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Über die Verhinderung von Öffentlichkeit in unserer Gegenwart

Eine Zensur findet statt

Thomas Rothschild


Die gute Presse von 1847. Foto: Wikiwand

Der mündige Staatsbürger kann private und politische Entscheidungen sinnvollerweise nur treffen, wenn er ausreichend und differenziert informiert ist. Dies zu gewährleisten, liegt in der Verantwortung der Medien, also der Presse und der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Zensur schränkt diese Verantwortung ein und entmündigt den Menschen. Nach Artikel 5,1 unseres Grundgesetzes findet Zensur nicht statt. Thomas Rothschild setzt in seinem Essay die Wirklichkeit gegen den Anspruch.

 

Eine Bemerkung vorweg. Die bekanntesten Fälle, die nach 1945 unter dem Stichwort „Zensur“ diskutiert wurden, sind Verbote als Ergebnis eines Zivilprozesses: Klaus Manns „Mephisto“, die Bücher von Maxim Biller und Alban Nikolai Herbst. In all diesen Fällen geriet das Grundrecht der Kunstfreiheit in Konflikt mit anderen Grundrechten, etwa dem Persönlichkeitsschutz. Dieser Konflikt lässt sich nur juristisch lösen. Es ist ein echter Konflikt, der eine einseitige Parteinahme schwer macht. Man kann den Urteilen zustimmen oder sie für falsch halten. Jedenfalls handelt es sich nicht um Willkürmaßnahmen, die grundsätzlich gegen die künstlerische Freiheit gerichtet sind. Deshalb soll von solchen Fällen hier nicht die Rede sein.

Wenn man einen Mörder als jemanden definiert, der einem anderen mit Tötungsabsicht das Leben nimmt, dann sind Soldaten zweifellos im Sinne Tucholskys Mörder. Um das auszuschließen, muss man der Definition eine Einschränkung hinzufügen: Mörder wäre demnach jemand, der einem anderen mit Tötungsabsicht das Leben nimmt, außer er tut das im staatlichen Auftrag. Mit diesem Zusatz sind zugleich Henker von dem Vorwurf des Mordes absolviert.

Wenn man, wie George W. Bush, einen Krieg rechtfertigen und zu diesem Zwecke erklären will, der Gegner habe den Krieg begonnen und man reagiere nur darauf, muss man den Angriff auf das World Trade Center als Krieg definieren. Der Duden definiert den Krieg so: „mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, Völkern“. Diese Definition deckt einen Terroranschlag ganz offensichtlich nicht ab. Um also die eigenen kriegerischen Handlungen zu legitimieren, musste Bush den Krieg so definieren, dass der Anschlag vom 11. September 2001 mit diesem Begriff benannt ist und staatliche Waffengewalt als adäquate Antwort erscheint.

Will sagen: Wovon man spricht, hängt von der Definition der Begriffe ab. Und sehr oft wird so getan, als ginge es um ontologische Fakten, wo in Wahrheit nur terminologische Willkür herrscht. Wer das Dogma verteidigen möchte, dass es in unserer Demokratie keine Zensur gebe, definiert Zensur, bei der man gemeinhin Vor- und Nachzensur unterscheidet, als Verhinderung von Öffentlichkeit durch Institutionen – in der Regel: durch staatliche oder polizeiliche Institutionen. Die gibt es nämlich, anders als in früheren Zeiten oder in Diktaturen, tatsächlich nicht, jedenfalls nicht in einer offensichtlichen Form. Wenn man aber darauf besteht, dass Zensur auch ohne dafür etablierte Institutionen ausgeübt werden kann, wenn man Zensur eben als Verhinderung von Öffentlichkeit definiert, dann existiert sie, wie wir jeden Tag erfahren, durchaus heute und in unserer Gesellschaft, und es sind genau jene, die sie ausüben oder von ihrer Ausübung profitieren, die uns immer wieder erklären, sie sei nur ein Hirngespinst. Der Amsterdamer Germanist Bodo Plachta sagt demgegenüber: „Zensur ist – in welcher Form auch immer – ein allgegenwärtiges Phänomen komplexer gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse.“

