Als Genießer und Mann, der die Frauen und die Bequemlichkeit liebt, wird der scharfe Denker René Descartes geschildert. Rätselhaft bleibt, was ihn zuletzt bewog, an den schwedischen Hof zu gehen. An den Vicomte de Brégy schreibt er am 15. Januar 1650 von seinem Verlangen, „in die Wüste zurückzukehren“: „… ich bin hier nicht in meinem Element, und ich ersehne allein jene Stille und Ruhe, die solche Güter darstellen, wie sie die mächtigsten Könige der Erde denen nicht geben können, die sie sich nicht selbst zu nehmen wissen.“ Etwa drei Wochen später war er tot. Jörg Aufenanger beschreibt das Ende des Philosophen.
Als René Descartes in den Morgenstunden des 11. Februar 1650 in Stockholm starb, hatte er gerade einmal fünf Monate am schwedischen Königshof gelebt. Wie aber war der geachtetste Philosoph seiner Zeit, der sein Leben bis dahin in Frankreich und Holland verbracht hatte, in den hohen Norden Europas gekommen?
Christina von Schweden, eine der außergewöhnlichsten Frauengestalten des 17. Jahrhunderts, hatte den katholischen Philosophen ein Jahr zuvor an ihren protestantischen Hof eingeladen. Der aber hatte lange Zweifel in sich getragen, ob er der Einladung der Königin folgen sollte. Descartes zögerte. Er lebte zurückgezogen in seiner Studierstube im holländischen Egmond, verließ sie nicht gern. Plötzlich aber ordnet er seine Angelegenheiten, verfasst ein Testament und besteigt am 1. September 1649 das Schiff in den Norden, eine Fahrt in den möglichen Tod? Die Tragik der letzten Monate des Philosophen nimmt ihren Lauf. Einhundert Tage später wird sein Leben enden.
1652 tritt Christina von Schweden zum Katholizismus über, entsagt dem Thron, wird ein Wanderleben durch Europa führen, zieht nach Rom und wird dort 1689 im Alter von 73 Jahren sterben.
Hatten die für Descartes so tragischen letzten fünf Monate Denken und Leben der Königin radikal beeinflusst? Hat der katholische Philosoph sie zur Konversion überredet? Hat er einen Keim in sie gesetzt, der aus der souveränen Monarchin einen Abenteuer suchenden Wandervogel macht? Ernst Cassirer ist in seinem 1939 in Stockholm bei Bermann-Fischer erschienenem Buch über Descartes in dem Essay: „Descartes und Christina von Schweden – eine Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts“ diesen Fragen nachgegangen. Er hat sie nicht eindeutig mit Ja beantworten können, hat aber keinen Zweifel daran gelassen, dass der Philosoph das mentale Leben der Königin beeinflusst, ja umgekrempelt hat. In diesem Winter 1649/50 waren zwei Menschen aufeinander zugekommen, die von zwei gänzlich unterschiedlichen Punkten aufbrechend, doch jeder für sich und jeder anders, prädestiniert war für diese Begegnung.
René Descartes war am 31. Mai 1596 in La Haye geboren, einem kleinen Ort der Touraine im Westen Frankreichs. Und es ist die Erinnerung an die „Gärten der Touraine“, die er anführt, als er zögert, in das kalte Land im Norden, nach Schweden überzusiedeln. Im Alter von zehn Jahren war er in eine Schule der Jesuiten eingetreten, die seine außergewöhnliche Begabung sofort bemerkten. Man erlaubte ihm, auch wegen einer chronischen Bronchitis, morgens lange im Bett zu bleiben, eine Gewohnheit, die er zeitlebens beibehalten wird bis zu dem Moment, als er in Stockholm früh aufstehen muss, um pünktlich um fünf Uhr in der Frühe mit der Königin Christina zu disputieren.
