Eigentlich gehört es sich nicht, fremde Briefe zu lesen. Und selbst wenn sie in Buchform erscheinen, fällt der Blick in eine sonst geschützte Privatsphäre. Zum Glück wird die Neugier beim lyrischen Paarlauf mit Maria Borio und Tom Schulz in berückende Bahnen geleitet, wo sie zwischen Eidechsen und Olivenbäumen mit kunstvoll zarten Versen belohnt wird. Bernd Leukert hat sich von den Briefen aus der Roten Wüste betören lassen.
Im richtigen Leben sind Liebesbriefe exklusive Geheimschriften, die, von unbefugter Hand öffentlich gemacht, zur gesellschaftlicher Entblößung, zu Peinlichkeiten, wenn nicht zu Skandalen und Ehrverlusten führen können. Als literarisches Genre aber sind sie möglicherweise an eine konkrete Person gerichtet, aber schon für die Öffentlichkeit geschrieben. Die sieht sich zur Teilhabe eingeladen, ohne eine Indiskretion begehen oder fürchten zu müssen. Sind die schriftlichen Zuwendungen obendrein auf eine poetische Ebene versetzt, können sie, vor allem mit zunehmendem Alter, erstaunliche Popularität gewinnen. Waren Sappho, Horaz, Catull, der gesamte Minnesang, Gaspara Stampa, Ronsard und Alfieri gerade noch in Gelehrtenkreisen berühmt, übersprang spätestens mit Goethe die Liebeslyrik die Schwelle zum großen Publikum und zum beliebten Poesiealbum. Es ist allerdings bemerkenswert, daß in den meisten Fällen der angedichtete, geliebte Mensch – nicht antwortet. Das ist nun in den „Briefen aus der roten Wüste“ anders. Hier korrespondieren zwei poetisch erfahrene Menschen auf gleichem Niveau.
Die Lyrikerin und Essayistin Maria Borio, die im umbrischen Perugia lehrt, und Tom Schulz, der in Berlin lebt, dichtet und als Kritiker tätig ist, konnten in der Zeit der Pandemie nicht zueinander kommen und sandten sich gegenseitig fünfzehnzeilige, lyrische Epistel vom Feinsten. Die sind im Gutleut Verlag zweisprachig erschienen. Auf der oberen Hälfte jeder Buchseite ist jeweils das Original angebracht, auf der unteren die Übersetzung, die aus dem Italienischen von Pia-Elisabeth Leuschner und aus dem Deutschen von Paola Del Zoppo besorgt wurde. Der Titel des Bandes, „Briefe aus der Roten Wüste“, der sich aus Michelangelo Antonionis Sinnkrisen-Film „Die rote Wüste“ herleitet, bezieht sich selbst metaphorisch auf die Isolation während der Coronazeit.
Gleich zu Beginn schlägt Maria Borio das Thema an:
Nur ein Punkt bin ich, allein, in der Roten Wüste:
darin besteht heute meine Dimension – ein Punkt
ohne Länge, Breite, Tiefe
aus dem fernsten Himmelskreis gefallen auf eine Erde,
die voller Stille ist und unvermittelt rein.
…
Und Tom Schulz reagiert mit den Zeilen
Als wir durch die rote Wüste gingen, standen Beamte
am Wegesrand. Keine Propheten im eigentlichen Sinn.
Sie sagten: Haltet Abstand voneinander. Bleibt einander
fern. …
Das ist im Wortsinne eine Korrespondenz. Doch anders als bei Kettengeschichten wird darin keine kontingente Erzählung montiert, sondern es werden vom Briefpartner Motive spielerisch aufgenommen und in neuen Zusammenhängen fortgeführt. Es sind, wie Arnold Schönberg sagen würde, entwickelnde Variationen, kunstvolle Fügungen, in denen die eine ihren Ausgangspunkt aus der vorhergehenden nimmt. Nicht nur Worte, sondern Szenarien und Szenen werden mutierend weitergereicht.
Schreibt Maria Borio:
Niemand hört mehr auf das Wort Zeit. Stattdessen sagen sie:
Klima, das sich verändert, verdunstet, die Haut dünn werden lässt.