Zur Verhinderung von Öffentlichkeit muss allerdings eine Absicht hinzukommen, damit sinnvoll von Zensur die Rede sein kann. Wenn ein Text nicht an die Öffentlichkeit gelangt, weil kein Papier vorhanden ist, die Druckmaschinen zerstört sind oder das Internet zusammengebrochen ist, dann hat das einen anderen Stellenwert, als wenn jemand beschließt, dass ein Text nicht gedruckt, nicht übers Netz verbreitet werden darf. Auch die so gerne als Begründung für verhinderte Öffentlichkeit genannten ökonomischen Zwänge haben einen anderen Status als Papiermangel oder ein technischer Defekt. Ob es an Papier fehlt oder eine Technik streikt, kann man eindeutig feststellen: Entweder es trifft zu, oder es trifft nicht zu. Es gibt jedoch keine absoluten ökonomischen Zwänge. Sie sind immer Resultat von Prioritätssetzungen. Wie man am Beispiel eines Staates sieht, der angeblich bei der Bildung sparen muss und plötzlich Milliarden bereitstellen kann, wenn es um die Rettung zugrunde gewirtschafteter Banken geht, so können auch Verlage entscheiden, wo sie investieren wollen. Sie müssen nicht an jedem einzelnen Titel verdienen. Früher war für mittlere und große Verlage die Mischkalkulation eine Selbstverständlichkeit. Mit profitablen Publikationen, auch mit Formularen oder Schulbüchern, finanzierten sie sperrige Titel, die wenig oder nichts einbringen. Das gehörte zu ihrem kulturellen Selbstverständnis. Heute klingt es fast schon exotisch. Mehr noch gilt das für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die ja nicht darauf angewiesen sind, das einzelne Produkt zu verkaufen. Ihre Einnahmen sind durch die Gebühren garantiert. Sie haben nur zu entscheiden, wofür sie sie verwenden wollen.

Wenn jemand beschließt, dass ein Buch nicht veröffentlicht werden soll, weil es der Stimmung im Land oder der Gesellschaft Schaden zufügen könnte, dann ist das ein politisches Faktum.

Wenn jemand beschließt, dass ein Buch nicht veröffentlicht werden soll, weil man damit kein Geld verdienen kann, dann ist das ein wirtschaftliches Faktum.

In beiden Fällen wird Öffentlichkeit verhindert. Nach welcher Logik soll der erste Fall als Zensur gelten und der zweite nicht? Nur das Dogma, dass Markt und Demokratie einander bedingten, versperrt den Blick auf die Tatsache, dass der Markt, wenn er Öffentlichkeit verhindert, undemokratisch ist. Denn Öffentlichkeit ist, anders als der Markt, tatsächlich notwendige Bedingung der Demokratie.

Wirtschaftlichkeit ist kein Naturgesetz. Nur der Neoliberalismus, der jede staatliche Intervention ablehnt, erhebt sie zum leitenden Prinzip. Dem gegenüber steht die Überzeugung, dass die öffentliche Hand durchaus eingreifen kann und soll, wo Werte und Prioritäten gegen das Diktat der Wirtschaftlichkeit zu verteidigen sind. Schulen etwa und Gefängnisse müssen in unserer Gesellschaft (noch) nicht wirtschaftlich arbeiten. Und der Abbau von Leistungen im Gesundheitssystem führt deutlich vor Augen, wie mit der Forcierung des Wirtschaftlichkeitsgedankens Demokratie durchlöchert wird. Dass die zunehmende Zweiklassenmedizin demokratisch sei, wird ja wohl kein halbwegs zivilisierter Mensch behaupten.