1616 legt Descartes an der Universität von Poitiers ein Rechtsexamen ab, um kurz darauf in Holland dem Oranierprinzen als Freiwilliger in der Armee zu dienen. Ein Wanderleben führt ihn durch Dänemark und Süddeutschland. In Frankfurt wohnt er der Kaiserkrönung Ferdinand II. bei, dient dann im Bayerischen Heer, landet im Winterquartier bei Ulm. Dort hat Descartes einen Traum, der seinem Leben eine Wende bringt. In der Nacht auf den 11. November 1619 hat er drei aufeinanderfolgende Träume. Der Erste offenbart ihm ein rätselhaftes Bild. Er wird auf der Straße von einem Sturm hin-und hergeschleudert, rettet sich in einen Innenhof, trifft auf einen Mann, der ihn beim Namen nennt, glaubt eine Melone zu sehen, ist buchstäblich hin- und hergerissen zwischen Gut und Böse, findet weiterhin keinen Halt. Der Zweite ist einer von Blitz und Donnerschlag, der entscheidende Dritte läßt ihn ein Buch blicken, das auf dem Tisch liegt. Er schlägt es auf: „Quod vitae sectabor vitae“ (Welchen Weg im Leben soll ich einnehmen?) und er liest den entscheidenden Satz eines Gedichts: „Est et non“ (Es ist und es ist nicht)?!
Für Descartes ist das Leben kein Traum. Vielmehr bestimmt der Traum das Leben. Es soll ein Selbstbestimmtes sein, das auf das „Est et non“ aufbaut, den Zweifel als Methode der Erkenntnis setzt, nicht als Lebenshaltung. Täuscht er ihn bisweilen auch nur vor wie ein Spieler, um die Wahrheit zu gewinnen? Jedenfalls soll er für ihn eine neue Gewißheit hervorbringen, auf der sich Wissen und Existenz gründen. Descartes wird das Denken und das Leben in einen Einklang zwingen bis zu jenem schwer erklärbaren späteren Entschluß, nach Stockholm aufzubrechen, um mit Königin Christina dreißig Jahre nach dem befreiendem „Est et non“ in die von ihr ersehnten Dispute einzutreten.
Von dem Augenblick jenes Traums an sollte das Leben nicht mehr von äußeren Umständen bestimmt sein, sollte sich gegen die Macht der „dunklen Vorstellungen“ wenden, es soll sich im Einklang mit und in der Kontinuität des Denkens entwickeln.
1620 verläßt Descartes die Armee, zieht in vogelfreier Pelegrinage durch Deutschland, Holland, Italien, gelangt nach Rom. Schließlich läßt er sich Paris nieder, führt dort ein Vie aisée aufgrund einer Erbschaft ohne finanzielle Sorgen. Er liest Romane, spielt, duelliert sich wegen einer schönen Frau. Nebenbei legt er dem päpstlichen Nuntius eine neue Philosophie dar, die zu Gewißheit führt und gegründet ist auf einer Wissenschaft der Natur, die aber den Glauben als eine Art höherer Wahrheit nicht in Frage stellt.
1641 erscheinen in Paris „Sechs Mediationen über die erste Philosophie“, die die Gewißheit als Ziel benennt: Das Denken sei, nur dies könne man ihm nicht entwinden: „Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. We lange aber nun? Solange ich denke. Was bin ich also? Ein denkendes Ding ... ein zweifelndes, erkennendes, bejahendes, verneinendes, wollendes, nicht wollendes, auch einbildendes und empfindsames Ding ... cogito, ergo sum, je pense, donc je suis.“ Das ist einzige und letzte Gewißheit.
Wer aber denkt und wer sein Denken aufschreibt, es in die Öffentlichkeit bringt, riskiert zu jeder Zeit an jedem Ort, beurteilt, angegriffen, gecancelt, gar verurteilt zu werden. So auch René Descartes, der von Theologieprofessoren der Ketzerei, des Frevels, des Atheismus gezeiht wird, da er dem Menschen ein Denken zugesteht, das nicht vom Licht Gottes und des Evangeliums, sondern von natürlichem Licht geleitet wird.
Descartes liebt als Spätaufsteher das Bequeme und zur Behaglichkeit neigende Leben und ist daher auch nicht frei von gelegentlichem Opportunismus. Als ob er sich nicht gegen die Vorwürfe zu verteidigen wüsste, rechtfertigt er sich, schwächt ab, wo es ihm eben opportun zu sein scheint. Immerhin erkennt er an: Gott existiere allein schon dadurch, dass wir ihn denken können. Er sei eine Gewißheit außerhalb unserer Anschauung.
