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Aus dem Notizbuch

Ende Januar 2025

Eldad Stobezki


Gulliver gefesselt von den Liliputanern, Illustration aus Gullivers Reisen von Jonathan Swift (1838). wikimedia commons

Dass wir verschieden groß sind, verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz und zieht gesellschaftliche Diskriminierung nach sich. Aber auch die Augenhöhe ist mit Nachteilen belastet. Das ist den Notizen Eldad Stobezkis zu entnehmen. Andere Motive, die ihn diesmal anregten, sind auch das Sterben im Dorf, letzte Bücher, Liebesbriefe, ewiges Licht, nächtlicher Reis und Vogelgezwitscher, Keramik und die neue Sachlichkeit.

 

Im letzten Sommer fuhr ich wieder einmal ins Berchtesgadener Land, um Achim zu besuchen. Kennengelernt hatte ich ihn vor vielen Jahren, als er beruflich in Frankfurt tätig war. Das Dorf wirkt wie die malerische Kulisse für einen Heimatfilm. „Morgen ist die Beerdigung von Sabine“, sagte Achim. Sabine war seine Nachbarin. Ich fragte: „Ihr wart doch immer nur zerstritten. Gehst du trotzdem zur Beerdigung?“ „Ja," antwortete Achim, „wenn im Dorf jemand stirbt, geht das ganze Dorf zur Beerdigung.“

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„Warum schreibst du nicht einen Ratgeber für junge Leser?“, fragte mich jemand. Gemeint war ein Ratgeber für Jugendliche mit Vorschlägen, was sie lesen sollen. „Das kann ich nicht“, war meine Antwort, „mit der Jugendliteratur kenne ich mich nicht aus“. Ich könnte einen Ratgeber mit Leseempfehlungen für Senioren schreiben, Titel: ‚Die letzten Bücher’.“

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Lieber noch würde ich einen Ratgeber für kleine Männer schreiben. Ich brauchte lange bis ich verstand, warum mein fast zwei Meter großer junger Nachbar mich auf der Straße nicht grüßt. Alle Männer unter 1,75 scheint er zu übersehen. Lange dachte ich, er sei unhöflich.

Als ich dann neulich mit einer Freundin den Wetterbericht im ZDF sah, moderiert von Özden Terli, sagte die: „Der ist zu klein.“ Ja, kleine Männer zählen weniger.

Dann bei der Amtseinführung von Donald Trump dessen 18-jähriger Sohn Barron hinter ihm stand: Die Presse konnte nicht genug davon bekommen zu erwähnen, dass der Junge 2,06 Meter misst. Da war ich plötzlich sehr zufrieden, klein zu sein. Yes, indeed, small is beautiful!

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Die amerikanische Haiku-Dichterin Alexis Rotella schrieb über ein Fossil, das sie auf dem Dachboden im Haus ihrer Eltern entdeckte. Von meinen Eltern fand ich im Nachttisch meiner verstorbenen Mutter ihre Liebesbriefe an meinen Vater.

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Von einem anonymen Dichter – er muss jüdisch und Engländer sein – las ich auf der Haiku-Seite folgende, wie ich finde, sehr gestelzte Zeilen:

 

„Eine Synagoge in Exeter,

nach dem Ausschalten des Lichts,

Lux Aeterna.“

 

Meine Version ist bodenständig:

 

„Eine Mietwohnung in Frankfurt,

vor der Toilette

das Nachtlicht.“

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Eine israelische Freundin iranischer Abstammung lebt seit kurzem in Berlin. Sie erzählte mir, dass sie spät nachts, als der Supermarkt längst geschlossen war, Reis kaufen wollte. Sie fand einen noch offenen orientalischen Lebensmittelladen und fragte auf Deutsch nach Reis. Der Händler antwortete auf Farsi: „Nein, habe ich nicht.“ Sie wunderte sich, dass er auf Farsi antwortete und sagte es ihm. „Madame, wer sonst sollte morgens um zwei noch Reis kaufen gehen?“

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Das Karma eines verbrannten Olivenbaums.

Das Karma des Siedlers, der den Baum verbrannte.

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„Wohnt ihr noch in der Berger Straße?“ fragte eine Bekannte, die ich zufällig in der Stadt traf. „Ja.“ „Ist das nicht sehr laut?“ „Nein, und das Schlafzimmer ist nach hinten.“ „Hört ihr morgens die Vögel zwitschern?“

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Ein junges Mädchen und eine ältere Frau beim Einsteigen in die U-Bahn. Die Junge hat es eilig und drängelt. Die Ältere dreht sich um: „He-he, eine alte Frau ist doch kein D-Zug!“ Das Mädchen reagierte verwirrt. Seit Mitte der 1990er Jahre sind D-Züge nicht mehr in Betrieb. Ganz offenbar hatte sie keine Ahnung, was ein D-Zug ist.

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Auf einem Flohmarkt in Frankreich fand ich eine Keramikvase der Marke Accolay. In den 1960er Jahren war Accolay-Keramik große Mode. Bei Sammlern ist sie sehr begehrt. Die Vase erinnerte mich an die Keramiken meiner Mutter, an die Glasuren, die sie benutzte. Leider kannte die Verkäuferin ihren Wert sehr gut. Ich ließ sie stehen. Ich liebe Keramik. Porzellan ist glatt, elegant und kalt. Keramik atmet, zeigt Gebrauchsspuren, erinnert mich daran, wie vergänglich wir sind.

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Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Und ich denke an einen Brauch orthodoxer Juden: In ihren Wohnungen lassen sie ein Stück Wand ohne Farbe und ohne Schmuck – eine Erinnerung an die Zerstörung des Tempels. Diese Fläche heißt „Elle auf Elle.“ Eine Elle misst ca. 48 cm.

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Nach einem Besuch in der Kunsthalle Mannheim zur Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit – ein Jahrhundertjubiläum“ saß ich im Zug zurück nach Frankfurt. Eine Frau brüllte ins Telefon: „Dein Scheiß Carpe Diem kann ich nicht mehr hören. Ich sage dir jetzt, was Sache ist: Morgen gehst du wieder in die Schule. Basta.“ Das war sach-lich.

Eldad Stobezki
Rutschfeste Badematten und koschere Mangos

Gebunden, 150 Seiten
ISBN 9783949671159
Edition-W, Frankfurt, Frankfurt 2024

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Erstellungsdatum: 04.02.2025