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Gerichtsdrama im Staatstheater Meiningen

Ende einer Verhandlung

Walter H. Krämer


Anna Gmeyner beim Schreiben © persona verlag

Technische Innovationen und das reaktionäre Bürgertum inspirierten Anna Gmeyner 1932 zu ihrem Stück „Automatenbüfett“. Sorgte ihr Debüt auf den etablierten Bühnen für Furore, musste sie ein Jahr später vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Jahrzehntelang war sie so gut wie vergessen. Seit Barbara Frey das Stück 2021 beim Berliner Theatertreffen präsentierte, erfährt Anna Gmeyner endlich jene Wertschätzung, die ihr zu Lebzeiten versagt geblieben ist. Walter H. Krämer macht mit ihrem umfangreichen Werk vertraut und hat sich am Staatstheater Meiningen das „Ende einer Verhandlung“ angesehen.


Ausgangspunkt der Serie „Spielplanänderung“ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war die Frage, was könnte das Theater heute alles spielen, wollte es nicht immer wieder auf den gleichen Kanon von Stücken zurückgreifen. Ein Jahr lang wurden zu Unrecht vergessene Stücke vorgestellt und es wurde für einen alternativen Spielplan geworben. Auf diesem stand letztlich auch Anna Gmeyner mit ihrem Stück „Automatenbüfett“. Die technischen Errungenschaften und das reaktionäre Bürgertum ihrer Zeit inspirierten sie 1932 zu diesem - ihrem ersten - Stück, mit dem sie auf den großen Bühnen in Hamburg, Berlin und Zürich Aufmerksamkeit erregte, bevor sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung fliehen musste. Es war 1933 noch am Schauspielhaus Zürich mit Therese Giehse in der Hauptrolle uraufgeführt worden. In der Inszenierung von Barbara Frey im Jahr 2021 wurde das Stück zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Damit war der Name der Autorin wieder in der Welt und stieß bei Verlagen und Theatern auf Interesse. 

Verboten, vertrieben und vergessen – das ist das Schicksal der österreichisch-jüdischen Autorin Anna Gmeyner (1902–1991). In der Weimarer Republik war sie fester Bestandteil der Berliner Theaterszene, arbeitete eng mit Erwin Piscator und auch dem Filmregisseur G. W. Pabst zusammen. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, emigrierte sie über Paris nach England, wo sie auch „End of a Trial“ schrieb – in englischer Sprache unter ihrem Pseudonym Anna Reiner. Ohne ihre Theaterkontakte jedoch blieb das Stück unbekannt und ungespielt. Erst heute erfahren die Werke von Anna Gmeyner die Wertschätzung, die der Autorin zu Lebzeiten versagt blieben. Ihr 1938 erschienener Roman „Manja“, gilt inzwischen als „einer der bedeutendsten Romane deutscher Exilliteratur“ und ihr Stück „Automatenbüfett“ wurde in den vergangenen Jahren bereits mehrfach nachgespielt. „Ende einer Verhandlung“ – bereits in den 1930er Jahren geschrieben - erlebte seine Uraufführung erst im September 2024 am Meininger Staatstheater. 

Besonders engagiert bei Betreuung und Veröffentlichung von Texten Anna Gmeyners zeigt sich der Verlag der Autoren und der dortige Lektor Thomas Maagh. In Berliner Archiven entdeckte er das Stück „Welt überfüllt“ von Anna Gmeyner – uraufgeführt 2022 am Theater Oberhausen. Wochen später erhält er eine E-Mail aus Nordengland von einer Enkelin der Autorin. Zu einem Treffen in Oberhausen brachte sie mehrere Päckchen Typoskripte ihrer Großmutter mit, die sie beim Aufräumen während der Coronazeit entdeckt hatte. Darunter auch das vollständig erhaltene Stück „End of a Trial“. Der Text ist mutmaßlich um 1940 herum entstanden, und er nimmt viele Motive aus dem späteren Filmklassiker „Die zwölf Geschworenen“ vorweg, was spannend ist, weil Anna Gmeyner erwiesenermaßen versucht hatte, einige ihrer Stoffe über Kontakte an Hollywood zu vermitteln. Während einer Veranstaltung im Rahmen vom „Langen Tag der Bücher“ erzählte Thomas Maagh von diesem Fund: „Amanda Lasker-Berlin sprach mich danach an, bat mich um den Text und rief wenige Tage später an, um zu sagen, dass sie ihn unbedingt übersetzen möchte. So kam das alles ins Rollen, und Frank Behnke in Meiningen war - neben den großen Theatern in Berlin und Wien - der Erste, dem ich den Text anbot, weil ich wusste, wenn einer, dann traut er sich, das auf der großen Bühne rauszubringen. Er war damals auch der Erste, der gewagt hat, Mouawads „Verbrennungen“ im Großen Haus zu machen. Und so kam es dann auch.“

