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Friedrich Schillers „Die Räuber“ in Bad Hersfeld

Eine Kanonenkugel

Walter H. Krämer


Die Räuber. Nora Schulte (Amalia), David Jakobs (Franz). Foto: Bad Hersfelder Festspiele, Steffen Sennewald

Friedrich Schiller hat mit den „Räubern“ ein starkes Stück geliefert. Die Revolte gegen alles, was ihm das Leben bitter machte, hat den jugendlichen Autor in einen dramatischen Furor getrieben, der bis heute weiterwirkt. Anlässlich einer Neuinszenierung des Dramas in Bad Hersfeld hat Walter H. Krämer den historischen Hintergrund der „Räuber“ skizziert und anhand der Aufführungsgeschichte sowohl ihre Wandelbarkeit als auch ihre Robustheit beschrieben, die in der Version Gil Mehmerts mit den Songs der TOTEN HOSEN in die Gegenwart reichen.

 

Ein Stück wie ein Orkan! Die Geschichte zweier ungleicher Brüder: Der benachteiligte Franz lehnt sich gegen den Vater auf und übt Rache am geliebten, bevorzugten Bruder Karl. Ein erbitterter Kampf um Macht, Freiheit und Vergeltung entbrennt. Beide Söhne rebellieren auf die ihnen eigene Art gegen den Vater und die väterliche Ordnung, den Staat und das Establishment.

Friedrich Schiller ist gerade mal 17 Jahre alt, als er 1776 in Stuttgart mit der Arbeit an seinem Drama „Die Räuber“ beginnt. Da lebt er bereits seit drei Jahren, unfreiwillig und von den Eltern getrennt, in einer vom Württembergischen Landesfürsten Herzog Karl Eugen gegründeten Militärakademie. Karl Eugen lässt sich von seinen Schützlingen „Vater“ nennen. Mit dem Eintritt in die Akademie müssen die Eltern ihm alle Rechte und Pflichten an ihren Kindern abtreten. Schiller leidet unter dem Verlust seiner Eltern und der strengen, autoritären Zucht in der Karlsschule. Seine traumatischen Erfahrungen dort fließen in „Die Räuber“ ein.

Das Stück, das einen Verbrecher zum Helden machte und den zivilen Ungehorsam feierte, traf den Nerv der Zeit, insbesondere der jungen Generation, die sich gegen die gesellschaftlichen Normen und Autoritäten auflehnte, verbunden mit der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Schiller kritisiert in den „Räubern“ die fehlende Mündigkeit, die Trägheit, Unfähigkeit, Schwäche und den Sittenverfall der Gesellschaft. Er prangert die Zweiklassengesellschaft und die schlechte Moral an, die sich in Untätigkeit, Trägheit, Schwäche und Bösartigkeit äußert. Das Stück polarisierte und löste eine intensive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der Zeit aus.

Es lag damals gewissermaßen in der Luft, wie Karl Moor „das Horn des Aufruhrs zu blasen“ und sein Spruch, es brauche nur ein Heer aus Kerlen wie ihm, „und aus Deutschland soll eine Republik werden“ verstand jeder als Kritik an den politischen Zuständen und an den Fürstentümern.

Die Uraufführung in Mannheim am 13. Januar 1782 sorgte daher für einen der größten Skandale der Theatergeschichte. „Das Theater glich einem Irrenhause", berichtete ein Freund Schillers, „geballte Fäuste, Aufschreie im Zuschauerraum, fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür." Schiller musste die Stadt verlassen, doch das Stück war in aller Munde und machte den Autor über Nacht berühmt.

Der Literaturkritiker Reich-Ranicki bringt die Faszination für das Stück über all die Jahre hinweg auf den Punkt: „Es ist eines der schönsten Stücke der deutschen Literatur. Es ist ein einziger Vulkanausbruch. Gewissermaßen eine Explosion der Jugend. Das ist das Einmalige, dass der Schillerviel redend und gelegentlich auch geschwätzig einen Ausdruck gefunden hat für die Revolte der Jugend.“ (Marcel Reich-Ranicki 1986 in einem Fernseh-Beitrag)


Die Räuber.Yascha Finn Nolting (Karl), David Jakobs (Franz). Foto: Bad Hersfelder Festspiele, Steffen Sennewald

 

In seiner Inszenierung von 2025 verstärkt Gil Mehmert nun diesen „Vulkanausbruch“ noch, indem er die Musik der Band Die Toten Hosen mit in das Stück integriert. Punkrock als Musikrichtung war immer Ausdruck einer Gegenkultur, die bestehende Normen in Frage stellt – ähnlich wie der Sturm und Drang, als dessen wesentlicher Vertreter Schiller gilt.

