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Kenneth Hujers „All das passierte in diesem irrsinnigen Milieu Frankfurt“

Ein Dorf ist Frankfurt vielleicht an seinen Rändern. Sonst – da hat Daniel Cohn-Bendit recht – ist es eine Metropole, die auf das dicke Volumen anderer Metropolen weise verzichtet. Der Frankfurter Kenneth Hujer, der nicht nur an Popkultur, Stadtentwicklung und Architektur interessiert ist, hat Frankfurt als Kunststadt und kulturellen Brennpunkt beschrieben und diesen Befund mit elf informativen Gesprächen gestützt. Wolfgang Rüger hat das Buch gelesen.
Was unterscheidet Frankfurt von allen anderen deutschen Städten, wo ist es einzigartig, wo und wie haben Frankfurter Kulturgeschichte geschrieben? Um das herauszufinden, hat Kenneth Hujer mit 11 Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen „Gespräche über eine Stadt“ geführt, die jetzt in dem Band „All das passierte in diesem irrsinnigen Milieu Frankfurt“ veröffentlicht wurden.
Das Tor zur Stadt, wird immer behauptet, ist der Hauptbahnhof. Wer hier ankommt, hat das Bahnhofsviertel vor sich. Und dort liegt alles im Argen, wie die gerade wieder hitzigen Diskussionen zeigen. Im Bahnhofsviertel wird man „mit den Abgründen der Großstadt konfrontiert“, schreibt Hujer. Dem entgegnet der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar: „Auch wenn das Elend mitunter schwer auszuhalten ist, so zeigt sich daran doch die Kernidee der europäischen Stadt: Dass alle das Recht haben, in ihr zu sein.“
Im Wesentlichen kreisen alle Gespräche um die sechziger, siebziger und achtziger Jahre; die Jahrzehnte, in denen Frankfurt vermutlich die aufregendste deutsche Stadt war, aus der wesentliche Impulse für das deutsche Geistes- und Kulturleben kamen. Damals war die Finanzmetropole noch nicht aalglatt und saturiert. „Als ich nach Frankfurt kam“, erinnert sich die Psychoanalytikerin Sibylle Drews an das Jahr 1975, „hat es mir ein bisschen gegraust. Frankfurt war hässlich, hatte keinen einzigen vernünftigen Konzertsaal außer den in der Frankfurter Sparkasse.“ Und auch die Fotografin Barbara Klemm erinnert sich mit Schaudern an ihre Ankunft in den sechziger Jahren: „Frankfurt war trist, unwirtlich, eine Stadt mit noch vielen Ruinen. Damit nicht genug: Noch kurz nach meiner Ankunft wurden wunderbare Gründerzeithäuser abgerissen.“ Aber „Frankfurt galt ganz klar als das intellektuelle Zentrum der Bundesrepublik“, kontert der Konzeptkünstler Timm Ulrichs.
Das Nachkriegsfrankfurt bot viele Chancen und hatte das Glück, dass sich eine Vielzahl von kreativen Köpfen anschickte, diesem „Dorf“ (Cohn-Bendit) Leben einzuhauchen. In den folgenden Jahrzehnten entstanden hier: Die Buchmesse, der Suhrkamp Verlag, das Institut für Sozialforschung, das Sigmund-Freud-Institut, das Museumsufer, das Theater am Turm, die Skyline mit den Hochhäusern, eine handvoll wegweisender Diskotheken, der Tigerpalast, um nur ein paar Highlights zu nennen.