Wenn Kultur im Allgemeinen und Literatur im Besonderen also als unentbehrlicher Wert, als eine der obersten Prioritäten im Selbstverständnis des Staates betrachtet werden, dann kann man bei ihnen ebenso auf Wirtschaftlichkeit verzichten wie etwa bei Empfängen und Repräsentationsveranstaltungen von Politikern. Die günstigen Klassikerausgaben etwa, die man in der DDR erwerben konnte, haben sich sicher nicht „gerechnet“. Aber ihre Förderung entsprach dem wie immer bigotten Verständnis eines kulturellen Erbes. Diese Förderung ist keine Entschuldigung für die politische Zensur, die in den DDR-Verlagen stattfand, aber sie ist auch nicht deshalb des Teufels, weil ein undemokratisches Regime sie durchgeführt hat. In diesem Punkt war es eben demokratischer als die demokratischen Staaten, die das Bildungsprivileg jener Minderheit vorbehalten, welche sich teure Bücher leisten kann.

Sehr häufig fallen literarische Texte tatsächlich wirtschaftlichen Erwägungen zum Opfer. Da sie sich nach Berechnungen des Verlegers nicht verkaufen werden, da sie keinen Profit versprechen, wird ihnen die Veröffentlichung verweigert. Da aber das Argument der Wirtschaftlichkeit in unserer Gesellschaft allgemein anerkannt, da die Notwendigkeit, Profite zu erzielen, nicht angezweifelt wird – keine Ideologie hat sich, zumal seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Gegenmodells, so effektiv durchgesetzt wie eben diese von der übergeordneten Bedeutung des Marktes –, eignet sich das Argument mangelnder Verkäuflichkeit auch als Vorwand, um Texte abzulehnen, die einem formal oder in ihrer Aussage nicht passen – und hier findet dann Zensur in einem engeren Sinne statt.


Johann Richard Seel (1819-1875)Der Eintritt der Censur in Deutschland (1842). Foto: Hajotthu. Wikimedia commons

 

Das Thema, über das wir hier reden, ist ja nicht neu. Schon 1999 schrieb Fritz J. Raddatz, ein Zeuge mit Ost-West-Erfahrung, in der ZEIT: „Die Mühlen der Zensur jedoch, einmal rechts, einmal links, mahlten in beiden Deutschlands gemeinhin viel feiner, der Öffentlichkeit kaum erkennbar. Hie war es die – keineswegs unpolitische – Zensur des Marktes, dort war es die – Gesetze des Marktes ignorierende – Zensur der Ideologie.“ „Dort“ gibt es nicht mehr. Es ist Geschichte. „Hie“ aber ist jetzt überall, nicht nur in Deutschland, und die „Zensur des Marktes“ herrscht ungeniert.

Dieter Schlesak, ein weiterer unverdächtiger Zeuge, schrieb bereits 1995 in der Berliner Zeitung: „Als Ostwesteuropäer hoffte ich nach '89, auch zu östlichen Lesern sprechen zu können. Denn sie kannten das Versteckspiel in der Metapher, mit der gefährliche Inhalte ausgedrückt wurden, sie waren erstaunliche Dechiffrierexperten. Aber es gibt auch westliche Gummiwände, gegen die man rennen kann – zwar ohne sich den Kopf einzuschlagen, jedoch auch ohne gehört zu werden. Keine Reaktion. Daran hat sich nach 1989 nichts geändert. Gott sei Dank gibt es die politische Zensur nicht mehr, dafür funktionieren die Zensur des Marktes und der Einschaltquoten wunderbar und ohne jede Diskussion.“

Für den engeren Bereich des Rundfunks hat Michael Schneider es so formuliert:

„Die Diktatur der Quote aber hat letzten Endes eine viel nachhaltigere und wirksamere Zensur (und Selbstzensur) im Gefolge, als jede staatliche Zensurbehörde sie durchzusetzen vermöchte. Denn sie vollzieht sich anonym, vermittelt nur über den Druck und die ‚natürliche Auslese' des Marktes, darum ist sie auch schwerer fassbar und angreifbar als die klassische Zensur einer staatlichen Aufsichtsbehörde. An deren Stelle ist heute die anonyme Zensur des Marktes getreten, die sich als Schere im Kopf der meisten Medienmacher reproduziert.“