Diese Epoche ist geprägt von der Auflehnung gegen die Vätergeneration und stellt vorgelebte Muster von Autorität radikal infrage. Sie wird angetrieben von dem Verlangen nach individueller Freiheit und einem Leben außerhalb des konventionellen Gesellschaftsbilds.

„Die Räuber“ – dieses frühe Drama von Schiller bietet somit große Möglichkeiten der Umsetzung für die jeweilige politische Gegenwart einer Inszenierung. Die Frage, wer oder was die Räuberbande heute sei, hat viele Inszenierungen bis in unsere Gegenwart hinein bestimmt und ausgezeichnet:

1926:  Erwin Piscator inszeniert die „Räuber“ am Preußischen Staatstheater. Das Räuber-Kollektiv agiert als revolutionäres Proletariat. Hauptaugenmerk liegt auf dem Räuber Moritz Spiegelberg, der eine Trotzki-Maske trägt.

1951: Gustaf Gründgens Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus spürt (laut Rezension in der Süddeutschen Zeitung) „die beklemmende Gleichartigkeit des Lebensgefühls auf (…) das den Menschen, zumal den jungen, in Anarchie und Nihilismus treibt.“ Franz Moor wird als Vorläufer existenzialistischer Welterfahrung gedeutet.

1957: Erwin Piscator lässt die Räuber am 13. Januar, anlässlich der 175. Wiederkehr der UA, in Mannheim erneut aufführen.

1959: Fritz Kortner inszeniert am Schiller Theater Berlin. Laut Rezensent Herbert Ihering gemahnten Klugheit und Erfindungsgabe Franz Moors im Zeitalter der Wissenschaft an allgemeine Katastrophen, zum Beispiel die „Atombombe der Vernichtung“.

1966: Peter Zadek bebildert eine „Räuber“ – Aufführung am Bremer Theater mit Zitaten aus der Pop-Art Roy Lichtensteins. Karl Moor tritt als Superman auf.

1968: Vor dem Hintergrund der politischen Unruhen und der damit verbundenen Frage, wie Klassiker aktuell zu inszenieren seien, gerät 1968 zum „Räuber“-Jahr. Unter anderem zeigt Egon Monk das Stück am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Hans Lietzaus Inszenierung am Münchener Residenztheater hebt sich von zahlreichen politisch motivierten Inszenierungen ab, in denen die „Räuber“ als Rocker oder als Baader-Meinhof-Terroristen gezeigt werden.

1971: Manfred Karge und Matthias Langhoff deuten die „Räuber“ als revoltierende Bande (Inszenierung an der Volksbühne Berlin Ost unter Benno Besson). Dieser Versuch, die 68-Bewegung mit ins Spiel zu bringen, ist eine Provokation des SED-Regimes und führt zu einem Verbot für Schulklassen, die Aufführungen zu besuchen.

1975: Claus Peymann inszeniert die „Räuber“ als Anti-Bildungsbürger (am Württembergischen Staatstheater Stuttgart). Laut „Zeit“ entsteht eine Momentaufnahme, „die verdeutlicht, dass er an die politische Wirksamkeit der Revolte von Karl und seinen Kumpanen nicht glaubt.“ Die „Ohnmacht des freiheitstrunkenen Aufbegehrens“ endet in beschaulicher Spießbürgerlichkeit.

1979: Die Schaubühne Berlin zeigt die „Räuber“ in der Regie von Roland Schäfer mit großem Aufwand in historischen Kostümen. Zwei Räuber sind mit Frauen besetzt.

1983: Ernst Wendt interpretiert am Schauspielhaus Hamburg die „Räuber“ als „Todestraum – als eine Mischung aus Schauerdrama, Opernparodie, Vampirtanz“ (Die Zeit)

1990 eröffnet Frank Castorf mit einer dekonstruktivistischen Fassung der „Räuber“ seine Intendanz an der Berliner Volksbühne. Das Stück, das auf die DDR, sowie auf die Zeiten des Umbruchs anspielt, gilt als eine der ersten und wichtigen Auseinandersetzungen mit der Wende und ihren Folgen auf dem Theater. Die ‚Räuber‘ lassen sich bei Castorf von der westlichen Konsumgesellschaft des alten Moors verführen.

2016: Ulrich Rasche hat 2016 den ungleichen Brüdern Moor für ihre Familienzerlegungs- und Mordbrenner-Arbeit zwei riesige Laufbänder auf die Bühne des Residenztheaters in München gestellt und zeigt, wie man Schillers reiche Sätze buchstäblich mitdenken kann. Und wie frisch sie wirken in einer Zeit, wo die Selbstoptimierung nach Maßgabe der egoistischen Vernunft über allem steht und zeigen den Sog und das Grauen von Gemeinschaften. In Karl und Franz stehen sich hier zwei Figuren gegenüber, die sehr verschieden auf die Versprechen und Zumutungen de Aufklärung reagieren.