Ein Geschworenenzimmer in einem Gericht. Verhandelt wird ein spektakulärer Mordfall: Ein Mann soll aus Eifersucht seine Frau von einer Klippe gestürzt haben. Doch was ist wirklich geschehen? Wem kann man glauben? Ist Wahrheit vielleicht nichts anderes als die beste Version der Geschichte. Das Stück begleitet die zwölf Geschworene bei der Wahrheitsfindung zu einem möglichen Mord aus Eifersucht. Dabei werden nicht nur Fragen nach Schuld und Gerechtigkeit diskutiert, sondern auch Geschlechterbilder kritisch hinterfragt.


Ende einer Verhandlung, Ensemble, Foto: Christina Iberl/Staatstheater Meiningen

„Ende einer Verhandlung“ - ein Fund aus dem Nachlass der Autorin – ist sowohl Krimi, als auch Gerichtsdrama und letztlich ein faszinierend genau beobachtetes Gesellschaftsstück. In dem Stück suchen zwölf Geschworene – neun Männer und drei Frauen  - nach der Wahrheit hinter einem möglichen Mord an einer Ehefrau um am Ende ein gerechtes Urteil zu finden. Zwölf Menschen unterschiedlichster Herkunft sollen im Namen des Volkes einstimmig über Leben oder Tod eines ihnen fremden Menschen entscheiden.

Ein Mord ist geschehen, auf der Bühne dargestellt durch den weißen Umriss eines menschlichen Körpers – und der Ehemann steht unter Verdacht, seine Frau aus Eifersucht von einer Klippe gestürzt zu haben. Es steht die Frage: Hat der Mann seine Frau von der Klippe gestürzt oder war es doch ein Unfall? Auf der Suche nach der Antwort beginnen die Geschworenen den vermeintlichen Ablauf der Tat nachzuspielen. Augenzeugen und Indizien sprechen eine eindeutige Sprache. Doch dann gibt es einen Zwischenfall. Mr. Smith, einer der Geschworenen, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, bricht während einer Zeugenaussage zusammen. Er wird später für „nicht schuldig“ plädieren und eine ganz andere Version des Hergangs erzählen. 

Dem Meininger Schauspielchef Frank Behnke ist es ein Anliegen, ganz im Sinne der Serie „Spielplanänderung“, den Kanon zu vergrößern und unbekannte Texte auf die Bühne zu bringen. Mit einem derart unberührten Text zu arbeiten, war für Behnke, der „Ende einer Verhandlung“ in Meiningen inszenierte, etwas Besonderes. „Es gibt zu dem Text einfach gar nichts: Keine Notiz der Autorin, kein Tagebucheintrag und auch keinen einzigen Sekundärtext.“ Für Regisseur Behnke wird der Zuschauer auch Zeuge eines gruppenpsychologischen Experiments. Das Stück zeige exemplarisch, wie schnell Menschen sich zu einer anderen Wahrheit verführen lassen, wie schnell sie manipulierbar sind, sagt er, „Und, wie relativ Wahrheit auch ist – ein Thema, das für uns heute ja auch ganz große Relevanz hat.“ Und er sieht die zwölf Geschworene als Mikrokosmos der Gesellschaft. Mit dem Stück „Ende einer Verhandlung“ von Anna Gmeyner gelinge es zudem, fundamentale Fragen nach Wahrheit, Schuld und Gerechtigkeit aufzuwerfen und gleichzeitig an aktuelle Debatten um toxische Männlichkeit und daraus resultierende Gewalt an Frauen anzuknüpfen.

