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Interview mit Übersetzerin und Autorin Pociao

Ein Leben für die Bücher: Pociao

Wolfgang Rüger


Pociao. Foto: Privat

Mit ihren Übersetzungen öffnete Pociao in den 1970er-Jahren vielen die Tür zur experimentellen Literatur aus dem englischsprachigen Raum. Überzeugt, dass wir Schreibende brauchen „die unbequem sind, nachdenklich machen, Anstöße geben“, übernahm sie den Verlag Expanded Media Editions und gründete Pociao’s Books. Später brachte sie mit der Komponistin Ulrike Haage das Projekt Sans Soleil auf den Weg, das über zwei Jahrzehnte Musik und Literatur verschränkte und sich auf Texte von und über Frauen konzentrierte. Im Gespräch mit Wolfgang Rüger blickt Pociao auf ihr wegweisendes Wirken in einem männerdominierten Genre.

 

Stammst Du aus einer bildungsfernen Familie oder bist Du mit Büchern aufgewachsen?

Ja, tatsächlich hatten meine Eltern und Großeltern Bücherregale, die mich schon als Kind faszinierten. Ich konnte lesen, ehe ich in die Schule kam. Als Teenager jobbte ich dann zum ersten Mal in einer Buchhandlung und freundete mich dort mit einem nur wenig älteren Hippie-Mitarbeiter an, der mich vor eine entscheidende Wahl stellte: Françoise Sagan oder Jack Kerouac? Ich entschied mich für William Burroughs.


Gute Wahl. Wie hast Du Burroughs entdeckt?

Nachdem ich gleich nach dem Abitur ein halbes Jahr in London verbracht und mich dort in literarischen Undergroundkreisen umgesehen hatte, suchte ich in Deutschland nach einer entsprechenden Szene. Zu ihr gehörten etwa Ulcus Molle, Jörg Fauser, Carl Weissner, Jürgen Ploog, Benno Käsmayer oder Udo Breger. Der war Verleger in Göttingen und kannte Burroughs. Ich las Naked Lunch auf Englisch und verstand kein Wort, was meine Faszination nur verstärkte. Etwa um diese Zeit versuchte ich mich auch zum ersten Mal an einer Übersetzung. Zusammen mit Carl Weissner durfte ich Burroughs’ Elektronische Revolution für Udos Verlag Expanded Media Editions ins Deutsche übertragen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie man so was macht, aber Carl war ein großartiger Lehrer.


Ralf-Rainer Rygulla und Walter Hartmann waren auch in London und entdeckten dort eine bis dahin in Deutschland unbekannte, alternative Literatur. Kanntest Du die Anthologien „Fuck you“ und „Acid“ bevor Du nach London gegangen bist oder was hat Dich nach London gezogen?

Ja, ich kannte Acid, bevor ich nach London ging, ich habe es heute noch in meinem Regal stehen - vollgekritzelt und mit vielen Unterstreichungen! Aber ich wollte nach dem Abitur vor allem einfach weg von zuhause und eine fremde Sprache lernen. Was mich an London gereizt hat, war die völlig neue Kultur, die mit den Sechzigerjahren assoziiert wird - insbesondere ihre Musik und die rebellische Haltung der Jugend generell. Aber natürlich spielte die Literatur letztlich eine wesentliche Rolle; ich entdeckte die literarische Underground-Scene und wunderbare unabhängige kleine Buchläden. 


Du hast mir mal von dem Göttinger Dreigestirn erzählt: Steidl, Breger, Pociao. Was hat es damit auf sich? Wie habt ihr euch kennengelernt?

Udo und Steidl wohnten damals in Göttingen im gleichen Haus. So habe ich den ganz jungen Steidl kennen gelernt und mit ihm gewettet, wer von uns beiden zuerst Millionär würde. Damals wusste er sicher nicht, wie er das genau schaffen wollte. Ich auch nicht. Aber er hat mich locker geschlagen.

Burroughs, Kerouac und Ginsberg haben nicht nur die Literatur verändert, die Beats propagierten auch ein anderes Lebensgefühl. Hat die Beat Generation Deiner Meinung nach die Welt (Deutschland) nachhaltig verändert?