2025 inszeniert Gil Mehmet die „Räuber“ in der Stiftsruine Bad Hersfeld: „Die Zusammenrottung von Outsidern in Karl Moors Bande hat erstaunliche Parallelen zum jahrzehntelangen Output der Toten Hosen" meint Regisseur Gil Mehmert. „Intelligenter Punkrock mit politischen Inhalten, die sich an der bundesrepublikanischen Gesellschaft abarbeiten, prägen das Œuvre der Band, die ähnlich wie Schiller als stilprägend für ihr Genre gilt.“


Die Räuber. David Jakobs (Franz), Tim Al-Windawe (Schweizer). Foto: Bad Hersfelder Festspiele, Steffen Sennewald

 

Es lag daher für den Regisseur nahe, dieses ur-deutsche Drama und seine Protagonisten mit den Songs der deutschen Band Die Toten Hosen zusammen zu bringen. Es sollte eine Inszenierung werden, in der Schillers mitreißendes und bahnbrechendes Werk durch deren Songs erweitert, ergänzt oder konterkariert wird, um dadurch neue emotionale Räume zu öffnen.

Das Ensemble aus Schauspielerinnen, Schauspielern, Musical-Darstellerinnen und -Darstellern, unterstützt von einer fünfköpfigen Rockband, bindet bekannte und weniger bekannte Songs der Toten Hosen – Alles wie immer – Leben ist tödlich – Der letzte Tag – Am Ende – Bis der Boden brennt – Ein Schritt zu viel – Alles ist eins – Angst – Der letzte Kuss – Auflösen -Paradies – Alles passiert - Wofür man lebt – in Schillers Klassiker mit ein und interpretiert die Geschichte neu und zeitgemäß.

Die Inszenierung aktualisiert damit das, was als „klassisch“ gilt, um es für heutige Generationen und ihre eigene Zeit und ihr eigenes Verständnis relevant zu machen. Hört man den klug ausgewählten Liedern und deren Texte genau zu, so wird das deutlich und nachvollziehbar. Die Songs der Toten Hosen spiegeln das Lebensgefühl heutiger Genrationen, deren Träume und Sehnsüchte wider und bringen uns damit den Schiller von 1782 näher.

Die Texte der Toten Hosen legen den Finger in die Wunde, sie beziehen sich nicht nur auf gesellschaftliche, sondern auch auf ganz persönliche, den einzelnen Menschen betreffende Zwiespalte und Konflikte. Der Mensch als Produkt der Gesellschaft, in der er zwangsläufig leben muss. Psychische Zustände, innere Zerrissenheit und Kampf um ein bisschen Glück, um zu Überleben und für eine gerechtere Welt.

Gil Mehmert verwandelt den Kirchenraum mit seiner für ihn typischen energetischen, musikalisch-choreografischen Regie-Handschrift zu einem einmaligen Schauplatz für Schillers Helden und Antihelden: „Die Räuberbande erobert sich die Stiftsruine wie autonome Freiheitskämpfer, die das Kirchenschiff für sich besetzen wollen", betont der Regisseur. „Die Stiftsruine ist dabei weniger eine Kulisse oder Hintergrund, sondern wird selbst zum Ort des Geschehens.“

Es ist schon beeindruckend, wie das gesamte Räuber-Ensemble die Bühne mit Präsenz und Energie „erobert“. Der Text von Friedrich Schiller und die Songs der Band „Die Toten Hosen“ verschmelzen miteinander und ergänzen sich gegenseitig. Die Energie des Punks stimmt mit der Epoche des Sturms und Drang überein und es ist gefühlt so, als hätten Friedrich und Campino (Andreas Frege), Leadsänger der Band, zusammengesessen und gemeinsam dieses Stück aus dem Geist der Rebellion geschrieben.

Man hört Titel wie „Der Boden brennt“, Karl (Yascha Finn Nolting), der ältere Sohn des Grafen Moor (Tom Zahner), singt mit dem Ensemble „Wofür man lebt“ und sein Bruder Franz, die Kanaillie (David Jacobs) stellt lapidar fest „Alles wie immer“. Spiegelberg (Christof Messner) und die Räuber Schweizer (Tim Al-Windawe), Grimm (Wayne Götz), Razmann (Pedro Reichert), Schufterle (Andreas Schneider) und Roller (Markus Schneider) wissen: „Leben ist tödlich. “ Karl und Amalia von Edelreich (Nora C. Schulte) singen gemeinsam die wunderschöne Ballade „Auflösen“. Auch der Titel „Alles passiert“ wird neben weiteren anderen auf die Bühne gebracht. Musikalisch begleitet und unterstützt von einer Rockband mit Keys (Patrick Lammer), Gitarre (Bastian Ruppert), Bass (Servet Cenk Cenik) und Drums (Merlin Hellenkamp).