Doch warum gibt es kein Entrinnen aus den Rollenklischees und den immer gleichen Mechanismen, die in den meisten Fällen Frauen zu Opfern von Beziehungstaten machen?  Auch heute noch und immer wieder. Die Inszenierung konfrontiert das Publikum mit dem Tathergang eines Femizids und stellt die Frage nach der Schuld. Dem Regisseur gelingt so ein spannendes Psychodrama. Er zerlegt den Stoff in einen Schlagabtausch dynamischer Gruppenprozesse. Jeder gegen jeden und alle gegen einen. Und die Qualität des Stückes beruht auf der Sprache, nicht nur auf deren expressiv verdichtetem Inhalt, sondern vor allem auf ihrem differenzierten Gebrauch durch die Darsteller*innen.

Christian Rinke, verantwortlich für Bühne und Kostüme, setzt das Thema des Stückes symbolhaft in Bildersprache um. Er hat die Tischränder, Raumecken und den Umriss eines liegenden Menschen am Boden mit Leuchtband beklebt. Schief der Bühnenboden. Abrisskanten symbolisieren den Rand der Klippen und die Schauspieler*innen stehen oft selbst nah am Abgrund. Unter ihnen die weiße Umrisszeichnung der Getöteten. In der Mitte des Raumes ein Tisch mit den zwölf Stühlen für die Geschworenen. Schwarz und weiß die Wände. 


Ende einer Verhandlung, Ensemble, Foto: Christina Iberl/Staatstheater Meiningen

Die zwölf Geschworenen müssen entscheiden, ob der Tod einer selbstbestimmten Frau – auch im Hinblick auf ihre Sexualität - durch den deshalb verunsicherten Ehemann Mord, Totschlag oder ein zufälliges Missgeschick war. Die Autorin bietet hier mehrere Sichtweisen auf den Hergang an und macht es damit weder den Geschworenen noch den Zuschauer*innen leicht, eine eindeutige Haltung einzunehmen. Zehn der zwölf Geschworenen, wollen schnell nach Hause. Der Fall ist für sie sonnenklar. Mister Taylor hat seine Frau beim Blumenpflücken an der englischen Steilküste von einem Felsvorsprung in die Tiefe gestoßen: Mord aus Eifersucht. Belanglosigkeiten, Gehässigkeiten und dreiste Anmache einiger Herren gegenüber den Frauen. Der Geschworene Dunn (Rico Strempel) plädiert auf Totschlag statt Mord. Der Geschworene Smith (Jürgen Hartmann) gar auf Freispruch. Empörung der anderen Jury-Mitglieder, bis er sein persönliches Geheimnis lüftet. 

Mr. Smith ergreift deshalb Partei für den nicht auftretenden Angeklagten, weil er selbst dreißig Jahre früher ebenfalls wegen Mordes an seiner Frau in Haft kam. Den Tod seiner Frau stellt er als Unfall dar. Deshalb plädiert Smith als einziger für „nicht schuldig“ und verzögert dadurch die einstimmige Urteilsfindung. 
Die sehr ähnliche Geschichte von Smith wird nach der Pause in knappen Szenen erzählt und durchgespielt. Während eines Streites vor 30 Jahren sei seine Frau aus dem Fenster gestürzt. Nach seiner Verurteilung als Mörder habe er sich durch Flucht aus dem Gefängnis und die Annahme einer neuen Identität der Verantwortung entzogen. Durch seine Berufung als Geschworener sei er jetzt wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert und könne nicht zusehen und verantworten, dass der Angeklagte unschuldig verurteilt würde.

Der erforderliche einstimmige Urteilsbeschluss durch die zwölf Geschworene kommt nicht mehr zustande. Während der schriftlichen Fixierung des Urteils platzt die Nachricht in die Geschworenensitzung: Mr. Taylor hat sich aus dem Fenster des Gerichtssaals gestürzt und auf der Totenbahre gestanden: Er habe seine Frau aus Eifersucht umgebracht.

