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Ottilie von Goethes Mut zum Chaos

Die geniale Schwiegertochter

Francesca Müller-Fabbri


Ottilie von Goethe, Kreidezeichnung von H. Müller

Sie war eine der faszinierendsten und unkonventionellsten Frauen ihrer Zeit. Sie gründete ein Journal, dichtete, übersetzte und förderte den englisch-deutschen Kulturtransfer. Politisch aktiv, unterstützte sie eine neue Generation von Autor:innen. Die Ausstellungen der letzten beiden Jahre, „Mut zum Chaos. Ottilie von Goethe“ im Goethe und Schiller-Archiv Weimar, und im Deutschen Romantik-Museum, Frankfurt am Main, sowie neue Publikationen haben sich nun ihrem Leben und Werk gewidmet. Francesca Müller-Fabbri von der Klassik-Stiftung Weimar beschreibt die ungewöhnliche Frau.

 

„Ich bin entzückt über die Eisenbahn, und wäre es nötig, sie mitten durch meine Wohnstube durchzuführen, ich stimme ein“, schrieb Ottilie von Goethe am 15. August 1840 aus Wien nach Weimar. Der Brief war an Friedrich von Müller adressiert: Der mächtige Staatskanzler des Großherzogtums von Sachsen-Weimar-Eisenach war sicherlich involviert in die Verhandlungen der sich gerade konstituierenden Thüringischen-Eisenbahn Gesellschaft, die erst 1846 die Thüringer Bahn aus der Taufe hob und damit Weimar, durch das damals modernste Verkehrsmittel, mit Halle, später auch mit Berlin, verband. Ottilie von Goethe war auch in diesem Fall ihrer Zeit voraus: sie erkannte und nutzte sogleich die neugewonnene Freiheit, die die Eisenbahn bedeutete, nämlich unabhängig, autonom und sicher (besonders wichtig für eine nicht begleitete Frau) zu reisen. Die Entstehung einer Zugverbindung, die Ottilie sich schon 1840 unverzüglich gewünscht hatte, hätte Weimar endlich zur Welt geöffnet: Die Modernität hätte damit das nach Goethes Ableben eingeschlafene Ilm-Athen aufgeweckt und vor dem Provinzialismus gerettet. Das war das deklarierte Ziel ihres Briefes, und sie hoffte, damit Müllers Unterstützung zu erhalten, um eine alternative Kulturpolitik für den kleinen Staat zu erreichen, bevor alles verloren ging: „Wir hätten anders in Weimar handeln können, und liberale Nachzügler werden, […] wir hätten die Ehre des Vorkämpfers haben können […]. [D]och […][a]bsichtlich läßt man die Hoheit [die regierenden Großherzöge, Anm. der Verfasserin] in dem Wahn, was wir noch alles besitzen, während es sich doch größtentheils jetzt […] auf eine allgemeine Bildung und auf Grabmäler beschränkt“.

Wer war diese Frau, die sich in diesem Ton erlaubte, dem Staatsminister zu schreiben? Als mitgiftlose Tochter der Gräfin Henriette Henckel von Donnersmarck kam die 1796 in Danzig geborene Ottilie von Pogwisch 1806 nach Weimar, wo die Mutter eine Stelle am Hof erhielt. Phantasievoll, geistreich und originell glänzte sie in der Hofgesellschaft und repräsentierte dort eine neue Generation, die für die romantischen Ideen entflammte, aber auch die großen Klassiker Weimars verehrte. In Goethes Haus am Frauenplan war sie bereits als junges Mädchen ein willkommener Gast. Den Bedenken ihrer Familie zum Trotz heiratete sie eigenwillig am 17. Juni 1817 August, den einzigen Sohn Goethes. Seit Jahren kannte sie den bodenständigen Freund und sehnte sich nach Schutz und Stabilität. Das Haus am Frauenplan, in dessen Mansarde das frisch vermählte Paar einzog, war das Heim Johann Wolfgang von Goethes – des Dichters der Nation: Für Ottilie war er jetzt ,der Vater‘, sie wurde für die Öffentlichkeit die „geniale Schwiegertochter“. Ihre hervorragenden Kenntnisse der englischen und französischen Sprache ermöglichten es der „Frau Baronin von Goethe“, das Haus am Frauenplan für eine internationale Geselligkeit zu öffnen. Durch ihre Interessen und Kenntnisse wurde sie eine geschätzte Gesprächspartnerin für Goethe selbst: Die Gedichte des West-östlichen Divans, die Erzählungen aus Wilhelm Meisters Wanderjahren, die späte Lyrik, die neue englische Literatur, die Druckfahnen des Faust II – alles wurde mit der „geliebten Tochter“, mit dem „verrückten Engel“, besprochen, ja sogar revidiert.