Ich würde sagen ja: für bestimmte Teile der Gesellschaft, vor allem jene, die sich mit Sprache und Werten auseinandersetzten. Die Beat Generation stellte eine radikale Abkehr von den traditionellen Literaturformen und Konventionen dar. In diesem Zusammenhang erinnere ich an den Prozess um Ginsbergs Gedichtband „Howl“, den der Verleger Ferlinghetti vor Gericht gewann und damit die Redefreiheit in den USA bestätigte. Oder an die ersten Versuche, eine neue Sprache für ein neues Denken in Deutschland zu finden – weg von der spießigen Fünfzigerjahre-Atmosphäre hin zu den rebellischen Erneuerern der Sechziger und ihren radikalen Ansprüchen an die Gesellschaft. Dies führte über den Einfluss auf Musiker und Künstler zu Studentenprotesten, Anti-Vietnam-Demos und einer größeren kulturellen Revolution, insbesondere in Fragen von Identität und der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die uns bis heute nachhaltig geprägt hat, jetzt allerdings von einer neuen erzkonservativen Welle aus den USA wieder auf den Kopf gestellt wird.


Hast Du die nicht etablierte Literaturszene heute noch im Blick? Siehst Du aktuell in Deutschland oder irgendwo auf der Welt so etwas wie eine Protestbewegung in der Literatur? Kann es so etwas heute überhaupt noch geben?

Mit der aktuellen Underground-Literaturszene in Deutschland, sofern es sie gibt, kenne ich mich nicht aus. Ich weiß nur, dass viele kleine Verlage nach wie vor existieren und ein eher uneinheitliches Netz von vielen kleinen Strömungen bilden, die sich überschneiden, miteinander austauschen und voneinander abgrenzen. Wie eh und je fördern sie vorwiegend experimentelle Lyrik, Prosa oder Grenzgänge zwischen Literatur, Kunst und Theorie, sodass Literatur hier nicht nur als Kunst, sondern auch als Widerstand und Ausdruck von Gegenkultur zu verstehen ist.


Würdest Du bitte einmal aufdröseln, von wann bis wann Du was gemacht hast, also Pociao‘ Bookshop und E.M.E.. Wann hast Du angefangen, professionell zu übersetzen?

Schon während der Schule lernte ich die ersten Figuren aus der alternativen deutschen Literaturszene kennen, darunter Ulcus Molle, Benno Käsmayr, Hadayatullah Hübsch und Jörg Fauser. Nach Aufenthalten in London und New York studierte ich Anglistik, Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaften in Bonn. Anfang der 70er Jahre begegnete ich dem Verleger und Übersetzer Udo Breger und beteiligte mich wenig später (noch als Studentin) an der künstlerischen Leitung seines Verlags Expanded Media Editions, der Literatur, Musik, Film und Kunst unter einem Verlagsdach zu integrieren versuchte. Zu den Autoren gehörten William S. Burroughs, Allen Ginsberg, Wolf Vostell, Joseph Beuys, Jörg Fauser, Jürgen Ploog, Gerard Malanga und viele andere.
Diese Arbeit führte (etwa 1973/74) zur Gründung von Pociao's Books, einem Vertrieb für experimentelle Literatur aus der amerikanischen Small Press Szene für den europäischen Raum - lange bevor es amazon.com gab. 
Ich bot Texte von Charles Bukowski, Laurie Anderson, Gregory Corso, Timothy Leary, Thomas Pynchon oder Patti Smith an, als sie in Deutschland noch relativ unbekannt und vor allem nicht übersetzt waren. Gleichzeitig versuchte ich bereits selber zu übersetzen und bekam erste Aufträge von größeren Verlagen. Im Lauf meiner Tätigkeit als Verlegerin, Scout und Agentin habe ich zahlreiche Autoren aus den Vereinigten Staaten kennen gelernt und übersetzt, darunter Paul Bowles, William S. Burroughs, Allen Ginsberg, Gerard Malanga, Robert Mapplethorpe, Tom Robbins oder Bill Ayers.

Gab es nie den Drang, z.B. da weiterzumachen, wo Du bei „Out of Tangier“ aufgehört hast. Du hast so viel erlebt in der alternativen Szene, kennst Gott und die Welt, nie Lust verspürt, Deine Erlebnisse aufzuschreiben?

