Die Abscheu vor dem Naziregime führte Carl Goerdeler zur Gruppe des 20. Juli wofür er am Galgen endete. Der bürgerlich konservative Politiker, der mitunter auch antisemitische Haltungen bezog, ist bis heute eine umstrittene Figur. Peter Theiner hat in Goerdelers 80. Todesjahr eine neue Biografie des Hitlergegners vorgelegt. Jutta Roitsch schätzt besonders die Absicht des Autors nachzuweisen, warum Goerdelers Auslandsmissionen ebenso scheiterten wie seine Bemühungen, deutsche Generale vor dem Beginn des 2. Weltkrieges zum Sturz Hitlers zu gewinnen.
Für die einen war er „Kopf“ und „Motor“ des bürgerlichen Widerstands gegen das NS-Regime und der bekannteste zivile Vertreter eines „anderen Deutschlands“; für andere ein Landesverräter, monarchistischer Antidemokrat und verschleierter Antisemit. Für mich war er der Großonkel aus der Rathenaustraße 23 in Leipzig-Leutzsch, der mich zu einer wachsamen Demokratin gemacht hat: Am 2. Februar jährt sich der 80. Todestag von Carl Friedrich Goerdeler. Sieben Monate nach dem missglückten Attentat auf den Diktator Adolf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er in dem Schuppen des Berliner Gefängnisses Plötzensee als zum Tode verurteilter „Volksverräter“ an einem Haken erhängt. An diesem Mann, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, reiben sich namhafte Zeithistoriker und Widerstandsforscher bis heute. Für die Familie ist er der große Schatten, der sie begleitet, ermutigt, aber auch belastet.
Siebzig Jahre nach einer ersten Biographie des Freiburger Historikers Gerhard A. Ritter, die er für das „andere Deutschland“ schrieb und gegen die 1954 noch immer herrschende öffentliche Meinung von den Vaterlandsverrätern (nachzulesen in dem ersten Jahrbuch der Allensbacher Meinungsforscher, von dem es in der Frankfurter Universität noch ein Exemplar gibt), hat jetzt Peter Theiner über den „deutschen Bürger unter Hitler“ eine neue Biographie vorgelegt. Er versucht darin, das widersprüchliche Bild dieses preußischen Konservativen mit einem wirtschaftsliberalen Weltblick aufzuhellen. Und spart auch nicht mit Vorwürfen an die Forschung, sich aus der überbordenden Fülle der vorhandenen Dokumente dieses schreib- und reisewütigen Politikers nur Passendes ausgewählt zu haben: zum Beispiel Zitate zur Judenfrage oder zur Neuordnung des deutschen Reiches nach einem Sturz des NS-Systems oder zu den teilweise heftigen Auseinandersetzungen unter den kleinen Widerstandsgruppen. Der Historiker Theiner konnte sich bei seiner Arbeit auf die seit 2004 vorliegenden zwei Bände zu den politischen Schriften und Briefen Goerdelers stützen, die Hans Mommsen, der bedeutendste deutsche Zeithistoriker, zusammen mit Sabine Gillmann in mühevoller zwanzigjähriger Arbeit herausgegeben und umfänglich kommentiert hat. Mommsen erneuerte auch nach dieser aufwändigen Recherche- und Archivarbeit seine harsche Kritik an dem ehemaligen Oberbürgermeister: Er sprach ihm einen systemsprengenden Widerstand zum Nationalsozialismus ab, verwies auf seine Bestrebungen, nur die vermeintlich „radikalen Kräfte“ ausschalten zu wollen (2. Band, Seite 649) und geißelte seinen „dissimilatorischen Antisemitismus“, seinen verschleierten Antisemitismus, ein vergiftetes und bis heute vergiftendes Wort.