Sie selber übertrug gemeinsam mit dem Iren Charles des Vœux im Jahr 1827 Goethes dramatisches Werk Tasso ins Englische und edierte dessen zweite Auflage. Am 28. August 1829 gründete sie ein mehrsprachiges Journal und gab es heraus.

„Seit vorgestern liebe Adele habe ich den Leuten, damit sie nicht wie ich gänzlich einschlafen, vorgeschlagen eine weimarische Zeitung in Manuskript herauszugeben. Sie wird Chaos genannt und die Artikel bestehen in allen Sprachen; jeder hat einen angenommenen Nahmen. […] Da ich Director bin, so wähnst Du wohl, daß ich selbst in einem Chaos Gesetze gebe. Das erste ist das nur Mitarbeiter das Blatt lesen, das Zweite […] das[s] nur Personen, die in Weimar einmal gewesen sind, Beiträge liefern dürfen.“ So resümierte sie ihr Projekt an die Freundin Adele Schopenhauer.

Frei von den kommerziellen Gesetzen des Marktes (als „Manuskript“ bedeutet als privater, nicht erwerbbarer Druck) entwickelte sich ein poetologisches Programm in der Form eines außergewöhnlichen Journals, das die Internationalität der Stadt spiegelte und förderte: Die anonymen und anonymisierten Mitarbeiter:innen waren die Apostel einer neuen Ära und einer immer changierenden, stets chaotischen neuen Welt, in der die deutsche Sprache und Kultur sich nur in Verbindung und Austausch mit den Anderen aktualisieren und revitalisieren können:

Brittisch, Gallisch und Italisch,

Daran scheint es nicht zu fehlen.

Wüßt ich etwa Kamtschadalisch,

Mocht’ ich wirksam mich empfehlen.

Ach, ich freute mich zu Tode,

Könnt’ ich Türkisch radebrechen!

Aber Deutsch ist aus der Mode,

Und ich weiß nur Deutsch zu sprechen.

Geduld, verlaß Dich auf mein Wort

Gar Vieles ändert sich auf Erden;

Und geht’s nur so ein Weilchen fort,

Wird bald das Deutsche hier am Ort

Als fremde Sprache Mode werden. […]

Manches läßt die Zeit uns sehn,

Was und einst gedäucht als Fabel.

Sonst hieß Weimar Deutsch-Athen,

jetzt ist’s das Deutsche Babel.

Das vielversprechende Gedicht erschien in dem 12. Chaos-Heft, am Ende des Jahres 1829, und feierte sofort einen riesigen Erfolg. Sogar in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, vom 1. September 1832 wurde es nochmals publiziert (Nr. 105, S. 845) unter dem Titel Bild von Weimar und mit einer vermuteten Autorschaft von Johann Wolfgang Goethe. Das Gedicht war, heute wissen wir es, vom gefeierten Übersetzter Johann Diederich Gries, der als Sprachkenner sofort die dynamisierende Dimension des Projekts erkannte. Wenn Chaos die ästhetische Leitkategorie der Romantiker war, ermöglichte nun das Chaos Journal von Ottilie von Goethe durch die Anonymisierung der Beiträge das Auftauchen einer von Romantikern theorisierten Sympoesie!

Dazu: Alle konnten Texte in jeder Sprache, die sie kannten, einreichen und die häufigste Fremdsprache wurde dadurch Englisch, da die junge angelsächsische Gemeinde, die Ottilies Salon in der Weimarer Zeit füllte, sich hier im Übersetzen der deutschen Klassiker besonders übte. Aber das Spiel der Anonymität, des Maskenspieles, das in Weimar so beliebt war, brauchte auch den Hauch einer anderen Freiheit: anonymisiert oder unkenntlich gemacht durch ein Pseudonym konnten die Beiträger:innen ihre wahren Gefühle frei aussprechen und die soziale Hierarchie sowie die Kluft zwischen den Geschlechtern (den Gender Gap wurden wir heute sagen) überwinden. Chaos war ein Freiraum und repräsentierte eine glückliche Utopie des friedlichen Zusammenlebens.