Nein, nie.


Es gibt haufenweise Erinnerungen von Männern, von denen die Wissenschaft lebt. Die Tagebücher von Ploog z.B. sind ein echter Schatz. Nehmen sich Männer wichtiger als Frauen oder warum ist z.B. auch bei Dir dieser Drang nicht da?

Ich glaube gar nicht, dass das so unterschiedlich verteilt ist, wie du es darstellst. Frauen bereichern die Wissenschaft oder schreiben Tagebuch genauso wie Männer, ich auch. Aber vielleicht erschienen mir meine Erlebnisse in der alternativen Szene weniger interessant für die Wissenschaft– bzw. sind es aus heutiger Sicht. Ich käme daher im Unterschied zu einigen ihrer männlichen Vertreter gar nicht auf die Idee, etwas dazu veröffentlichen zu wollen. Mir reicht es, mir der Gegenwart und ihrer Veränderung bewusst zu sein und gelegentlich einen Kommentar dazu abzugeben.
 

Du bist heute eine renommierte, preisgekrönte Übersetzerin. Die ersten Übersetzungen hast Du noch unter Deinem bürgerlichen Namen Sylvia Pogorzalek gemacht. Wie kam es zu Deinem Künstlernamen?

Mein Geburtsname war so kompliziert, dass ihn kein Mensch behalten konnte. Irgendwann versuchte Udos zweijährige Tochter, ihn nachzusprechen und heraus kam etwas ähnliches wie Pociao. Das hat mir gut gefallen, weil es eigentlich einfach ist – ciao kennt jeder – und trotzdem einzigartig. Außerdem kann ich mich dahinter in allen Geschlechtern verstecken: als Frau, als Mann, als diverse Person. Genauso werde ich auch von der Welt angesprochen, das finde ich schön.


Du hast praktisch im Alleingang Paul Bowles für den deutschen Leser wiederentdeckt und übersetzt. Wie kam es dazu?

1976 lernte ich die junge New Yorker Poetin Patti Smith kennen, die damals wie ich ganz am Anfang ihres beruflichen Lebens stand. Ich veröffentlichte ihren Gedichtband „Seventh Heaven“ bei Expanded Media Editions, und sie erzählte mir von der amerikanischen Schriftstellerin Jane Bowles, die ein paar Jahre zuvor in Malaga gestorben war. Ihr Mann, Paul Bowles, lebte als Komponist und Autor weiterhin in Tanger, Marokko. Das war sehr faszinierend. Ich las alle Bücher der beiden, die ich auftreiben konnte. Drei von Pauls Romanen waren schon in den Fünfzigerjahren auf Deutsch erschienen, inzwischen aber nicht mehr lieferbar. Für den vierten schien sich niemand zu interessieren. Als Roberto und ich 1987 (mit dem Zug) nach Tanger fuhren, um zusammen mit Brion Gysins Freunden dessen Asche im Atlantik zu verstreuen, besuchten wir auch Paul in seiner Wohnung. Ich schlug ihm vor, „Up Above The World“ (dt. „Gesang der Insekten“) zu übersetzen und auch zu verlegen. Wie genau man bei Random House davon erfahren hatte, weiß ich nicht, aber auf der nächsten Buchmesse erschienen Georg Reuchlein und Claudia Negele an meinem Stand und boten an, mir die Rechte abzukaufen und alle vergriffenen Ausgaben in überarbeiteter Fassung noch einmal bei Goldmann zu veröffentlichen. Es wurde eine sehr schöne, intensive Zusammenarbeit. Zum damaligen Erfolg der wieder aufgelegten Werke trug aber auch wesentlich der zur gleichen Zeit erschienene Film „Sheltering Sky“ (dt. „Himmel über der Wüste“) von Bertolucci bei.
Für Roberto und mich begann damit eine fast vierzigjährige Zeit, in der wir einen Wohnsitz, ein zweites Zuhause in Tanger hatten und mit einheimischen Künstlern oder Besuchern befreundet waren, die uns tausendundeine Geschichte über diese wunderbare Stadt erzählten.

Erstellungsdatum: 29.10.2025