Einer dieser markanten Macher ist Karlheinz Braun. Das lebende Beispiel dafür, dass ein Einzelner mit allen möglichen Aktivitäten eine ganze Stadt verändern kann. Er war unter anderem Regisseur an der „neuen bühne“, Lektor bei Suhrkamp, Mitgründer und Geschäftsführer des Verlags der Autoren, Direktor des Frankfurter Schauspielhauses, Festivalleiter der „experimenta“, Sekretär der Deutschen Akademie der darstellenden Künste. Er hat alle Höhen der Frankfurter Kultur miterlebt und mitgestaltet und musste spätestens in den letzten zwei Jahrzehnten den schleichenden Abstieg Frankfurts in die Mittelmäßigkeit mit anschauen. Sein Gespräch mit Hujer ist stark geprägt von wehmütigen Erinnerungen an Verlorenes: keine Theaterhochburg mehr wie unter Harry Buckwitz, keine revolutionären Stücke mehr wie von Peter Weiss oder Peter Handke, die Schließung des „Künstlerkellers“, den Bedeutungsverlust der Feuilletons von FR und FAZ, den Niedergang des HR, die Zerschlagung des sagenhaften Suhrkamp-Lektorats, die Abwanderung von Verlagen.
Ulla Berkewicz ruft er hinterher, was Klaus Walter bei allen Abwerbungsversuchen aus den Medienmetropolen für sich immer beherzigt hat. „Lieber der Erste in der Provinz als einer von vielen in der Großstadt.“ Suhrkamps Umzug von Frankfurt nach Berlin war für beide, Verlag und Stadt, ein „enormer Verlust an geistiger Präsenz“ und „singulärer Stellung“.
Alle Gesprächspartner von Hujer schwärmen von der Vergangenheit, aber selbstverständlich gibt es in Frankfurt auch Dinge, die unvergänglich sind. Vor allem Bertram Weisshaar begeistert sich am Frankfurter Grüngürtel und den möglichen Perspektivwechseln in der Stadt. „Warum nicht einfach einmal die Parkdecks der Stadt aufsuchen? Nicht zum Parken, sondern zum Sehen. Da fällt mir auch das Parkhaus an der Alten Börse ein, von dessen Dach aus sich ein faszinierendes Frankfurt-Bild ergibt: Im Vordergrund eine niedrige Dachlandschaft von Drei-, Vier- und Fünfgeschossern mitsamt rückwärtigen Hinterhofbauten und im Hintergrund türmen sich die Hochhäuser zu einer Wand. Ein wirklich toller Kontrast.“
Oder man geht ins unterirdische Frankfurt. In die U-Bahn-Station Bockenheimer Warte zum Beispiel. Architekt Udo Nieper ließ sich bei der Gestaltung von einer Tropfsteinhöhle inspirieren, die Wände zieren Fotos von Barbara Klemm und schmale Spiegelstreifen, in denen man die anderen Wartenden beobachten kann. Frankfurt war die erste deutsche Stadt, die viel Kreativität in die Gestaltung ihrer U-Bahn-Stationen investierte.
Daniel Cohn-Bendit erzählt noch einmal, wie er, Joschka Fischer und andere die Stadt politisch aufmischten und den langen Marsch durch die Institutionen antraten. Auch er war Protagonist der interessantesten Frankfurter Jahre: Studentenbewegung, Häuserkampf, Revolutionäre Zellen, Startbahn-West, Gründung der Grünen, Jüdische Gemeinde, Amt für multikulturelle Angelegenheiten. „Frankfurt war ein Ort, an dem viele Widersprüche aufeinandergeprallt sind – und sich zum Teil produktiv auflösen konnten.“
Ein Meilenstein der Frankfurter Kultur war das Jahr, in dem Rainer Werner Fassbinder die Intendanz des TAT übernahm. Seine Cutterin und spätere Ehefrau Juliane Lorenz erinnert sich an die Entstehung von Fassbinders Frankfurt-Film „In einem Jahr mit 13 Monden“ und die Skandale, die sein geplantes Theaterstück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ auslöste. Im Unfrieden hat er die Stadt vorzeitig verlassen, obwohl er deren „raues und spannungsvolles Klima sehr schätzte“, wie Lorenz berichtet. „Man darf nicht vergessen: Frankfurt war Melting Pot der damaligen Bundesrepublik, wo die Extreme schonungslos aufeinanderprallten. Mit seiner aus harschen Brüchen und Kontrasten bestehenden Stadtarchitektur und seinen rotlichternden Straßen im Bahnhofsviertel bot Frankfurt eine besondere Drehkulisse.“
Frankfurt stand auch während der Hochzeit des deutschen Terrors im Mittelpunkt. Die meisten RAF-Mitglieder hatten sich in „Bankfurt“ radikalisiert. Hier gab es die ersten beiden Kaufhaus-Brandanschläge. Eva Demskis Roman „Scheintod“ spielt vor dieser Kulisse. Ihre Erinnerungen an diese Zeit, an Valentin Senger und die Reich-Ranickis geben auch Einblick in die Buchstadt Frankfurt. Warum ihr bei der Frage nach ihren liebsten Frankfurt-Büchern aber nicht Fausers „Rohstoff“ eingefallen ist, bleibt mir ein Rätsel. Fauser kannte sie seit der gemeinsamen Schulzeit.
