MenuMENU

zurück

Kurzgeschichte

Der Zwiebelanschlag

Alexandru Bulucz


Zwiebel. pixabay

Dass die Zwiebel den Zweifel nahelegt, liegt an der ersten Silbe, welche Zwietracht sät. Ist im Namen der Gerechtigkeit die Zwietracht zwischen Arm und Nichtarm angelegt, haben wir einen gesellschaftlichen Konflikt, der Auflösung erfordert. Die Kurzerzählung von Alexandru Bulucz führt nicht diese Auflösung vor Augen, sondern einen Plan, der zum Kern der Zwiebel führt.

 

Er aß, wie jeden Samstagabend, im Bahnhofsviertel. Nur dort gab es, was es in seiner Kindheit, einige Landesgrenzen weiter östlich, gegeben hat und tatsächlich nach ebenjener Kindheit schmeckte. Er tunkte Ćevapčići in Senf und gabelte selbstzerschnippelte unförmige Fritten und frischen Krautsalat in sich hinein. An diesem Samstagabend ließ er sich das, was er nicht aufgegessen hatte, mitgeben. Auf der abgepackten Speise in der weißen Tüte lag ein Einwegbesteck aus Plastik, das gar nicht nötig war. Auf dem Rückweg kaufte er sich in einem der zahlreichen türkischen Lebensmittelläden des Bahnhofsviertels ein Säckchen Zwiebel. Er aß zu fast allem Zwiebel. Manchmal als Rohkost, manchmal geschmort. Dann lief er mit Restspeise, Einwegbesteck und Säckchen Zwiebel die Tramlinie entlang in Richtung Innenstadt. Er hielt auf das Schauspielhaus zu. Je näher er ihm kam, desto deutlicher konnte er die Abendkleider und die Anzüge erkennen. Es musste jener Teil der Theatergesellschaft sein, der in der Pause nicht ans Buffet wollte und stattdessen an die frische Luft ging. Als er die Theatergesellschaft in ihrer Gelassenheit und in ihrem Gelächter schon recht deutlich auf dem Vorplatz des Schauspielhauses hören konnte, er meinte den Namen Iwanow vernommen zu haben, glitt sein Blick nach links, in die Dunkelheit des gegenüberliegenden Parks. An dessen Rand lagen Bänke und auf einigen von ihnen ausgestreckte Gestalten. Es mussten wie fast immer Obdachlose sein, selten waren es Betrunkene. Er erinnerte sich an die Fotografien eines Künstlers, dessen Name ihm partout nicht einfallen wollte. Er wusste nur, dass die Fotografien sogenannte „Sleepers“ auf den Straßen Mexico Citys dokumentierten. Schlafende, die ansonsten nicht eines Blickes würdig waren. Selten erkundigte sich einer, ob sie auf Zeit schliefen oder schon für immer. Sie wurden zum integralen Bestandteil des Stadtbildes und so selbstverständlich unsichtbar wie das Wegschauen der Städter. Er blickte kurz auf die Härchenseite seines rechten Zeigefingers. Er hielt sie in seiner Kindheit, meistens nachts, an die Nase des regungslosen Vaters, um sicherzugehen, dass er noch atmet. Ja, der Vater hatte immer geatmet, und er atmet auch heute, trotz seines Trinkens über den Durst, wie es typisch ist für einige Landesgrenzen weiter östlich. Als er seinen Blick von der Härchenseite seines Zeigefingers gen Himmel hob, hatte er plötzlich das Wort Tränendürre im Ohr. Ein Ohrwurm. Ein Augenwurm vielleicht. Seit wann weinen Menschen nicht mehr? Seit Lady Di? Ist die Träne nicht die einzige Körperflüssigkeit, die keinen Ekel erregt? Er hatte eine Lösung. Er würde sich eine Karte kaufen für die zweite Hälfte von Tschechow oder wem auch immer. Er würde Restspeise, Einwegbesteck und Säckchen Zwiebel an der Garderobe abgeben. Was sicherlich ein bisschen seltsam anmuten würde. Und lediglich eine einzige Zwiebel und das Zackenmesser aus Plastik in die Vorstellung hineinschmuggeln. Dann hoffen, irgendwo in der Mitte des Saals Platz nehmen zu dürfen. Mit Sitznachbarn links, rechts, vorn und hinten, auf halb zwei, halb fünf, halb acht und halb elf. Er würde mitten in der zweiten Hälfte von Tschechow oder wem auch immer die Zwiebel und das Zackenmesser aus Plastik auspacken. Dann anfangen, die Zwiebel zu schneiden. Das Zackenmesser aus Plastik würde effektiver sein als die schärfste Stahlklinge.

Erstellungsdatum: 03.08.2024