So ist Descartes gerettet, wird sich immer wieder retten, und so verlässt er Frankreich, geht in die Niederlande, da dort ein freiheitlicher Wind weht, er sich äußern kann, ohne sofort angegriffen zu werden. Er nimmt Kontakt zu holländischen Denkern auf, findet Freunde, findet 1643 eine Freundin, die Prinzessin Elisabeth von der Pfalz, der er in Den Haag begegnet ist, eine schöne und kluge Frau, die zweiundzwanzig Jahre jünger ist als er. Ein reger Briefwechsel ist die Folge. Sie fragt ihn:
„Sagen Sie mir bitte, wie die Seele eines Menschen die körperlichen Geister bestimmen kann und so freiwillig Handlungen hervorbringen kann?“
Die Antwort ist seine Schrift: „Die Leidenschaften der Seele“. Er untersucht sie als Naturforscher und stellt fest, sie seien Bewegungen des Körpers, die zur Seele vordringen, seien Phänomene des Lebens, ja, „sie sind das Salz des Lebens.“ Allein, man müsse die Leidenschaften stets beherrschen, sie in Freiheiten umwandeln.
Verstehen Frauen den Philosophen besser und charmiert er sie auch mit seinen Gedanken? Wenden diese sich daher ihm zu? Descartes sendet auch der schwedischen Königin Christina ein Exemplar der Schrift über die Leidenschaften der Seele, worauf sie ihn aus der holländischen Einsiedelei herausholen will, in ihre Nähe. Zuvor stellt sie ihm eine entscheidende Frage: „Welches ist das höchste Gut?“ Das höchste Gut bestehe in dem festen Willen, das Rechte zu tun und in der inneren Befriedigung, die aus diesem Willen resultiere. Seelengröße nennt er den Zustand, den es zu erringen gelte. Wem würde seine Antwort nicht gefallen?! Und so versucht die Königin, Descartes nach Stockholm zu locken, setzt außer der Tatsache, dass sie eine schöne, kluge und junge Frau ist (sie ist noch acht Jahre jünger als die Prinzessin aus der Pfalz) auf die Hilfe des französischen Botschafters am schwedischen Hof, Pierre Chanut, mit dem der Philosoph befreundet ist.
Christina von Schweden hat sich seit frühester Jugend ethischen Fragen zugewandt. Sie war sechs Jahre alt, als ihr Vater Gustav Adolf 1632 in der Schlacht bei Lützen fiel, woraufhin sie die Regentschaft übernimmt. „Ich hatte ein unstillbares Verlangen, alles zu wissen, und ich war zu allem fähig“ wird sie in ihren Memoiren gestehen. In der Tat liest sie alles, was zu finden ist in Literatur und der Philosophie, ist als junges Mädchen schon gebildeter als alle Männer und Berater am Hof. Eine enzyklopädische Geistesart nennt Cassirer ihr Allwissen. Sie findet ein schelmisches Vergnügen daran, allen zu widersprechen, ein weiblicher Naseweis, zugleich führt sie die Staatsgeschäfte mit harter Hand und Umsicht. Einer Heirat hat sie sich verweigert, will wie ein Mann leben, ohne aber auf die Waffen einer Frau zu verzichten. „Die Seele hat kein Geschlecht“ wird sie später schreiben. Sie sammelt nicht nur die bedeutendsten Männer des Landes um sich, bittet begabte Künstler und Wissenschaftler ganz Europas an ihren Hof. Doch einer fehlt noch in ihrer Kollektion! Der französische Philosoph.
Vorbild ist ihr Marc Aurel, der römische Stoiker auf dem Kaiserthron. Täglich liest sie ihn und die Aufzeichnungen Epiktets, eines anderen Stoikers, findet aber bei ihnen keine Antwort auf die Frage was soll ich tun, eher auf die, was soll ich nicht tun, auch nicht auf die Frage nach dem höchsten Gut, die sie ihrem Zeitgenossen Descartes gestellt hatte. „Libero io nacqui e vissi e morro sciolto“ (Frei geboren bin ich und lebe frei, und werde frei sterben.) Das hat sie zu ihrem Lebensmotto gemacht. Descartes‘ Ideal der inneren selbstbestimmten Freiheit und einer Existenz im Einklang von Leidenschaft und Denken entsprach ihrem eigenen Lebensanspruch. Sie meint, in ihm den glücklichsten Menschen ihrer Zeit zu erkennen, also will sie ihn gewinnen und zögert nicht, den Philosophen einzuladen.
