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Aus dem Notizbuch

Eltern

Eldad Stobezki


Melken 1950. Deutsches Bundesarchiv. wikimedia commons

Eine Auslegung des uralten, heiklen Spruchs „Blut ist dicker als Wasser“ beschwört die unbedingte Solidarität der Familie. Darauf setzen beispielsweise die sogenannten Enkel-Trickser mit ihren Erpressungsversuchen. Die leibliche Familie pflanzt, fürsorglich, Bilder der Geborgenheit ins Gedächtnis, ebenso wie die religiöse, wenn auch beide zu absurden Regelwerken und kontrollierender Herrschaft neigen können. Eldad Stobezki notiert aus der Erinnerung, die aufschließt zum täglichen Erleben.


September 2025

Heute vor sechzehn Jahren ist meine Mutter gestorben. In der Familien-WhatsApp-Gruppe gedenken wir ihrer, mein Bruder in Tel Aviv, meine Schwester in London und ich in Frankfurt.

In jedem Frühjahr bekam ich als Kind eine Grippe. Dann kochte mein Vater Tee mit frisch gepresster Zitrone und Zucker, der mir schmeckte und den ich heiß trinken musste. Das Glas war dünn und hatte einen Henkel. Darunter stand in lateinischen Buchstaben „Jena“. Alle Jeckes hatten Jena-Teegläser mit Henkel. Ich musste vorsichtig sein. „Das Glas darf nicht kaputtgehen“, sagte meine Mutter und schlug mir vor, zusammen Scrabble zu spielen. Das war das Beste, was mir passieren konnte. Wir erfanden Wörter, stritten uns über deren Existenz, lachten viel. Dann schälte sie für mich eine Orange und teilte sie in Schnitze. Die Orangenschnitze mussten trocken bleiben, sonst aß ich sie nicht. Am nächsten Tag kontrollierte mein Vater das Fieber. Ich hatte zwar kein Fieber mehr, musste aber nicht in die Schule gehen – die Grippe kam immer in den Pessach-Ferien.
„Obst“, antwortete meine Mutter auf die Frage meines Vaters. Sie saß schon im bequemen Sessel vor dem Fernseher, die Füße ausgestreckt, die Kopfhörer bereits auf dem Kopf, denn sie war schwerhörig. Mein Vater brachte ihr einen Teller mit ihren bevorzugten Obstsorten: Pflaumen, Weintrauben und Aprikosen. Aprikosen haben eine kurze Saison, und die Zeit musste ausgenutzt werden. Ich koche jedes Jahr Aprikosenmarmelade und schreibe auf das Etikett ihr Alter. 2025 wäre Mutter 108 Jahre alt geworden.
Immer wenn ich meine Familie in Israel besuchte, bat mein Vater mich, Johannisbeeren-Gelee mitzubringen. Ich kochte das Gelee und beschriftete das Glas mit „Träuble“ – so heißen sie auf Schwäbisch. Bei jedem Besuch in Israel dachte ich daran, dass ich meine Eltern vielleicht zum letzten Mal sehe. Mein Vater starb einen Monat nach meiner Mutter. Mutter und Vater leben in uns. Sie gehen durch unsere Träume.

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Nun bin ich selbst schon alt und besitze noch immer eine sechsstellige Festnetznummer. Da ist es kein Wunder, dass ich einen Anruf von meinem vermeintlichen Enkel bekam.
Er: „Opa? Ich bin’s, dein Enkelsohn.“
Ich: „Ach, lange nichts von dir gehört. Sag mal, Edwin, wie geht es dir? Wo bist du? Bist du noch in Atlanta? Und dein Job bei Coca-Cola? Hast du den noch?“
Er: „Nein, ich wurde gefeuert. Ich bin jetzt wieder in Deutschland und suche eine neue Arbeit. Deshalb rufe ich dich an.“
Ich: „Ach, da brauchst Du bestimmt Geld. Du weißt aber, dass ich Hartz-IV-Empfänger bin, oder?“
Edwin hat aufgelegt. Beim nächsten Anrufer erfinde ich eine andere Geschichte.

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Die jüdischen Speisegesetze, die sogenannte „Kaschrut“, machen mich wahnsinnig. Ende September fallen die Hohen Feiertage an, und weil sie mit Schabbat zusammenfallen, wird es mindestens sechs Tage geben, an denen Juden ihre Kühe nicht melken dürfen. Deshalb werden sechs Millionen Liter Milch vernichtet. In Israel ist das der Milchbedarf für eine ganze Woche. Der Versuch, Milch zu importieren, die den Bedarf decken sollte, ist gescheitert.
Dieser in zweifacher Weise unmöglichen Tatsache möchte ich ein Gedicht der polnischen Lyrikerin Anna Świrszczyńska (1909–1984) gegenüberstellen:

 

Eine Stunde länger leben
Im Gedenken an Stanisława Świrszczyńska

Das Kind ist zwei Monate alt.
Der Doktor sagt:
Ohne Milch wird es sterben.
Die Mutter geht den ganzen Tag durch die Keller
ans andere Ende der Stadt.
In Czerniaków
hat der Bäcker eine Kuh.
Sie robbt auf dem Bauch
durch Trümmer, Schlamm, Leichen.
Sie bringt drei Löffel Milch mit.
Das Kind lebt
eine Stunde länger.

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Wir sitzen in Sachsenhausen in einer Apfelweinwirtschaft. Ein Paar setzt sich dazu. Wir unterhalten uns, und die Frau fragt, woher mein Restakzent kommt. Ich sage: „Ich komme aus Israel.“ Ihr Mann sagt: „Ich an ihrer Stelle hätte gesagt, dass ich aus Portugal komme.“ Danach redeten wir weiter, als wäre nichts gewesen.

Eldad Stobezki
Rutschfeste Badematten und koschere Mangos

Gebunden, 150 Seiten
ISBN 9783949671159
Edition-W, Frankfurt, Frankfurt 2024

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Erstellungsdatum: 24.11.2025