Politisch war die Mainmetropole in seiner besten Zeit tendenziell links. Aber natürlich gab und gibt es auch die andere Seite. Barbara Klemm erzählt, wie eines ihrer Fotos, laut des damaligen Außenministers Walter Scheel, „mehr zum Scheitern der rechtsextremen NPD an der Fünfprozenthürde beigetragen [hat] als die Anstrengungen aller anderen Parteien zusammen“.
Wie kompetent und extrem gut vorbereitet Hujer ist, zeigt das Gespräch mit Klaus Walter. Da treffen zwei aufeinander, die praktisch alles über die Frankfurter Musikszene wissen (Stefan Hantel habe ich allerdings im Namedropping vermisst). Hier begegnen dem Leser Interpreten und Songtitel, die nur absolute Insider kennen können, da werden die geheimsten Geheimtipps offenbart (The Dead Adair), wird über Platten gesprochen, die auf dem Index stehen (Haftbefehls drittes Album Blockplatin), erfahren die Böhsen Onkelz eine korrekte politische Einordnung und wird Joschka Fischer als „ehrgeiziger Treter“ entlarvt. Klaus Walter ist gerade 70 geworden und kann auf eine typische Frankfurter Karriere zurückblicken: vom quengelnden Pflasterstrand-Schreiber und Taxifahrer zur lebenden Radio-Legende.
Das vorliegende Buch beleuchtet Frankfurts innovativste Szenen und Institutionen der letzten siebzig Jahre faktenreich und äußerst lesenswert und zeigt „Mainhattan“ in seinem ganzen (vergangenen) Facettenreichtum. Umso erstaunlicher ist, dass Hujer die literarische Avantgarde komplett ausgespart hat. Namen wie z.B. Ploog, Hübsch, Fauser, Wondratschek, Mon, Rygulla, Walter Hartmann, Jörg Schröder sucht man im Buch vergebens. Dabei hatten diese Leute jahrzehntelang eine wirkmächtige Ausstrahlung auf die gesamte Republik.
Was die Gegenwart und Zukunft der Stadt angeht, kann man Karlheinz Braun nur beipflichten: „Heute sehe ich leider einen mehr und mehr kommerziell-restaurativen Geist um sich greifen. Man spricht von Rekonstruktionen, aber die Kultur verliert sich in langweiligen Oberflächendebatten. Das Design ist wichtiger als der Inhalt. Für die Zukunft wünsche ich der Stadt deshalb Visionen, auf dass Frankfurt ein Ort der kritischen Vernunft, des Experiments und der Möglichkeiten bleibt.“
Wie das funktionieren kann, dafür bietet die Lektüre dieser auch opulent bebilderten Gespräche haufenweise Anregungen. Neben Sebastian Molls „Das Würfelhaus“ (Suhrkamp 2024) ist Hujers Interviewband das zweite Frankfurt-Buch, das mich in jüngster Zeit enorm bereichert hat.

Kenneth Hujer
„All das passierte in diesem irrsinnigen Milieu Frankfurt"
Gespräche über eine Stadt
215 S., brosch.
ISBN: 978-3-95575-245-3
Ventil Verlag, Mainz 2025
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Erstellungsdatum: 17.12.2025