Zu den Formen aktueller Zensur des Marktes, die kaum wahrgenommen werden, gehört die Tatsache, dass Bücher zwar erscheinen, aber immer schneller verramscht oder nicht nachgedruckt werden und allenfalls noch in Bibliotheken zugänglich sind. Zu den Formen der Selbstzensur gehört, dass Formate, die der Rundfunk nicht mehr sendet, weil der Hörer, den er sich mit seiner Programmpolitik geschaffen hat, sie angeblich „nicht will“, nicht mehr geschrieben und gestaltet werden. Es lohnt auch ein Blick auf die Veranstaltungsprogramme der an sich verdienstvollen Literaturhäuser. Die meisten orientieren sich am bereits Erfolgreichen, als müssten auch sie eine Quote erfüllen. Die Alternative – dass man sich nämlich mit Nachdruck für jene einsetzt, die es ansonsten schwer haben, durch Lesungen oder Gespräche die Öffentlichkeit zu erreichen – demonstriert seit Jahren das Literarische Quartier Alte Schmiede in Wien. So, nämlich als Korrektur am Markt, nicht als dessen Erfüllungsgehilfe, müsste ein Literaturbetrieb funktionieren, der gegen die heimliche Zensur ankämpfen will.

Es gibt auch eine Form der mittelbaren Zensur durch den Markt, die nicht in Verbot, Ablehnung und Verhinderung besteht, die keine Zeichen hinterlässt und die daher noch weniger registriert wird als die erwähnten Missstände. Gemeint ist die Verhinderung von Literatur durch die ökonomische Situation derer, die sie schaffen. Der überwiegende Teil der Schriftsteller kann vom Schreiben nicht leben. Ein hoher Prozentsatz lebt am Rande des Prekariats, hat ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Das war zwar auch in früheren Jahren so, aber es gab Möglichkeiten, sich durch berufsnahe Tätigkeiten über Wasser zu halten: durch Rundfunkaufträge, durch Lesungen. Diese Möglichkeiten sind in den vergangenen Jahren zunehmend weggeschmolzen. Die Wortsendungen, zumal literarische, wurden in den öffentlich-rechtlichen Anstalten verringert, im privaten Rundfunk und Fernsehen kamen sie meist sowieso nicht vor. Unter diesen Bedingungen entstehen Texte gar nicht erst, für die man sich früher immerhin Publikationschancen errechnet hätte. Wer heute einen Lyrikband veröffentlicht, der nur selten eine Auflage von 500 Exemplaren übersteigt, der kaum Aussicht hat, rezensiert zu werden, von dessen Existenz die Öffentlichkeit möglicherweise gar nicht erfährt, muss schon heroisch oder von blinder Leidenschaft erfüllt sein. Wer zwei Jahre an einem Roman schreibt, für den er dann, mit etwas Glück, 3000 Euro bekommt, sollte sich rechtzeitig nach einem gut verdienenden Ehepartner umsehen. Es gibt wohl Stipendien und Preise, aber sie sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Ist es gottgewollt, dass Schriftsteller, wie übrigens auch die Ausübenden anderer künstlerischer Berufe, der Gesellschaft weniger wert sind als Bauern, die einen Überschuss an Butter produzieren? Auch dies ist Zensur: wenn jene ausgehungert werden, die der Markt ausscheidet. Man muss das Urheberrecht gar nicht erst abschaffen, wo man die Urheber abschafft.

Die radikalste Zensur fand in Deutschland zwischen den Karlsbader Beschlüssen von 1819 und der Revolution von 1848 statt. Aber sie hatte immerhin den Vorteil, dass man ihre Regeln kannte, dass sie angekündigt war und man sie mit allerlei Tricks überlisten konnte. Die Autoren jener Zeit von Heinrich Heine bis Johann Nepomuk Nestroy waren da recht findig.