Neben dem öffentlichen Glanz und der warmherzigen Beziehung zum „Vater“ führte Ottilie von Goethe eine tief zerrissene Existenz als Ehefrau: Trotz der Geburt der Kinder Walther, Wolfgang und Alma war die Verbindung mit August sehr unglücklich. Ottilie, die an die „Freiheit der Selbstbestimmung“ glaubte, suchte schon während der Ehe nach einem intellektuell und emotional Gleichgesinnten und sehnte sich offen nach Liebe. 1830 starb August von Goethe auf seiner Italien-Reise in Rom. Ottilie widmete sich der Pflege des Schwiegervaters bis zu seinem Tod 1832. Danach fühlte sie sich frei, ihr Leben zu leben und neue Wege für ihre Selbstverwirklichung zu suchen. „Mit einem wilden angeborenen Freiheits-, ja Rebellensinn“ sprengte sie bewusst den Rahmen der damaligen Konventionen und lehnte die ihr zugedachte Rolle der ewigen Witwe dezidiert ab. Sie verreiste und verkehrte mit emanzipierten Schriftsteller:innen, unterstützte mit großer Leidenschaft die neuen literarischen und politischen Strömungen in Leipzig und Wien, wurde erneut schwanger und brachte 1835 eine zweite – fast allen verschwiegene – Tochter zur Welt, die sehr früh starb.

All das genügte, um die Vorwürfe eines wieder im Provinzialismus versinkenden Weimars hervorzurufen. Und der am Anfang zitierte Brief an Kanzler von Müller ist ein Beispiel für ihre Gefühle der Ilm-Stadt entgegen: Hier donnerte sie gegen Weimars „Verwelken in geistiger Hinsicht“ : „Der Vater, Schiller, Herder, Wieland, alle waren Fremde, die man nach Weimar lud, und haben sie wohl dem Lande nicht tausendfach seine Gastlichkeit vergolten? […] [W]arum es als höchste moralische Tugend gelten soll, gerade in der Seifengasse zu Weimar geboren zu sein, kann ich nicht begreifen. […] Wie viele Gelegenheit der Art wollen wir versäumen? Sie wissen selbst, daß Grimms nur freies Quartier verlangten, und Dahlmann konnte gewiß mit sehr mäßigem Gehalt gewonnen werden. Freiligrath […] würde damals sicher mit Freunden nach Weimar gekommen sein […]. So giebt es noch Viele und lächerlich ist, daß man als Gegenwaffe gebraucht, die Talente dieser Männer mit dem früheren, die Weimar in sich schloß, herabzusetzten. Man kann nur von uns verlangen, daß wir das, was uns die Gegenwart bietet, benutzen, aber Niemand kann uns einen Vorwurf machen, daß wir nicht Homer zum Regierungsrath und Demosthenes zum Generalsuperintendant ernennen.“

Ottilie von Goethe kämpfte um eine andere Kulturpolitik: Weimar hätte eine Insel des liberalen Geistes, der jungen und politisch aktiven Welle der Romantik werden können. In dem Brief werden zuerst die Gebrüder Grimm und Friedrich Christoph Dahlmann erwähnt, also die Repräsentanten der sieben 1837 von Ernst August von Hannover vertrieben Intellektuellen, die in Göttingen für ihre geistige Freiheit gekämpft hatten. Für diese „sieben Männer, Reich an Muth und Kraft und Wahrheit, / Standhaft und voll hoher Mäß’gung, / Feurig, doch voll milder Klarheit“ hatte Ottilie von Goethe ein eigenes Gedicht in diesem Jahr in Druck gegeben. Daneben schlug sie den jungen Ferdinand Freiligrath vor, der kurz zuvor sein berühmtes Plädoyer für den Rolandsbogen veröffentlicht hatte; dazu (in den hier ausgelassenen Passagen) Vertreter des liberalen Silbernen Kaffehauses in Wien, wie Eduard Bauernfeld und Romeo Seligmann, genauso wie Gustav Kühne, der ab 1835 stark zensierten literarischen Bewegung Junges Deutschland. Ottilie von Goethe präsentierte sich in dem Brief selbstbewusst als Vermittlungsfigur, Mediatorin und Kulturagentin, kurz als Brücke zwischen diesen inzwischen sehr verschiedenen kulturellen Welten.