Die Räuber. Nora Schulte (Amalia). Foto: Bad Hersfelder Festspiele, Steffen Sennewald

 

Dass einige der Darsteller*innen eine Musical-Ausbildung haben, kommt der Inszenierung zugute. Hervorragende Sänger*innen alle. Erfreulich auch, dass die Inszenierung eine große Bandbreite von Charakteren gestaltet, deren emotionale Entwicklung man erleben kann. Dies wird besonders deutlich bei Karl und Amalia, aber auch die Charaktere der einzelnen Räuber werden sehr individuell und unterschiedlich gezeichnet.

Erlebt man den Schauspieler David Jakobs als Franz, die Kanaille, kann man verstehen, warum Schauspieler gerne den Bösewicht spielen. Die Ausgestaltung solcher Rollen lässt eine Fülle von Möglichkeiten zu, die David Jakobs auch zu bieten hat. Wie er schmeichelt, fordert, intrigiert, trickst und zum Schluss im Wahnsinn Selbstmord begeht, ist große Schauspielkunst und begeistert beim Zuschauen. Karl hat es da schon schwerer. Aber auch er gestaltet seine Rolle mit der nötigen Verzweiflung, Wut und Skrupel aus.

Zwei Brüder, die sich an der älteren Generation abarbeiten. Der eine kämpft gegen Ungerechtigkeit und der andere gegen die eigene Benachteiligung. Der eine versucht, die Welt zu verbessern, der andere denkt nur an seinen eigenen Vorteil. Beide scheitern letztlich mit ihrem Wollen. Der eine bringt sich selbst um, der andere liefert sich der Justiz aus. Ideale können in Radikalismus ausschlagen und die Welt als Scherbenhaufen hinterlassen.

Nora C. Schulte zeigt mit ihrer Amalia viele Facetten. Da ist einmal die unerschütterliche Liebe zu Karl bis zum bitteren Ende. Großartig das Bild, wie er sich aus ihrer Umarmung lösen will und sie immer wieder seine Arme nimmt, die sie halten sollen. Ihre Widerständigkeit gegen alle Annäherungsversuche von Franz und ihre Treue gegen dem Grafen Moor. Als kein Karl mehr auf sie wartet, das Kloster auch keine Alternative bietet, wählt sie den Tod. Eine von drei Möglichkeiten, die adlige Damen zur Zeit Schillers zur Auswahl hatten.

Bei den Kostümen (Heike Meixner) setzt man nicht nur auf Punk, sondern verortet diese auch in die Zeit Schillers. Besonders auffällig bei dem Grafen Moor im Bilderrahmen. Das Bild erinnert stark an ein Gemälde von Friedrich Schiller aus seiner Zeit.

Das Bühnenbild (Jens Kilian) bleibt minimalistisch. Die Stiftsruine ist Bild genug und der Regisseur Gil Mehmert erweist ihr seinen Respekt. Besonders bei schönem Wetter eine Traumkulisse.

In der Vorrede zu seinem Drama äußerte sich Friedrich Schiller zur erwünschten Wirkung seiner „Räuber“: „Mein Stück soll eine Kanonenkugel sein, die durch das bürgerliche Weltgebäude kracht!“ Nicht nur die moralischen und religiösen Werte seiner Zeit stellte Friedrich Schiller auf den Prüfstand, sondern er wollte auch mit aufklärerischem Appell emotional aufrütteln.

Das wollen und wollten auch Die Toten Hosen mit ihren Texten und ihrer Musik. Daher passt beides gut zusammen. Die bürgerliche Welt kracht zwar mit und nach dieser Inszenierung nicht zusammen, aber sie rüttelt emotional auf und zwingt zum Nachdenken. Vieles hat Schiller prophetisch vorausgeahnt und wir müssen uns fragen, warum der Mensch immer noch Ungerechtigkeiten, Autokraten, Fake News und Gewalt ausübt und erträgt.

Ich habe schon viele „Räuber“-Inszenierungen in meinem Leben gesehen – das hier in Bad Hersfeld ist und war die bisher beste. Und dass ich diesen Spielort jetzt für mich entdecken konnte, ist mir eine doppelte Freude.

 

 

Aufführungen noch bis 17. August. Im August noch insgesamt 10mal an verschiedenen Tagen

https://www.bad-hersfelder-festspiele.de/schauspiel/die-raeuber

Siehe auch TEXTOR-Kulturtipp

Erstellungsdatum: 21.07.2025