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Aus dem Notizbuch

Eisblumen und Wünsche

Eldad Stobezki


Eisblumen. Foto: Christoph Waghubinger (Lewenstein), pixabay

Das ist der Fortschritt. Da muss man mitlaufen. So bissig wurden bisher die absurden Errungenschaften der technischen Entwicklung kommentiert. Nicht nur die Post wünscht Adressen in Druckschrift, damit sie maschinenlesbar sind. Das Tempo bestimmt auch die Bestrebungen, an Grundschulen die Schreibschrift durch die Druckschrift zu ersetzen, weil Schüler und Schülerinnen, wie man feststellen musste, handschriftlich langsamer schreiben. Doch Eldad Stobezki beschäftigt sich in seinen Notizen darüber hinaus mit Zwetschgenkuchen, Kornelkirschen, Wasser, gekochte Eier und – Eisblumen.

 

Von den Eisblumen, die sich im Winter zwischen den Doppelglasfenstern bildeten, erzählte mein Vater mir, als ich ein Kind war. Er war immer bemüht, mich für die Wunder der Natur zu sensibilisieren und erklärte mir, dass jede Eisblume genau so einzigartig sei wie die Fingerabdrücke. Aber beschlagene Fensterscheiben und Außentemperaturen unter 0 °C konnte ich mir als Kind nicht vorstellen.
In unserem Garten wuchs ein Bodendecker, den meine Mutter „Eisblume“ nannte. Ich liebte die leuchtenden Blumen und die sukkulentenartigen Blätter, die einen grünen Teppich bildeten. Dass meine Fingerabdrücke einzigartig sind, hat mich mehr beeindruckt als die individuellen Eiskristalle an einem Fenster in Schwäbisch Hall.
Mit dem Klimawandel und den modernen Fenstern muss man vielleicht nach Lappland reisen, um Eisblumen zu sehen.

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Ein Freund hat uns zum Kaffee eingeladen. Es ist Ende September, und er hat einen Zwetschgenkuchen gebacken.
In einem der Bücher meiner Eltern fand ich vor einigen Jahren einen Brief aus dem Jahr 1934. Er war von Selma Stobezki, die in Heilbronn geblieben war. Darin bat sie meine Großmutter, die damals schon in Tel Aviv lebte, um ihr Rezept für Zwetschgenkuchen.
Die Tante, die den Brief schrieb, nahm sich noch im selben Jahr das Leben – ob sie vorher noch den Kuchen gebacken hatte?
Mitte der 1980er Jahre besuchte ich ihr Grab in Heilbronn. Wenn ich Zwetschgenkuchen esse, muss ich immer an sie denken.

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In Flensburg sorgte ein antisemitisches Plakat für Entsetzen. Der Ladenbesitzer schrieb: „Juden haben hier Hausverbot!!! Nichts Persönliches, kein Antisemitismus, kann euch nur nicht ausstehen.“ Darüber kann man sich in den Medien informieren. Mir gefiel die Reaktion von Irek Zabłocki auf der Facebook-Seite von „Israelische Waren in Deutschland kaufen“:
„Freunde, es tut mir leid, aber nach den Ereignissen in Flensburg muss ich etwas Symbolisches tun. Ich besitze zwar kein Geschäft, aber einen Garten. Hier wachsen Kornelkirschen aus ganz Europa. Juden sind in meinem Garten herzlich willkommen. Wenn du also Jude bist und in der Nähe von Minden in Westfalen wohnst, kannst du vorbeikommen und Kornelkirschen für Marmelade oder Likör pflücken. Für ein Kaffeegespräch habe ich gerade keine Zeit, da die Ernte bereits läuft, aber ich helfe dir gerne beim Pflücken der sauberen Früchte. Auch Freunde Israels sind natürlich herzlich willkommen.“
Leider bin ich gerade nicht in der Nähe von Minden.

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Jany schickte Fotos vom Urlaub. Die Landschaft ist karg. Sie steht an einem Brunnen und betätigt die Pumpe. Der Wasserstrahl kommt zögerlich. Dann füllt sie das kostbare Wasser in einen Kanister ab. Trotz der Anstrengung sieht sie glücklich aus.
In Jesaja 12,3 steht: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils.“ Heute drehen wir den Hahn auf, das Wasser fließt, und wir wissen es nicht zu schätzen. Früher war der Brunnen der zentrale Treffpunkt des Dorfes, dort wurden Nachrichten ausgetauscht und Geschäfte besiegelt.
Die schönste Liebesgeschichte der Bibel begann an einem Brunnen:
„Während Jakob noch mit ihnen redete, kam Rahel mit der Herde ihres Vaters; denn sie war eine Hirtin. Als Jakob Rahel sah, die Tochter Labans, des Bruders seiner Mutter, und die Schafe Labans, des Bruders seiner Mutter, trat er hinzu, wälzte den Stein von der Öffnung des Brunnens und tränkte die Schafe Labans, des Bruders seiner Mutter. Und Jakob küsste Rahel und weinte laut.“ (Genesis 29, 9–11).

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Hessen hält, trotz der Diskussionen in anderen Bundesländern, an der Schreibschrift fest und wird sie weiterhin an Grundschulen lehren. Hessens CDU-Bildungsminister Armin Schwarz betont die Bedeutung des flüssigen, verbundenen Handschreibens für Textverständnis, Merkfähigkeit und strukturiertes Denken und widerspricht damit Modellprojekten in anderen Ländern, die einen Verzicht auf die Schreibschrift prüfen.
Dass überhaupt überlegt wird, die Schreibschrift nicht mehr zu unterrichten, zeigt mir nur, wie weit wir schon sind, wenn die Bedeutung der Handschrift bereits derart unterschätzt wird. Auch wenn wir kaum noch Briefe mit der Hand schreiben – wer denkt sich so etwas aus? Auf die Schreibschrift verzichten? Um Himmels willen, nein!!

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Ungeklärte Frage:

Neulich starb der betagte Vater einer Freundin. Er war Publizist und Schriftsteller. Seinen Nachlass konnte sie an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verkaufen. Nachdem alle Kartons mit seinen Manuskripten, Tagebüchern und Notizen abgeholt waren, wirkte das Haus so leer.
Mit einem Glas Rotwein und einer Zigarette setzte sie sich vor seinen Biedermeier-Sekretär und erinnerte sich, dass es dort ein Geheimfach gibt. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und trank den Wein zu Ende. Dann stand sie auf, zog die mittlere Schublade ganz heraus und entdeckte eine drehbare Leiste, die das Fach verbarg.
Sie schaute hinein und fand einen Zettel, der laut Datum schon vor zwanzig Jahren geschrieben worden war. Darauf stand: „Muss man gekochte Eier wirklich abschrecken?“

Eldad Stobezki
Rutschfeste Badematten und koschere Mangos

Gebunden, 150 Seiten
ISBN 9783949671159
Edition-W

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Erstellungsdatum: 20.12.2025