Zusammen betrachten wir die strahlenden Blätter, in einem Zeitfraktal:
zusammen, in welcher Zeit? Draußen trocknet alles schwarz,
ohne Naturgesetz schafft das Klima andere Tiere.
Antwortet Tom Schulz:
Welche Biene wärest du? Honigbiene oder Todes-
Künderin. Mit diesen Immen ist kein Staat mehr
zu machen. Die Luft, warm, die Küste leuchtet blau.
Kündet, was später Flut und Sturm bringen werden.
Die Pinie am Haus weiß um ein Jahrhundert mehr.
Die Vergänglichkeit, die in früheren Epochen gern mit Vanitas-Motiven den Liebesgedichten eingeschrieben wurde, benötigt im Anthropozän keine allegorische Umschreibung mehr. Der Klimawandel grundiert so manche der naturliebenden Briefgedichte, ohne den leichten, unangestrengten Tonfall zu dominieren, den beide Briefpartner souverän anstimmen und mit ungewöhnlichen Sprachbildern bereichern:
Wir kauen Wörter aus Sauerkirschen, pflücken
gekerbte Äpfel aus dem Reich der Blattlaus.
Nachts hören wir die Gras-Sopranistinnen singen.
Die Schreie der Fledermäuse, als riefen sie uns.
Gleichsam nebenbei sind die berührenden Liebesbotschaften mit literarischen Bezügen durchwirkt, die auch für Menschen ohne deren Kenntnis in lesbarem Zusammenhang sinnvoll sind. Wenn es heißt:
Alle
Hände warten auf dich, und wir müssen die Feigen von ihren
Dornen befreien, bevor wir die Süße schmecken können.
Im Kühlschrank steht kein Glas mit Pflaumenmus, und nichts
ist kälter als die Abschiede vor dem Morgen. …
Wem also das berühmte Pflaumengedicht von William Carlos Williams nicht vertraut ist, wird in den Briefen aus der Roten Wüste nicht mit Wissen betrogen. Der spielerische Ernst, der die Briefe des Paares durchzieht, die Schönheit der Sprachbilder, die mit leichten Bedeutungsverrückungen immer neue poetische Erzählungen eröffnen, erzeugen den beträchtlichen Lesereiz dieses Bandes. –
Schließlich kommt bei Tom Schulz der lyrische Kern zur Sprache, nämlich die gesungene Dichtung. Er läßt zwar nicht wie in Homers Ilias die Göttin singen, sondern tut es selbst:
Ich singe Dir die Wolken, sehr weit oben.
Sind sie weiß? Und was heißt blau oder
das Blaue vom Himmel; die Bänke, Kumulus-
Wolken, wie eine Herde Schafe ziehen sie
vorüber. Halte den Augenblick fest.
An der Brücke Ponte della Malvasia wartet
angeleint ein Hund, bellt um die Wette. …
Maria Borio entgegnet:
… Wir umarmen uns,
trinken die Stimmen und geben sie, aus unserer Umarmung, zurück …
In jeder Geschichte hört ihr, wie man geboren wird
und altert. Uns umarmend altern wir,
geben wir uns dem Wasser zurück. Mit einem Kuss
werden wir Erfahrung? Hört uns zu –
wann immer der Malvasia wiederkehrt und diesen Kreislauf fügt.
Betörende Verse in einem von Michael Wagener ausgezeichnet gestalteten Büchlein. Der Gewinn ist nicht mit Geld zu bezahlen. Dennoch ist zu wünschen, daß die Briefe aus der Roten Wüste gekauft und mitgelesen werden.
Maria Borio, Tom Schulz
Briefe aus der Roten Wüste
Lettere dal deserto rosso
Gedichte / Poesie
Aus dem Italienischen von Pia-Elisabeth Leuschner
Aus dem Deutschen von Paola Del Zoppo
72 S., brosch.
ISBN: 978-3-948107-80-2
gutleut verlag, Frankfurt am Main 2024
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Erstellungsdatum: 06.04.2025