Am 10. Dezember 1835 beschloss die Bundesversammlung der Deutschen Bundesstaaten das Folgende:

Nachdem sich in Deutschland in neuerer Zeit, und zuletzt unter der Benennung „das junge Deutschland“ oder „die junge Literatur“, eine literarische Schule gebildet hat, deren Bemühungen unverhohlen dahin gehen, in belletristischen, für alle Klassen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören: so hat die deutsche Bundesversammlung – in Erwägung, dass es dringend nothwendig sey, diesen verderblichen, die Grundpfeiler aller gesetzlichen Ordnung untergrabenden Bestrebungen durch Zusammenwirken aller Bundesregierungen sofort Einhalt zu thun, und unbeschadet weiterer vom Bunde oder von den einzelnen Regierungen zur Erreichung des Zweckes nach Umständen zu ergreifenden Massregeln – sich zu nachstehenden Bestimmungen vereiniget:

  • Sämmtliche Deutsche Regierungen übernehmen die Verpflichtung, gegen die Verfasser, Verleger, Drucker und Verbreiter der Schriften aus der unter der Bezeichnung „das junge Deutschland“ oder „die junge Literatur“ bekannten literarischen Schule, zu welcher namentlich Heinrich Heine, Carl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolph Wienbarg und Theodor Mundt gehören, die Straf- und Polizei-Gesetze ihres Landes, so wie die gegen den Missbrauch der Presse bestehenden Vorschriften, nach ihrer vollen Strenge in Anwendung zu bringen, auch die Verbreitung dieser Schriften, sey es durch den Buchhandel, durch Leihbibliotheken

oder auf sonstige Weise, mit allen ihnen gesetzlich zu Gebot stehenden Mitteln zu verhindern.

2) Die Buchhändler werden hinsichtlich des Verlags und Vertriebs der oben erwähnten Schriften durch die Regierungen in angemessener Weise verwarnt und es wird ihnen gegenwärtig gehalten werden, wie sehr es in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse liege, die Massregeln der Regierungen gegen die zerstörende Tendenz jener literarischen Erzeugnisse auch ihrer Seits, mit Rücksicht auf den von ihnen in Anspruch genommenen Schutz des Bundes, wirksam zu unterstützen.

3) Die Regierung der freien Stadt Hamburg wird aufgefordert, in dieser Beziehung insbesondere der Hoffmann- und Campe'schen Buchhandlung zu Hamburg, welche vorzugsweise Schriften obiger Art in Verlag und Vertrieb hat, die geeignete Verwarnung zugehen zu lassen.

Dieser Text ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, wenn man von der heutigen Situation spricht. Zunächst: Die Begründung für das Verbot, dass nämlich die angezeigten Autoren angeblich „die christliche Religion auf die frechste Weise angreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zerstören“, enthält genau die Topoi, die die gesamte Zensurgeschichte durchziehen, nämlich Religionsbeleidigung, politische Kritik und Sexualität. Wenn es heute die mächtigen Institutionen von Religion und Politik, nämlich die Kirche und der Staat sind, die zwar nicht mehr durch Institutionen, aber durch Druck und Propaganda die Aufführung von Theaterstücken und Filmen oder die Veröffentlichung von Büchern und Zeitungsartikeln zu verhindern suchen und auch tatsächlich verhindern, dann setzt sich diese Tradition bis in unsere Gegenwart fort.


William Adolphe Bouguereau: Die Geburt der Venus (1879), nach Zensur mit schwarzen Balken über dargestellten Geschlechtsorganen. Musée d'Orsay, Paris. Wikimedia commons

 