Das Stück funktioniert ganz wunderbar, weil es für die Bühne geschrieben ist - es ist keine Romanadaption - und bei dem sich die Schauspieler*innen mit ihren Rollen als Charaktere spielerisch und sprachlich profilieren können. Man redet miteinander, man geht auch einmal aufeinander los. Man verliert die Contenance und gibt mehr von sich preis als eigentlich gewollt. Einzelne Charaktere führen uns dabei vor Augen, welche eigenen Traumata die Auseinandersetzung mit einem Verbrechen auslösen können. Nicola Lembach zeigt als Dorothy Thornton eine nachvollziehbare Studie aus Selbst- und Standesbewusstsein. Ulrike Knobloch entwickelt als Katherine Mead große empathische Fähigkeiten. Mia Antonia Dressler legt die Figur der jungen Miss Magdalena Cadell subtil und ausgewogen zwischen erotischem Selbstbewusstsein und potenzieller Verführbarkeit an, wobei sie immer auch auf den eigenen Vorteil bedacht ist.


Ende einer Verhandlung, Mr. Smith (Jürgen Hartmann) und Ensemble, Foto: Christina Iberl/Staatstheater Meiningen

Das dreizehnköpfige Ensemble spielt sich gekonnt durch den Abend. Immer wieder treten einzelne Geschworene in den Vordergrund, um ihre Sicht der Dinge zu erzählen. Gmeyners Text darf man dabei – auch im Hinblick auf die MeToo-Bewegung und die Diskussion um Femizide - als feministischen Blick auf eine patriarchalische Welt lesen und deuten. Frauen werden als Besitz angesehen mit denen man sich schmücken kann und im öffentlichen Raum sind sie Beute und Freiwild zugleich. Da haut der grobschlächtige Mr. Foster (Gunnar Blume) der hübschen Miss Cadell (Mia Antonia Dressler) auf den Hintern, erntet eine Ohrfeige und fragt allen Ernstes: „Was ist denn falsch an mir?“ Und der Jury-Vorsitzende Sanders (Erik Studte) besteht unerschütterlich darauf, dass alles gut so ist, wie es ist. All das klingt sehr gegenwärtig und diese Verhaltens- und Sichtweisen sind noch immer Teil unserer patriarchalen Gesellschaft.

Die Inszenierung schafft es, durch gut gebautes Ensemblespiel und der Spielfreude der einzelnen Darsteller*innen, unterstützt durch musikalische Einwürfe von Christopher Brandt, eine aufgeladene Stimmung, die bis in den Zuschauerraum hineinreicht und für die Zuschauer*innen im Saal spürbar ist, zu etablieren. Ein Krimi der Extraklasse mit Nachhaltigkeitswert und Gedankenschwere.

 

Staatstheater Meiningen

Werke von Anna Gmeyner im Verlag der Autoren

Ende einer Verhandlung
Gerichtsdrama von Anna Gmeyner

Uraufführung

Regie: Frank Behnke 
Bühne, Kostüme: Christian Rinke 
Musik: Christopher Brandt 
Dramaturgie: Deborah Ziegler 

Besetzung:
Mr. Smith: Jürgen Hartmann 
Mr. Allister Scott: Matthis Heinrich 
Miss Katherine Mead: Ulrike Knobloch 
Mr. Edward William Sanders: Erik Studte 
Mrs. Dorothy Thornton: Nicola Lembach 
Mr. Adam Dunn: Rico Strempel 
Mr. James Bradley: Leonard Pfeiffer 
Mr. Charles Johnson: Michael Schrodt 
Miss Magdalena Cadell: Mia Antonia Dressler 
Mr. Foster: Gunnar Blume 
Mr. Heracles Cook: Jan Wenglarz 
Mr. Kinsley: Florian Graf 
Gerichtsdiener: David Gerlach 

Weitere Termine

 

Erstellungsdatum: 24.12.2024