Eine hinter der oberflächlichen Erscheinung verborgene Wahrheit zu suchen, ist Sache der Metaphysik. Der Regisseur David Lynch, der als Meister des Rätselhaften etikettiert wurde, hat aber nichts verborgen, sondern realistisch die Schönheit, die falsche Idylle, das Begehren, die Grausamkeit und das Entsetzliche, den Alltag in seiner ganzen Oberflächlichkeit gezeigt. Der Filmkritiker Philipp Stadelmaier hat zum Tod Lynchs seine persönlichen Erinnerungen an den großen Filmkünstler aufgeschrieben.
Lange Zeit hatte ich eine Aversion gegenüber dem, was ich als „Nekrocinephilie“ beschreiben würde: den Tod bekannter Filmemacher:innen zum Absetzen von RIPs und Farewells zu nutzen. Das Leben der Werke schien mir hinter dem Tod der Autor:innen zu verschwinden, die Kunstform mit jedem neuen Toten ein Stück mehr beerdigt zu werden. Anstelle des Nachdenkens über die Filme: ein Totenkult mit Zuckerguss.
Daran musste ich über all den Kirschkuchen, Silencios und Donuts jetzt auch wieder denken. Und daran, dass ich älter geworden bin und sich meine Haltung geändert hat. Erst starb Godard, nun David Lynch. Beides hat mich berührt. Beides hat in mir das Bedürfnis ausgelöst zu schreiben. Das heißt: zu trauern (um die Toten, aber auch um jenen Teil in mir selbst, der sich mit ihren Filmen verbindet und der, zum Teil, nun auch der Vergangenheit angehört.)
Lynch war für mich ein Begleiter, ein Zeitgenosse. Seine Filme haben meine Vorstellung vom Kino wesentlich mitgeprägt. Ich sehe mich wieder mit 17 vor dem Fernseher meiner Eltern LOST HIGHWAY entdecken – die dahinrasende Straße bei Nacht, dazu David Bowies „I’m Deranged“. Eine Initiation ins Kino und in das, was es sein konnte. Ich kann nur sagen, dass ich an diesen Film „glaubte“ (ich glaube immer noch an ihn), also daran, dass sich irgendwo in ihm der Schlüssel zu seinem Geheimnis versteckt und dieser Schlüssel auf mich wartet. Ich habe den Film seitdem nicht wiedergesehen. Ich warte auf den richtigen Augenblick.
Meine zweite „Begegnung“ mit Lynch war Jahre später, 2007, in meinen Erasmus-Jahr in Lyon. INLAND EMPIRE kam damals ins Kino und zeigte, was man mit einem einfachen kleinen DV-Camcorder alles anrichten konnte. Außerdem war Lynch selbst in der Stadt, weil er vom Institut Lumière mit einer Plakette auf der „mur des cinéastes“ geehrt wurde. Gemeinsam mit einem Freund (le très lynchien Eduardo Sosa Soria) wollten wir Lynch „belästigen“ („on va harceler David Lynch“), also seiner Masterclass beiwohnen. Mit diesem Vorhaben waren wir an diesem Abend in Lyon jedoch nicht die einzigen. Im Gegensatz zum Saal war auf der Straße aber noch etwas Platz, und so beobachteten wir ihn, wie er draußen die Plakette mit seinem Namen enthüllte, mit typisch zugeknöpftem Hemd, rauchend und prächtiger Laune.
Als ich zehn Jahren später in Paris lebte, sah ich MULHOLLAND DRIVE (wieder), in der Filmothèque du Quartier Latin. Erste Reihe. Projiziert auf 35mm. Ein Wahnsinn. Ich verstand komplett, warum manche Filme dringend auf Film projiziert werden müsse, weil man sie ansonsten nicht versteht. Mir fiel auf, wie wahnsinnig komisch der Film war, und dabei keineswegs kompliziert, sondern streng logisch, wie ein Traum bei Buñuel. Am Ende hatte ich eine präzise Idee, die mir glasklar erschien, wie eine 8 oder eine barocke Schleife. Leider vergaß ich, sie nach dem Nachhausekommen aufzuschreiben.
Vergleichbar mit Lynch sind einzig Fellini (OTTO E MEZZO war einer seiner Lieblingsfilme) und Bergman. Mit Fellini verbindet ihn die Deformation der menschlichen Physiognomie, mit Bergman das Filmen der Angst. Angst, nur Maske (PERSONA) von etwas/jemand anderem zu sein, niemals zu sich selbst zu kommen, jederzeit abgerissen werden zu können. Angst, sich aufzulösen. Klingt banal. Aber kriegen Sie das mal hin, nicht einfach die Idee zu filmen, sondern die Angst selbst, und die Notwendigkeit, ihr in die Augen zu schauen. Alle Geheimnisse bei Lynch kondensieren sich in ihr. Sie agiert, tötet, deformiert Psyche und Körper.
Lynch erschien mir nie als der verrätselte Demiurg und dunkle Mystiker, zu dem er oft verklärt wurde. Es gibt bei ihm keinen „Abgrund hinter der Fassade“, der BLUE VELVET oder TWIN PEAKS oft angedichtet wurde. Welcher Abgrund? Fassade und Abgrund sind bei ihm eins. Es gibt bei ihm NUR die Maske, die Fratze, die Oberfläche, in der die Tiefe komplett enthalten ist (durch ihre Deformation, das Abreißen der Masken). Lynch hat uns schlichtweg beigebracht, sehr reale Dinge zu sehen und auszuhalten (auf die Gefahr hin, uns aufzulösen, wie seine Figuren). Es gibt kaum etwas Realeres als die Angst.
Eine letzte Bemerkung. Wenn es bei Lynch am Ende keine Dunkelheit gibt, dann weil es eine „Lynchsche Pädagogik“ gibt. Diese besteht in einer simplen Formel: „Having a good time, all the time.“ Es gibt ein Video von den Dreharbeiten zur dritten Staffel von TWIN PEAKS (die ich noch nicht gesehen habe – manche Dinge muss man sich aufheben), wo er über seiner eigenen Inszenierung und der Performance der anderen in Ekstase gerät. „Beautiful! Beautiful!“ Lynchsche Pädagogik: Man muss lieben, was man selbst geschaffen hat – als stamme es von jemand anderem. Dieses (gänzlich anti-narzisstische) Vergnügen ist das Wertvollste, was wir haben. Ich denke hier an Ferrán Adria bei seinem letzten Dinner mit Anthony Bourdain, Grigori Sokolow beim Spielen von Rachmaninovs 2. Klavierkonzert (1993, auf Youtube) oder Tarantino, wenn er über seine Filme spricht.
Having a good time, all the time. Ich werde nie vergessen, dass ich einen guten Tag hatte, als David Lynch starb, bis ich von seinem Tod erfuhr. Ich versuchte dann, mich an seine Lektionen zu erinnern und erhob mein Glas Rotwein.
Erstellungsdatum: 21.01.2025