Zweitens: Das Beispiel mahnt zur Zurückhaltung bei Angriffen auf die Vertreter anderer Religionen, die heute nachholen, was die katholische und die evangelische Kirche über Jahrhunderte praktiziert haben. Zumindest wäre eine historische Relativierung empfehlenswert. Zum Gefühl der Überlegenheit gibt es keinen Anlass. Und schließlich: Der Hinweis auf Hoffmann und Campe belegt, dass damals, zu Zeiten Metternichs, Schriftsteller und Verlage noch am selben Strang zogen, weil sie einen gemeinsamen Feind hatten – eben die staatliche Zensur. Das hat sich verändert. Mit dem Wegfall einer institutionalisierten Zensur haben die Verlage, aber auch Zeitungs- und Rundfunkredakteure die Aufgabe übernommen, zu blockieren, was wirtschaftlich oder politisch nicht erwünscht ist. Das ist im Übrigen keine Spezialität der Bundesrepublik. Auch in der DDR haben die Verleger und Redakteure den staatlichen Institutionen häufig die Einmischung erspart, indem sie schon vorweg in deren Interesse entschieden.

Noch 1912 wurde die Aufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück Professor Bernhardi „wegen der tendentiösen und entstellenden Schilderung hierzuländischer öffentlicher Verhältnisse“ verboten. Nun wissen wir, dass jede Bäckervereinigung und jeder Lehrerverband Theateraufführungen am liebsten verbieten ließe, in denen Bäcker oder Lehrer nicht so dargestellt werden, wie diese sich selbst sehen. Nur haben sie mit ihren partikulären Wünschen wenig Erfolg und setzen sich mit Protesten eher der Lächerlichkeit aus. Aber Religionsgemeinschaften und auch politische Institutionen haben bis heute durchaus Erfolgschancen, wenn sie der Ansicht sind, dass irgendwelche Verhältnisse tendenziös oder entstellend geschildert würden. Erinnert sei an die Indizierung von Henry Millers Opus Pistorum, an den Brecht-Boykott der fünfziger Jahre in Westdeutschland und in Österreich, an das Schicksal von Felix Mitterers Stigma, von Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod, von George Taboris Inszenierung des Buchs mit sieben Siegeln von Franz Schmidt.

Nicht immer freilich funktionieren die Drohszenarien. Der Versuch, Anfang 2012 das Gastspiel von Gólgota Picnic von Rodrigo García am Hamburger Thalia Theater zu verhindern, ist gescheitert. Auch im Fall von Thomas Bernhards Heldenplatz blieben die Drohungen zum Glück ohne Folgen. Immerhin bewiesen ihre Autoren, in erster Linie Mitarbeiter der auflagenstarken Kronen Zeitung, dass sie die Geisteshaltung von Arthur Schnitzlers Anklägern bis heute beibehalten haben. Der Kolumnist Peter Gnam mahnte den Bundeskanzler: „Mit dieser vornehmen Zurückhaltung gegenüber Österreich-Besudlern wird der Kanzler Probleme bekommen und zwar vor allem bei ‚kleinen' Sozialisten, denen ihr Vaterland Österreich mehr noch als vielen anderen über alles geht. Und so mancher wird sich fragen, ob der ‚Quereinsteiger‘ Vranitzky keinen Kontakt zur Basis hat, denn in den Parteilokalen von Ottakring, Floridsdorf oder Hernals wüsste man schon die richtige Antwort auf Peymann, Bernhard und Co.“ Das ist, nur spärlich verhüllt, eine Aufforderung zur Lynchjustiz. Auch so kann man Zensur üben. Und der Leiter des innenpolitischen Ressorts, Sohn des Theaterwissenschaftlers Heinz Kindermann, der schon als Nationalsozialist für Zucht und Ordnung sorgte, schob nach: „Jetzt gibt es einen Riesenwirbel um Peymanns Provokation, Thomas Bernhards ‚Heldenplatz‘ zum 100. Geburtstag des Burgtheaters aufführen zu lassen: Sauer verdientes Steuergeld soll dafür flüssig gemacht werden, dass die Österreicher in diesem Stück pauschal als Massenmörder, Debile und unverbesserliche Nazis diffamiert werden.“