Peter Theiner, der sich mit einer Biographie über den einflussreichen süddeutschen Unternehmer und großzügigen Goerdeler-Unterstützer Robert Bosch einen Namen gemacht hat, liest die Fülle der Denkschriften und Briefe Goerdelers, gerichtet an NS-Größen (Göring und Hitler selbst) wie an britische, US-amerikanische, französische oder schwedische Politiker, Wirtschafts- oder Bankenvertreter, völlig anders. Sein Anliegen ist es, Goerdeler als einen Mann zu würdigen, der schon früh nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sah, dass Hitler mit einem völkischen Nationalismus nach dem Motto „make Germany great again“ eine gigantische Aufrüstung („auf Pump“ und zu Lasten der Versorgung der Bevölkerung) und eine Militarisierung der deutschen „Volksgemeinschaft“ durch Partei, Wehrmacht und SS betrieben hat. Für den in Wirtschafts- wie Finanzfragen kundigen Juristen (er war vor und nach 1933 zeitweilig Preiskommissar der Regierungen) steuerte diese volkswirtschaftlich ruinöse Politik auf einen Eroberungskrieg im Osten zu, nicht nur zur Korrektur der Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Versailles, sondern zur Ausbeutung der Rohstoffe und der „Kornkammer“ Ukraine: ein nationalistisch-imperialistischer Kolonial- und Vernichtungskrieg der besonderen Art, der, das sah Goerdeler schon drei, vier Jahre nach der Machtergreifung, zu einem neuen Weltkrieg und Deutschlands Untergang führen würde. Und führte: Mit der Vernichtung des europäischen Judentums, mit der Tötung von Millionen Polen, Ukrainern und Weißrussen, Männern, Frauen und Kindern in Deutschland und Europa: Von 75 Millionen Toten berichtet die Forschung.
Peter Theiner weist in dieser Biographie bis in die kleinsten Details nach, mit welchen Mitteln Carl Goerdeler versuchte, diesen Krieg zu verhindern, aber bei seiner Suche nach Verbündeten im Ausland und bei der deutschen Generalität scheiterte. Mit seinen rastlosen Reisen zwischen 1936 und 1939, nach denen er stets Denkschriften zur Lage und Briefe über Briefe verfasste, ging es ihm vor allem darum, die englische Regierung (später die US-amerikanische) davon zu überzeugen, dass das Hitler-Regime keineswegs ein verlässliches Bollwerk gegen den sowjetischen Bolschewismus sei, sondern mit Großmachtswahn einen Krieg im Osten und neuen „Lebensraum“ anstrebte. Goerdeler selbst sah im scharfen Gegensatz dazu für Deutschland nur eine Zukunft im Rahmen eines weltoffenen, liberalen Weltmarktes und eines neuen europäischen Staaten-oder Völkerbundes. Nur so, warb er (vergeblich) in England, Frankreich und auch in den USA, könne auch über Korrekturen am Versailler Vertrag, die Gebietsabtretungen an Polen und Litauen vor allem, verhandelt werden. Sie lagen diesem zutiefst heimatverbundenen Westpreußen, der dort 1884 in Schneidemühl geboren worden war, am Herzen, brachten ihm aber in der deutschen und internationalen Nachkriegsforschung den Vorwurf des Revisionismus, wenn nicht gar Revanchismus, und großdeutscher Träume ein.
Peter Theiner verfügte im wesentlichen (wie schon Ritter) über Berichte von Goerdelers Ehefrau und seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Gestapohaft, die mitten im Satz beginnen und mitten im Satz aufhören. So bleibt der Mensch Goerdeler (und das „Väterlein“ für seine fünf Kinder) eher blass: Temperamentsvoll, streitbar und unerschütterlich optimistisch auf Vernunft und Anstand setzend beschrieben ihn Zeitgenossen aus dem Widerstand, nicht immer nur anerkennend.
In dieser Biographie geht es dem Autor vordringlich darum, mit den heute verfügbaren Dokumenten und der umfangreichen Forschungsliteratur nachzuweisen, warum Goerdelers Auslandsmissionen ebenso scheiterten wie seine Bemühungen, deutsche Generale vor dem Beginn des 2. Weltkrieges zum Sturz Hitlers zu gewinnen: Bis zum missglückten Attentat 1944 lehnte Goerdeler eine Tötung Hitlers ab und bestand darauf, ihn wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor ein deutsches Gericht zu stellen. Das liest sich bedrückend, wie vor allem in England die anfängliche Neugier auf diesen Mann und die Bereitschaft, ihm alle wichtigen Gesprächspartner zu vermitteln, umkippen und in dem Urteil enden: Dieser Mann hat eigentlich niemanden hinter sich, weder im Militär noch in der Zivilgesellschaft. Mit einem Umsturz durch die Deutschen selbst sei nicht zu rechnen. Winston Churchill lehnte Gespräche mit Goerdeler ab und verfolgte dann nach Ausbruch des Krieges die Politik des „unconditional surrender“, die bedingungslose Kapitulation.