Der ist zwar ein Mann unter Einfluss, der sich der Gegenwart schöner Frauen und gelehrter Männer erfreut, unter denen sich auch Theologen befinden, denn ein Antiklerikaler ist er nicht. Er weiß, dass er mit der Schrift „Die Leidenschaften der Seele“ Herzen erobert hat, weiß aber auch, folge ich der Einladung, verlasse ich das innere Exil meiner holländischen Studierstube, grenzt das an Verrat an mir selbst. Daher zögert er, ahnt, er könne die Reise und die eiskalten Wintermonate nicht überstehen, setzt sein Testament auf. Er folgt der Schwäche seines Herzens, das sich geschmeichelt fühlt aufgrund der Einladung an den königlichen Hof, zumal von einer jungen Frau. Er kann die Leidenschaften seiner Seele nicht in Freiheit umwandeln.
Als die Königin und der Philosoph schließlich zusammentreffen, tritt eine gewisse Ernüchterung ein, denn die Erwartungen beider werden kaum erfüllt. Sie hatte womöglich eine eher auf eine lebensnahe Praxis zielende philosophische Erörterung erhofft, er auf häufigere Begegnungen mit ihr. Zwar bittet sie ihn an drei Tagen der Woche zum Disput, aber schon um fünf Uhr in der Frühe, weil sie nur dann die zum Denken notwendige Muße habe, bevor sie sich den alltäglichen Staatsgeschäften widmen muss. Für den Langschläfer Descartes ist das eine Tortur, zumal er, da er in der französischen Botschaft wohnt, einen langen Weg im Dunklen und im Frost auf sich nehmen muss. So zieht er sich auf dem Weg zu ihr eine Erkältung zu, die eine Lungenentzündung zur Folge hat.
Zudem kann ihn die Gegenwart der klugen und schönen Frau, wegen der er die Reise in den Norden angetreten hat, nicht über die Kühle und das Mißtrauen, das dem Katholiken am protestantischen Hof entgegenschlägt, hinwegtrösten. Am neunten Tag der Lungenentzündung, nachdem er die Hilfe fremder Ärzte verweigert hat, stirbt René Descartes am 11. Februar 1650 morgens um vier Uhr. Königin Christina soll bitterlich geweint haben, als sie von seinem Tod erfahren hat. Descartes ist tot, wird in kalter fremder Erde begraben, sie indes geht den Weg weiter, den er ihr gewiesen hat. Er war nicht auf Bekehrung aus gewesen, aber sie tritt zum Katholizismus über. Es gebe nur eine unteilbare Wahrheit, hat er, der nie am katholischen Glauben der Kirche gezweifelt hat, gemeint, denn Zweifel war ihm ja nur Methode der Erkenntnis, nicht Zweifel an sich, und so könne es auch nur eine unteilbare Konfession geben. 1654 entsagt Christina dem schwedischen Thron, wird aus freien Stücken eine fahrende Frau, die sich zeitweise als Mann kleidet und als Graf Dohna ausgibt. „Niemandem gehorchen zu müssen ist ein größeres Glück als der ganzen Erde zu gebieten“, schreibt sie, lebt gemäß dem Ideal der inneren Freiheit, die eben auch unteilbar, ist ein zweites Leben. 1677 erst werden die Gebeine Descartes vom Stockholmer Fremdenfriedhof nach Paris überführt. Da lebt Christina, die Ernest Renan ein lebendes Rätsel genannt hat, schon lange in Rom. Dort war sie als prominente Konvertitin mit einem kleinen Hofstaat im September 1655 triumphal eingezogen, wohnt im Palazzo Farnese, hat sich dem Kardinal Azzolino zum Freund gemacht, der sie in die römische Gesellschaft einführt und ihr stets zur Seite steht. Zum kirchlichen Leben hält sie indes Abstand, meidet die Beichte, sie sei schließlich keine Betschwester, gibt sie an, was ihr aber auch den Ruf einbringt, sie verhalte sich anstößig. Doch bald nennt man die ehemalige Königin „La Padrona di Roma“. Sie hat nämlich die Herrschaft über die Künstler der Stadt übernommen, fördert Dichter, Musiker, Schauspieler und junge Gelehrte. Zudem gründet sie das erste öffentliche Theater der Stadt, in dem gar Frauen die Bühne betreten dürfen, was bis dahin verboten war. Eine kleines Musikerensemble spielt dort auch die Werke junger Komponisten wie Alessandro Scarlatti. Der Palazzo Corsini, den sie nunmehr bewohnt, wird ihr privater Künstlerhof. Aus ihm geht nach ihrem Tod im April 1689 die Accademia dell‘Arcadia hervor. Christina aus Schweden findet ihre letzte Ruhestätte im Petersdom, Ihre Büchersammlung geht an die vatikanische Bibliothek.
Erstellungsdatum: 08.12.2024