Beispiele dieser Art halten sich erfreulicherweise zahlenmäßig in Grenzen. Die verhüllte Zensur jedoch gehört zum Alltag und wird ebenso wenig wahrgenommen wie andere Phänomene, die man für naturgegeben hält. Der Typus des liberalen Lektors oder Redakteurs, dem es darum ging, ein gutes Buch, eine gute Zeitschrift zu produzieren, Diskussionen anzuregen, und der daher auch Beiträge begrüßte und veröffentlichte, deren Meinung er nicht teilte, ja sogar ablehnte, existiert kaum noch. Nun kann man einwenden, es gebe ja stets die Möglichkeit, was an einem Ort abgelehnt wurde, anderswo zu publizieren. Das stimmt aber angesichts einer zunehmend vereinheitlichten Medienlandschaft immer weniger. Und selbst wenn es noch gelingt, bedeutet es, dass man nur zu den Bekehrten predigt, nur dort aufscheinen kann, wo Herausgeber, Lektoren, Redakteure und vermutlich der Großteil der Leserschaft die eigene Position vertritt. Das ist nicht nur langweilig – es schadet auch der Demokratie, die auf Widerspruch angewiesen ist.

Wer für Zeitungen schreibt und noch nicht völlig angepasst ist, hat diese Erfahrung gemacht: Er liefert einen vereinbarten Artikel. Doch der Redakteur erklärt – oft erst auf Anfrage, nachdem der Beitrag über Wochen und Monate hinweg nicht erschienen ist –, er weise formale Mängel auf, es sei bei der redaktionellen Planung Unvorhergesehenes dazwischengekommen, er passe nicht ins aktuelle Umfeld. Man bedaure, aber vielleicht beim nächsten Mal… Meist folgt darauf ein langes, manchmal auch ein endloses Schweigen.

Es handelt sich offensichtlich um Ausreden. Man macht sich keine sehr große Mühe, das zu verschleiern. Schließlich gibt es ja so etwas wie redaktionelle Verantwortung. Wenn aber der solcherart Abgewiesene von „Zensur“ spricht, reagiert der ansonsten so coole Redakteur aufbrausend. Zensur – das sei in unserer freiheitlichen Ordnung ein obsoleter Begriff, so etwas gebe es heute nur noch in Diktaturen. Die Behauptung ersetzt das Argument. Denn auch für den Redakteur ist das Wort „Zensur“ negativ besetzt. Damit will er nicht in Zusammenhang gebracht werden. Wer wagte, in unseren geografischen Breiten und in unserem Jahrhundert den Standpunkt offensiv zu vertreten, dass es rechtens und wünschenswert sei, die öffentliche Moral zu verteidigen, die Kirche und den Staat vor Diffamierung zu schützen, die Verbreitung ungebührlicher Gedanken zu verhindern? Die Freiheit des Wortes und der Presse gilt unserer Demokratie als so hoher Wert, dass man sie zwar insgeheim fast täglich einschränken und beschneiden, sich aber niemals zu solchen Maßnahmen bekennen darf. Dass selbst das keine Selbstverständlichkeit ist, beweisen Donald Trump oder die AfD mit zunehmender Dreistigkeit.

Es liegt auf der Hand, dass Zensur stets ein Herrschaftsinstrument ist und eng mit den jeweiligen Machtverhältnissen zusammenhängt. Aber die Zensoren aller Zeiten bedurften für ihre Vorschriften und Verbote durchaus mehr oder weniger rationaler Begründungen, die man, will man ihre Funktionsweise und ihre Langlebigkeit begreifen, zwar nicht für richtig halten, jedoch kennen muss. Noch die krasseste Form der Zensur, die Bücherverbrennung, deren Geschichte von der Antike bis zu den Nationalsozialisten und einem deutschen Dorf des Jahres 2006 reicht, kommt nicht ohne scheinlogische Rechtfertigungen aus.

