Das Engagement von Jüdinnen und Juden für die deutsche Demokratie gerät nur selten in den Blick. Dabei ist etwa dem Juristen und Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Gabriel Riesser maßgeblich die in der Verfassung verbriefte Trennung von Staat und Religion zu verdanken. Anlässlich des 175. Paulskirchen-Jubiläums widmen sich Abraham de Wolf und L. Joseph Heid in einem Band der von Elisa Klapheck herausgegebenen Reihe „Machloket/Streitschriften“ dem jüdischen Anteil an der deutschen Demokratie. Leon Joskowitz hat den Band für TEXTOR gelesen.
Es ist das Anliegen der Reihe Machloket / Streitschriften, die seit einigen Jahren von Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck bei Hentrich & Hentrich herausgegeben wird, die jüdische Existenz von innen heraus zu thematisieren und diese Selbstbefragung auch für ein nicht-jüdisches Publikum zugänglich zu machen. Interessiert man sich also ernsthaft für den inneren Zusammenhang von Tora und Talmud, von Religion und Selbstgesetzgebung (Halacha) und für aufgeklärten Partikularismus innerhalb einer säkularen Gesellschaftsordnung, dann dienen diese Streitschriften als gute Grundlage, um jenseits von Klischee und Antisemitismus über jüdische Fragen nachzudenken. Dies gilt auch für den kürzlich erschienen siebten Band der Machloket. Dort werden mit Gabriel Riesser und Johann Jacoby zwei deutsche Juden in Erinnerung gerufen, die Mitte des 19. Jahrhunderts die frühe deutsche Demokratiebewegung geprägt haben und deren Geschichten dazu beitragen können, „ein Bewusstsein für den Anteil des Judentums als notwendige Voraussetzung für ein positives Demokratie-Narrativ“ (S. 13) zu schaffen. Will sagen: Dem Judentum wohnen „demokratiefördernde, rechtsstaatliche Kräfte“ inne, die zur Herausbildung der deutschen Demokratie beigetragen haben, und sich diese zu vergegenwärtigen, ist zentral, um eine starke und nachhaltige Idee der deutschen Demokratie zu entwickeln.
Es liegt in der Natur der Sache, dass an dieser Stelle nur vereinzelte Aspekte der ebenso dichten wie lesenswerten Essays über Werk und Leben von Gabriel Riesser und Johann Jacoby zitiert werden können. Das Augenmerk soll dabei auf dem 1806 in Hamburg geborenen Gabriel Riesser und seinem Ringen um Religionsfreiheit liegen. Riesser stammte aus gleich zwei alten Rabbinerfamilien und konnte sich im frühen 19. Jahrhundert dank des Einflusses des napoleonischen Code civil aus dem räumlichen und geistigen Ghetto, in welches das Judentum im christlichen Mittelalter gezwungen wurde, langsam herauswagen. Seit den 1830er Jahren kämpfte er für die Religionsfreiheit in Deutschland und es ist maßgeblich seinem Engagement in der Paulskirche in den Jahren 1848/49 zu verdanken, dass die Forderung bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte vom religiösen Bekenntnis zu trennen erstmals in eine deutsche Verfassung aufgenommen wurde. Wie bahnbrechend dieser Schritt für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland war, zeigt sich auch daran, dass die Mitte des 19. Jahrhunderts gefundene Formulierung seitdem in allen deutschen Verfassungen nahezu wortgleich erhalten geblieben ist.
Der Wortlaut in der Paulskirchenverfassung 1849:
„Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“
In der Weimarer Verfassung 1919:
„Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.“
Und im Grundgesetz der BRD 1949:
„Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienst erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.“
Dass Riesser diesen Kampf für die Religionsfreiheit in eigener Sache führte, versteht sich von selbst, aber man verkennt die Dimension seines Einsatzes für die gleichen Rechte aller – unabhängig vom religiösen Bekenntnis – wenn man seine Motivation auf sein Partikularinteresse als Jude reduziert. Sein Wille, selbst teilzunehmen an der Gesellschaft, war getragen von der Idee eines Gesetzes, das für alle Menschen in einer vergleichbaren Lage gültig sein würde. Es ging ihm nicht darum, die Verhältnisse umzukehren und Vorteile für die Juden gegenüber den Christen zu erstreiten, sondern um Gleichheit vor dem Gesetz. Darin kann man diesen Kampf als eine Art Blaupause für andere Kämpfe um Teilhabe am öffentlichen Leben lesen, man denke nur an den Feminismus oder den Kampf gegen rassistische Gesetze in den USA, bei denen es darum geht, den Ausschluss einer Bevölkerungsgruppe vom politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben auf Grund von äußeren Merkmalen zu beenden.
