiner großen Bestürzung entdeckt habe, dass die meisten Menschen im Bett sterben. Er kommt daher zu dem Schluss, dass das Bett der gefährlichste Ort der Welt ist, und rät dringend davon ab, sich jemals an diesen tödlichen Ort zu legen. Es handelt sich um ein kleines Juwel der Ironie, das einen ebenso banalen wie häufigen logischen Fehler aufzeigt: die Verwechslung von Korrelation und Kausalität. Ein Fehler, der offenbar auch Kanzler nicht verschont.

Vor einigen Tagen hat Friedrich Merz in einer seiner unüberlegtesten Äußerungen die Ergebnisse seiner Migrationspolitik verteidigt und hinzugefügt, dass jedoch „ein gewisses Problem im Stadtbild” bestehe, d. h. im „Panorama” unserer Städte, und dass er beabsichtige, dieses Problem mit „groß angelegten Abschiebungen” entschlossen anzugehen. Ein Argumentationsniveau, das für einen Passanten in einer Bar (vielleicht) verzeihlich wäre, von einem Kanzler würde man jedoch ein Mindestmaß an Komplexität und Verantwortungsbewusstsein erwarten.

Die Äußerung von Merz (die in Deutschland große Proteste ausgelöst hat) suggeriert nämlich – nicht einmal besonders versteckt – die Idee, dass „das Problem des Stadtbildes”, also – so meinte Merz – der Verfall, den man in einigen Stadtteilen der Großstädte beobachten kann, (auf kausale Weise) mit der Anwesenheit von Migranten zusammenhängt. Nun ist es zwar richtig, dass in bestimmten heruntergekommenen Stadtvierteln der Anteil der Migranten überdurchschnittlich hoch ist, aber das liegt natürlich nicht daran, dass „Migrant sein” an sich Verfall verursacht. Es ist vielmehr so, dass Menschen, die in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben, keine Papiere oder keine feste Arbeit haben – und unter diesen ist der Anteil der Migranten höher als in der übrigen Bevölkerung –, leichter in marginalisierten und heruntergekommenen Stadtvierteln landen. Es handelt sich also um einen Zusammenhang, sicherlich nicht um einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Und die Unterscheidung zwischen diesen beiden Dingen ist keine Marotte von Logikbegeisterten: Es ist der Unterschied zwischen der ernsthaften Auseinandersetzung mit sozialen Problemen und ihrer Nutzung als politische Propagandawaffe, ohne sie auch nur ansatzweise anzugehen.

Als ob das noch nicht genug wäre, legte Merz in den folgenden Tagen noch einmal nach und fügte seinen Worten das klassischste, abgestandene und paternalistischste Argument hinzu: den Appell an die „Sicherheit der Frauen”.

Auf die Bitte eines Journalisten, seine Aussage näher zu erläutern, antwortete er: „Fragen Sie Ihre Töchter, was ich damit gemeint habe“, und spielte damit auf die Angst an, die Frauen empfinden, wenn sie bestimmte Orte betreten. Lieber Merz, wir, die wir diese Angst nur zu gut kennen, verraten Ihnen ein Geheimnis: Frauen fühlen sich nicht sicher, wenn Räume von Männern „besetzt“ sind, egal welcher Hautfarbe oder Herkunft. Ich versichere Ihnen, wenn Bahnhöfe oder dunkle Straßen in Vororten voller Frauen aller Hautfarben wären, hätte keine von uns Angst, sie zu durchqueren. Die Angst der Frauen hängt nicht mit dem „bösen Mann” zusammen, sondern einfach mit dem Mann. Die Versammlungen der Alpini, bei denen Frauen jedes Jahr systematische Belästigungen melden, werden offenbar nicht besonders von Migranten besucht. Was für ein Stadtbild schaffen diese Versammlungen, Herr Merz?

Das Argument vom „bösen Mann“, der bereit ist, „unsere Frauen“ zu entführen und zu vergewaltigen, ist das frauenfeindlichste und rassistischste Argument überhaupt, ein Klischee, das wir seit den Zeiten des Faschismus kennen, als der „böse Mann“ direkt auf Propagandaplakaten abgebildet war (nicht unähnlich denen, die von der Lega nach der Verabschiedung des Sicherheitsdekrets aufgehängt und später von der Stadt Rom verboten wurden).

Hinter dieser Rhetorik verbirgt sich die übliche Strategie: der extremen Rechten auf ihrem eigenen Terrain nachzulaufen. Eine Strategie, die sich bereits unzählige Male als kurzsichtig erwiesen hat und deren Scheitern heute durch Umfragen bestätigt wird, von denen einige die AfD – die Partei, die teilweise als rechtsextrem, also neonazistisch, eingestuft wurde – mit 26 % der Stimmen sogar zur stärksten Partei in Deutschland machen (die CDU/CSU folgt mit 24,5 %).

Und der Grund dafür ist nicht so sehr, dass – wie oft behauptet wird – die Wähler, wenn alle eine rechte Politik betreiben, das Original der Kopie vorziehen. Sondern vor allem, dass demokratische Parteien, wenn sie die Argumente und die Rhetorik der extremen Rechten übernehmen, deren ideologisches System legitimieren. Dann fühlen sich auch diejenigen, die bisher noch gezögert hatten, sie zu wählen, frei, dies zu tun und es auch zu sagen.

Schließlich bleibt noch eine letzte, aber entscheidende Frage, die diesmal die Linke betrifft. Während die Rechte (mehr oder weniger extrem, wie wir gesehen haben) dazu neigt, nicht existente kausale Zusammenhänge herzustellen, neigt die Linke dazu, alles immer und ausschließlich auf soziale und wirtschaftliche Faktoren (die berüchtigten materiellen Bedingungen) zu reduzieren und dabei systematisch diejenigen zu ignorieren, die mit Ideologien und Religionen zusammenhängen, die in der Welt ebenso wirksam sind.

Die Integrationsschwierigkeiten sind nämlich nicht nur auf soziale und wirtschaftliche Probleme zurückzuführen, sondern auch auf ideologische (politische und religiöse) Hintergründe, die eine vollständige Akzeptanz liberaler, demokratischer und die Rechte von Frauen und LGBT-Personen respektierender Ansichten verhindern.

Theoretisch ist die Sache ganz einfach: Migranten als Problem zu betrachten, ist rassistisch und rechtsgerichtet; fundamentalistische Ideologien (welcher Art auch immer und von wem auch immer vertreten) als Hindernisse für die freie Entfaltung des Menschen zu betrachten, ist progressiv und linksgerichtet. Wer – von links – diesen entscheidenden Unterschied nicht versteht, unterstützt mehr oder weniger bewusst zutiefst rückschrittliche ideologische Ansichten. Sich beispielsweise gegen das Verbot des Kopftuchs für Mädchen in öffentlichen Schulen zu stellen, ist eine rückschrittliche Haltung, die die Verteidigung der religiösen Ideologie über die Rechte der Mädchen stellt.

Wenn man diese Fragen nicht klar und konsequent angeht, überlässt man der Rechten das Monopol der Debatte über diese Themen. Und die Rechte formuliert diese Debatte auf ihre eigene Weise: fremdenfeindlich und sicherheitsorientiert. Während Merz also der AfD hinterherläuft, ebnet ihm die Linke den Weg, unfähig, die Probleme klar zu benennen und den Worten ihre Bedeutung zurückzugeben.

 

 

Der Beitrag erschien zuerst in der Rubrik „Kontrapunkt“ der Zeitschrift „MicroMega“ am 29.10.2025

 

 

Erstellungsdatum: 05.11.2025