Mit ihrer Einschätzung lagen die Engländer nicht falsch, vor dem Krieg und nach dem Krieg: In den ersten Umfragen des Allensbacher Instituts für Demoskopie (dokumentiert im ersten Jahrbuch 1947 bis 1955) hielten noch 1949 57 Prozent der Befragten den Nationalsozialismus für eine gute Idee, nur schlecht ausgeführt. Verrat und Sabotage war für 25 Prozent die Ursache für den verlorenen Krieg und 21 Prozent meinten noch 1952, der Krieg wäre gewonnen worden, wenn es den Widerstand gegen Hitler nicht gegeben hätte („vielleicht“ sagten immerhin weitere 15 Prozent).
Das ist die eigentliche tragische Geschichte Carl Friedrich Goerdelers, dessen moralische Integrität auch Hans Mommsen nicht bestritten hat: Es ist die Geschichte eines letztlich einsamen Mannes, der mit Vernunft und Überzeugungskraft vergeblich versuchte, Krieg und Verbrechen zu verhindern. Doch bei diesem Bild ist es nicht geblieben, denn in den letzten vier Jahrzehnten hat sich die Beurteilung Goerdelers weiter verschoben. Dieser preußisch-protestantische Konservative, der in der Weimarer Republik zeitweilig zum Vorstand der republik- und demokratiefeindlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gehörte, bis sie der nationalistische Hitler-Finanzier und Großunternehmer Alfred Hugenberg beherrschte, wurde in der Widerstandsforschung zur bürgerlichen Symbolfigur eines „dissimilatorischen Antisemitismus“: Zwar führte seine Haltung zu einem berühmten Juden 1936 zum Rücktritt als Oberbürgermeister. Sein Verhältnis zu den Juden wurde aber zur Schicksalsfrage, für ihn selbst wie für seine historische Beurteilung heute.
Und sie begann mit einem Denkmalsturz in Leipzig, während Goerdeler auf einer Auslandsreise in Finnland war: Gegen seine ausdrückliche Anweisungen beseitigte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1936 ein NS-Trupp das angebliche „öffentliche Ärgernis“, das Denkmal des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, das in Leipzig seit 1892 vor dem Gewandhaus stand, in dem Mendelssohn einst Kapellmeister des berühmten Orchesters war und im 19. Jahrhundert zur Wiederentdeckung des weithin vergessenen Johann Sebastian Bach beitrug. Wenige Tage vor seinem Tod schrieb Goerdeler in einer Art Rechenschaftsbericht, die Entfernung des Denkmals sei eine „Kulturschandtat“ gewesen: Mendelssohn zu „verleugnen, würde feige, lächerlich, ungeheuerlich gewesen sein“ (Theiner, S. 162). Doch der Historiker Mommsen deutete den Rücktritt Goerdelers vom Amt des Oberbürgermeisters als den eines in seiner Ehre gekränkten preußischen Beamten. Er setzte damit im Jahr 2000 die Auseinandersetzung über den „Widerstand und die Juden“ und den „dissimilatorischen Antisemitismus“ Goerdelers fort, die zwanzig Jahre zuvor von Christof Dipper angestoßen worden war. Es ist die Frage, die bis heute die schmerzlichste ist, in der Forschung, für die Familie, für mich.