Riessers Handeln war universalistisch in dem Sinne, dass es nicht nur im Einklang mit dem kategorischen Imperativ von Kant stand, der fordert, stets zu prüfen, ob die Absicht der eigenen Handlung jederzeit zum allgemeinen Gesetz tauge, sondern darüber hinaus in der halachischen Tradition des Judentums wurzelte. Diese halachische Tradition in wenigen Sätzen zu charakterisieren und aufzuzeigen, wie sie ins deutsche Gesetzesdenken hineinwirkte, ist unmöglich. Zu idiosynkratisch sind die Voraussetzungen, zu komplex die Geschichte. Oder, wie Jacoby 1837 schreibt: „Wie ich Jude und Deutscher zugleich bin, so kann in mir der Jude nicht frei werden ohne den Deutschen und der Deutsche nicht ohne den Juden.“ Um doch die unterschiedlichen Wurzeln und die eigenständige jüdische Geistigkeit aufzuzeigen, verfolgt de Wolf die Beweggründe für Riessers Engagement bis in dessen Familiengeschichte und findet dort ein innerjüdisches Prinzip. Frei übersetzt geht es um ein Denken, das bis auf Moses Mendelssohn (vielleicht gar auf Spinoza und Maimonides) zurückgeht, und die Tora zuerst als Gebot der Vernunft begreift, und dann als offenbartes Wort Gottes. Wir berühren damit Fragen der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und blicken auf eine geistige Tradition, in der das kritische Denken dem Glauben gleichberechtigt zur Seite gestellt wird. Es ist eine Hinwendung zum Leben nach eigenen Gesetzen, in Autonomie und – erst dann – eine Versenkung in Gott. Nicht andersherum.
Um diese Fragen kreist das jüdische Denken bis heute, hier bewegt sich jüdisches Leben im „säkular-religiösen“ Spannungsfeld, wie es bei Klapheck an andere Stelle heißt. Von hier aus wurde und wird die innere Kraft des Judentums für säkulare und moderne Gesellschaften immer wieder neu fruchtbar und befruchtet als emanzipatorische Kraft des jüdischen Geistes auch die „nicht-jüdischen“ Mehrheitsgesellschaft. So kann der Einsatz jüdischer Bürgerrechtler Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur – wie gesagt – als Vorbild für spätere Emanzipationsbewegungen gelten, sondern führte unmittelbar auch zu einer Verbesserung der Rechtssicherheit für Angehöriger anderer Konfessionen. Damals profitierten beispielsweise in Preußen lebende Katholiken davon, und seit einigen Jahrzehnten haben Menschen aller Konfessionen unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis am politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben in Deutschland Anteil – und bereichern die deutschsprachige Kultur.
Dass dies heute so selbstverständlich scheint, ist maßgeblich dem politischen Engagement von Riesser, Jacoby und anderen Juden zu verdanken, die sich als erste für die Religionsfreiheit und damit die Trennung von Staat und Religion in Deutschland eingesetzt haben. Wir erkennen hier also einen Baustein des jüdischen Anteils an der deutschen Demokratie. An ihn von Zeit zu Zeit zu erinnern, schärft das geschichtliche Bewusstsein und gehört zur fortwährenden Arbeit am demokratischen Gemeinwesen. Deshalb lohnt sich die Lektüre des Band 7 der Machloket für alle, die für ein demokratisches Deutschland einstehen.
Abraham de Wolf ist Rechtsanwalt und Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten. Er engagiert sich in der Debatte über die Zukunft der Frankfurter Paulskirche und setzt sich für ein „Haus der Demokratie“ ein.
Elisa Klapheck ist liberale Rabbinerin in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, promovierte Philosophin und Professorin für Jüdische Studien am Zentrum für Komparative Theologie in Paderborn. Sie engagiert sich für eine religiöse Erneuerung des Judentums und bezieht dabei die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftsethischen Herausforderungen der Gegenwart mit ein.
L. Joseph Heid,
Elisa Klapheck,
Abraham de Wolf
175 Jahre Paulskirche
Jüdischer Anteil an der deutschen Demokratie
94 Seiten, Klappenbroschur
IISBN: 978-3-95565-679-9
Hentrich & Hentrich, Berlin 2024
Erstellungsdatum: 11.11.2024