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Kommentar zum Schweigen von Robert Lembke

Die Schuld der Opfer

Thomas Rothschild


Robert-Lembke-Fankarte

Das Schweigen selbst ist nicht selbstredend. Es teilt nicht mit, ob es betroffen, fassungslos, aggressiv, diskret, verschämt oder diplomatisch ist. Solche Zuweisungen kommen stets von außen und sind willkürliche, unterstellende Interpretationen, bestenfalls Deutungen. Wenn nach Judenverfolgung und Schoa Täter und Opfer schweigen, ist man vor Deutungen nicht mehr sicher. Thomas Rothschild kommentiert eine jüngste Spekulation.

 

In der Stuttgarter Zeitung vom 7. Juni 2025 schreibt Tilmann P. Gangloff in einem Artikel über eine TV-Dokumentation, die den legendären Journalisten und Ratemeister Robert Lembke zum Gegenstand hat: „Ausgerechnet dieser ungemein liebenswürdige Moderator, der von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, der als Journalist einen nicht unerheblichen Beitrag zur Demokratisierung Deutschlands in den Nachkriegsjahren geleistet und als Sportkoordinator der ARD dafür gesorgt hat, dass die deutschen Reporter bei der Fußball-WM 1954 auf ‚jegliches Triumphgeheul‘ verzichteten: Ausgerechnet dieser Mann hat als Familienvater eine nicht wieder gut zu machende Schuld auf sich geladen, indem er ein existenzielles Thema zum Tabu erklärte.“

Ja ist dieser professionelle Fernsehkritiker noch bei Sinnen? Steht da wirklich schwarz auf weiß „nicht wieder gut zu machende Schuld“? Die nicht wieder gut zu machende Schuld – nicht etwa derer, die Lembkes jüdischen Vater ins Exil gejagt und Menschen wie Lembke selbst nach dem Leben getrachtet hatten, sondern des Opfers, das es vorgezogen hat, über sein Schicksal zu schweigen, auch und gerade gegenüber seinen Nachkommen.

Dem vom vielen Fernsehen offenbar geschädigten Rezensenten sei, ob er nun mit dem Urteil seine eigene Meinung oder den Standpunkt der besprochenen Sendung wiedergibt, versichert, dass Robert Lembkes Entscheidung eher die Regel als die Ausnahme ist. Es gibt 500 Gründe, von erlittenem Leid im Allgemeinen und von der Verfolgung im Dritten Reich im Besonderen zu schweigen. Einige davon wären: dass es zu schmerzhaft ist, an sie zu denken, und Verdrängung, bewusst oder unbewusst, Abhilfe zu versprechen scheint; dass man den Kindern und Kindeskindern die Ängste ersparen will, die Erzählungen über das Schicksal der Juden unter Hitler bis in den Schlaf auslösen, die Traumata, die gewiss nicht geringer sind als das „posttraumatische Belastungssyndrom“ wegen der verschwiegenen Vergangenheit, von der Lembkes Enkelin laut Gangloff spricht; dass sie hoffen, das Erlebte würde keine Rolle mehr spielen und die „Normalität“, die die Täter für sich beanspruchen, könnte auch für die Opfer gelten; dass es, wie wir gerade jetzt wieder wahrnehmen müssen, den Betroffenen eher schadet als nützt, wenn sie von ihrem wie immer offenbaren oder (beispielsweise durch Taufe) versteckten Judentum sprechen. Und müssen sich jene, die sich dennoch anders verhalten als es Robert Lembke tat, nicht mehr und mehr vorwerfen lassen, sie würden mit ihren biografischen und kollektiven Erinnerungen Schindluder betreiben, daraus ungerechtfertigte Privilegien beziehen? Wenn selbst ein Jude, durchaus mit nachvollziehbaren Argumenten, von der „Holocaust-Industrie“ spricht – wie kann man dann sicher sein, dass man nicht als deren Profiteur denunziert wird?

Es gibt 500 Gründe, selbst gegenüber nächsten Verwandten, Freunden, Schicksalsgenossen nicht darüber zu sprechen, was einem angetan wurde, nur eins kann daraus mit Gewissheit nicht abgeleitet werden: Schuld. Wer so daher redet, als Fernsehdokumentarist oder als dessen Fortsetzung in der Fernsehkritik, erweist sich als Subjekt ohne Fantasie, ohne Empathie, ohne historische und psychologische Einsichten. Kurz, er sollte uneingeschränkt tun, was er Robert Lembke vorwirft: schweigen.

 

 

Erstellungsdatum: 09.06.2025