Nichts wurde in diesem Sinne gemacht, oder sogar versucht, und auch deswegen verließ Ottilie von Goethe 1842 Weimar für Wien, wo ein größerer und dynamischer Kulturkreis auf sie wartete. Dort starb aber plötzlich, zwei Jahre später, die 16-jährige Tochter Alma an Typhus und nur die Liebe zur Kunst, das Interesse für das Aktuellste in der Literatur und in der Gesellschaft, die Freundschaft mit vielen Intellektuellen gaben ihr die Kraft weiterzuleben. Erst 1870 kam sie nach Weimar zurück und starb zwei Jahre später, 1872, in den Räumen der Mansarde am Frauenplan.

Die Rezeption ihrer Figur schwankte lange zwischen Faszination und Ablehnung. Faszinierend war ihr Lebensweg, von den Höhen des innigen Zusammenlebens mit dem Dichterfürsten bis zur herzreissenden Tragik ihres Schicksals: die unglücklichen Ehejahre, die vielen Liebesenttäuschungen, der plötzliche Tod ihrer beiden Töchter, die selbstgewählte Isolation der verbliebenen Söhne. Die scharfe Kritik über ihren Lebensstil, „das Doppelurtheil, was von mir in der Welt herrscht“, wie sie selbstbewusst schrieb, war schon zu ihrer Zeit sehr deutlich: Ottilie von Goethes Persönlichkeit, ihr eigenständiges Ringen (als Frau im 19. Jahrhundert!) für Selbstbestimmung und Lebensglück passten sicherlich nicht zu ihrer Welt. „The world is not fitted for her“ erkannte sofort die befreundete Schriftstellerin Anna Jameson, im Jahr 1834.

Ottilie von Goethe war eine geistvolle, vielseitige und weltoffene Frau: Ihr Kampf um die Selbstbestimmung und ihr Mut zu einem schöpferischen Chaos gegen die Konventionen ihrer Zeit verdienen zu recht unsere Wiederentdeckung und sollen den Ausgangpunkt für zukünftige Recherchen sein. Neben dem Begleitband der zwei Ausstellungen, die ich die Freude zu kuratieren hatte (Ottilie von Goethe. Mut zum Chaos, Verlagshaus Römerweg, 2022), war es mir wichtig, an eine neue, revidierte Edition ihrer Schriften (Briefe, Gedichte, Tagebücherpassagen) mitzuwirken. Diese Möglichkeit gab mir Ulrich Janetzky, der schon im Jahr 1982 eine kleine aber sehr wichtige Publikation darüber herausgegeben hatte. Dank dem Verlag Sol et Chant ist das inzwischen 403 Seiten starke Buch erschienen: Ottilie von Goethe: Zeugnisse eines Lebens (1796-1872). Auf dem Buchdeckel ist ihr Selbstporträt zu bewundern: sie zeigt sich als junges Mädchen mit einer roten Narrenkappe, dem Oberteil der Hausmatrone, dem Kinderrassel in der linken Hand, dem Schild der Pallas Athena in der rechtem, dem Blick der Liebenden an die Rosen gerichtet, dem Schnurbart und Elemente der Devise des preußischen Offiziers. Ihr war es bewusst: Sie war ein schillerndes Wesen, das alle Grenzen überschritt und sich gerade dadurch treu blieb.  Ist die Welt endlich „fitted for her“?

Ottilie von Goethe
Zeugnisse eines Lebens
Herausgegeben und mit
biografischen Einleitungen
versehen von Ulrich Janetzki.
Mit einem Nachwort von Francesca Fabbri.
403 Seiten. Gebunden
Verlag Sol et Chant, 07/2023

Erstellungsdatum: 03.09.2024