Auch Theiner sucht in dieser Biographie nach Antworten. Und findet sie im akademischen Milieu des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auf den „Berliner Historikerstreit“, den der Berliner Hochschullehrer Heinrich von Treitschke 1879 mit seiner Schrift „Die Juden sind unser Unglück“ losgetreten und in den sich Mommsens Urgroßvater Theodor öffentlich eingeschaltet hatte, geht Theiner nicht ein, wohl aber auf die berüchtigte, von Studenten an den Hochschulen verbreitete Antisemitismuspetition von 1880 an Reichskanzler Otto von Bismarck, „in der eine Art Rückabwicklung der Emanzipation und der mit der Reichsgründung gesetzlich verbürgten Gleichstellung der jüdischen Mitbürger gefordert wurde“ (Theiner, S. 18). Beklagt wurde in der Petition die „Überfüllung“ der Universitäten durch jüdische Studenten: In deren gesellschaftlichem Bestreben „Aufstieg durch Bildung“ zu erreichen, sahen sich nichtjüdische Bürgerkinder der gehobenen Mittelschicht um Karrierechancen gebracht, die ihnen durch ein Studium sicher schienen. Dieser akademische Antisemitismus erfasste auch die vier Brüder Goerdeler, die in Tübingen Medizin oder Jura studierten und zu einer schlagenden Turner-Verbindung (Eberhardina-Markomannia) gehörten, zu der Juden keinen Zutritt hatten. Gegen neu gegründete jüdische Verbindungen zogen Tübinger Corpsstudenten mit Stöcken los und die „Eberhardiner“ rühmten sich in einer Kampfschrift, an der der 19jährige Carl Goerdeler zentral beteiligt war, für „Judenreinheit“ in dieser Universitätsstadt sorgen zu wollen. Theiner schreibt dazu: „Es lässt sich den Quellen nicht entnehmen, auf welchen Wegen und durch welche Einflüsse Goerdeler in den trüben Dunst judenfeindlicher Schlagworte und Forderungen geriet und sie sich zeitweilig zu eigen machte“ (S. 19). Er verweist aber auf das jugendliche Alter Goerdeler und meint, es handele sich nicht „um eine für den Rest seiner Biographie verfestigte, politisch-moralische Verblendung“.
Ein politisch-moralisch Verblendeter ist der Carl Goerdeler aus den 1930er Jahren nicht, das belegt Theiner überzeugend mit Zitaten aus den Denkschriften und dem Bericht über seine Reise 1939 nach Palästina. Dennoch hält Goerdeler „eine positive Lösung des Judenproblems – Palästina reicht nicht aus“ (Politische Schriften, Band 1, S. 578) für notwendig. Wie diese international anzustrebende „positive Lösung“ vor allem für die Juden aus Osteuropa aussehen könnte, bleibt nebulös. Es ist ein Drehen und Wenden, das auch Theiner nicht bestreitet, nicht bestreiten kann: Zu den Nürnberger Rassegesetzen schweigt dieser Mann, der sich sonst zu nahezu jeder Frage geäußert hat. Auf seinen Reisen vor allem nach England und in die USA tippt er die judenfeindliche Politik in Deutschland an und registriert mit gewisser Erleichterung, wenn er nicht darauf angesprochen wird.
Schmerzlich zeigt sich im Denken Goerdelers, welche tiefen Spuren die Judenfeindlichkeit im 19. Jahrhundert in Kultur, Wissenschaft und Politik hinterlassen hat: Erinnert sei an die beißend-geschmacklosen Witze eines Clemens Brentano oder Achim von Arnim, die Schmähschrift des Heinrich von Treitschke, der offene Antisemitismus eines Liebermann von Sonnenberg im Reichstag. Es sind Spuren, die auch im 21. Jahrhundert noch oder schon wieder zu finden sind. „Die jüdische Wunde“ bricht immer wieder auf. So schreibt es Natan Sznaider in seinem jüngsten Buch. Dieser Israeli, 1954 in Mannheim geboren, mahnt unermüdlich. Ob seine Warnungen vor neualtem Antisemitismus auch so vergeblich verhallen wie Goerdelers Versuche, den Krieg und die nationalsozialistischen Verbrechen zu verhindern?
Peter Theiner
Carl Goerdeler
Ein deutscher Bürger gegen Hitler
Biographie
496 S., geb.
ISBN: 978-3-406-82146-2
Verlag C. H. Beck, München 2024
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Erstellungsdatum: 30.01.2025