Dass Zensur, so sehr sie ein Ärgernis ist, auch im 21. Jahrhundert ein ambivalentes Phänomen bleibt, belegt der Hinweis des bereits erwähnten Germanisten Bodo Plachta auf Kinderpornographie und rechtsextreme oder terroristische Propaganda im Internet. Diese Problematik hat in jüngster Zeit neue Aktualität erlangt. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass der Schutz von Urheberrechten, über dessen Formen man durchaus streiten kann, und Zensur zweierlei Dinge sind, auch wenn sie miteinander in Konflikt geraten können. Wer allerdings den Schutz des Eigentums an geistigen Produkten, also die eingeschränkte Verfügbarmachung von unbezahlten Ergebnissen intellektueller Arbeit als Zensur bezeichnet, muss auch den Privatbesitz von Seegrundstücken oder Villen, also den eingeschränkten Zugang zur Natur oder zu Wohnraum, als Diebstahl benennen. Man kann über die Vergesellschaftung von Eigentum und Arbeitsleistungen nachdenken. Solange sie aber nur – zum Beispiel im Internet veröffentlichte – Produkte geistiger Arbeit betrifft und nicht auch die Leistungen des Zahnarztes, des Rechtsanwalts und des Industriemanagers, ist ein Schutz vonnöten, und wenn das jemand Zensur nennt: Sei's drum.

Es läuft auf eine sehr viel allgemeinere Frage von politischer und philosophischer Bedeutung hinaus: wie nämlich Freiheit zu schützen und ihr Missbrauch gleichzeitig zu unterbinden sei. Wenn aber, bildlich gesprochen, der Metternich in den Köpfen vieler Politiker und Verantwortungsträger bis heute sein Unwesen treibt, dann ist die Gefahr einer Einschränkung von Freiheiten allemal akuter als die eines Missbrauchs von Freiheiten. Und so erscheint eine positive Umwertung des Begriffs „Zensur“ nicht als vordringliches Problem. Die Ächtung der Zensur ist, bei aller Ambivalenz, eine demokratische Errungenschaft. Dass sie unter anderem Namen und in anderer Form – man denke an die längst sprichwörtliche „Schere im Kopf“ – weiterlebt, wollen wir der List des Teufels zuschreiben.

Der hat ja gelegentlich seine Hand im Spiel und sorgt für Verwirrung. Jedenfalls ist sein Schabernack effektiver als die göttliche Gerechtigkeit. Die würde verlangen, dass Gesellschaften, in denen die Zensur institutionalisiert ist, schlechtere Kunst hervorbringen als scheinbar freie Gesellschaften. Dem ist aber nicht so. Große Mühe wird haben, wer nachweisen will, dass etwa die – veröffentlichte wie zensierte – Literatur der DDR pauschal weniger bedeutend gewesen sei als die der Bundesrepublik Deutschland. Autoren wie Christa Wolf, Volker Braun, Heiner Müller oder Uwe Johnson können einen diesbezüglichen Vergleich mit, sagen wir, Heinrich Böll, Ulla Hahn, Tankred Dorst oder Martin Walser allemal aushalten. Zensur in jeglicher Form muss bekämpft werden, nicht, weil sie Qualität verhindert, sondern weil sie im Widerspruch steht zu den Bedingungen einer Demokratie. Sie ist erst in zweiter Linie ein literarisches, vor allem aber ein politisches Faktum. Schriftsteller und Journalisten betrifft sie zwar insofern, als sie, schreibend, ablehnen müssen, was sie an ihrer Arbeit behindert. Aber sie ist für jeden Staatsbürger von Belang, der auf Demokratie Wert legt. Die Freiheit des Wortes – und um nichts anderes geht es, wenn die Zensur unter Anklage steht – ist auch noch für jene wichtig und verteidigenswert, die von ihr keinen Gebrauch machen. Wenn sie es täten, wenn wir in einer Gesellschaft lebten, die jedem nicht nur gestattet, sondern ihn auch befähigt, von der Freiheit des Wortes Gebrauch zu machen, würde das den Begriff Demokratie mit Inhalt füllen. Aber das ist ein anderes Thema.

Erstellungsdatum: 27.04.2025