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Anmerkungen zur Gegenüberstellung von populärer und akademischer Philosophie.

Kritik der Philosophie

Leon Joskowitz 


Philosophia perennis. KI-Bild. Foto: Rhetos. Wikimedia commons

In der ersten TEXTOR-Ausgabe vom 16. August 2024 veröffentlichte Bernd Leukert unter dem Titel „Der soziale Faktor“ einen Artikel über öffentliche und akademische Philosophen. Darin referiert er die kategorische Differenz der beiden, wie sie gestern und heute, in der Presse wie in der Literatur, ausformuliert wird. Vor allem geht er auf Bücher der Philosophen Daniel-Pascal Zorn und Claus Langbehn ein, die das alte Problem thematisieren. Leon Joskowitz, selbst Philosoph, hat daraufhin eine Entgegnung verfasst.

 

Ich habe den Text „Der soziale Faktor“ von Bernd Leukert mit gemischten Gedanken gelesen. Er trägt allbekannte Annahmen über die Differenz von populärer und akademischer Philosophie zusammen, um diese Unterschiede gleich darauf zu relativieren und die Grenze nicht mehr zwischen populär/öffentlich und akademisch/wissenschaftlich, sondern zwischen guter und schlechter Philosophie zu ziehen. Dies ist ein bewährtes essayistisches Vorgehen und die Feststellung, dass es sich beim Philosophieren um eine soziale Tätigkeit handelt, deren Bedeutung sich im Gebrauch zeigt, ist mir sehr sympathisch. Gleichwohl geht der Text am zentralen Problem der zeitgenössischen Philosophie vorbei. Und dieses Dilemma zu verhandeln, ist unabdingbar, wenn über Ausdrucksformen zeitgenössischer Philosophie gesprochen werden soll.

Philosophie ist vieles: Sie ist die Arbeit am Begriff, sie durchleuchtet das menschliche Bewusstsein, sie zieht Grenzen, entscheidet, was legitimer Gegenstand des Denkens ist und was bloß spekulatives Meinen. Philosophie ist eine soziale Praxis, sie ist ein Herrschaftsmittel und zugleich Treffpunkt für alle, die sich in Selbstkritik üben und dem Gespräch den höchsten Wert einräumen. Philosophie ist Strenge und Güte zugleich. Sie ist ihrem Wesen nach analytisch, und sie muss eine Haltung verkörpern, um nicht beliebig zu werden – vielleicht gar eine Ethik in sich bergen, um nicht als Topfpflanze auf den Fluren der Elfenbeintürme zu enden.

Philosophie schwebt nicht. Philosophie braucht Köpfe und Körper, sie ist zutiefst menschlich, ohne Neugier und Staunen setzt sie sich nicht in Bewegung. Wohin sie dann will, ist eine andere Frage – unzählige Wege sind beschritten worden seit der Antike. Weltanschauungen wurden entworfen und sind zu Staub zerfallen. Sicher geglaubte Annahmen vom Wind der Geschichte verweht. Man darf annehmen, dass besonders die historisch gebildeten Philosophen und Philosophinnen um die Fluidität des philosophischen Denkens wissen – und sich um die Erneuerung und Weiterentwicklung des Denkens bemühen. 

Die Realität sieht jedoch anders aus.
Und damit komme ich zur Kritik an dem Text „Der soziale Faktor“ und zum Kern dessen, was ich hier zu sagen habe: Philosophie – gleich ob öffentlich oder akademisch – in der bürgerlichen Gesellschaft ist gelähmt durch die geisteswissenschaftlichen Form des Verweises. Kaum eine moderne Philosophie kommt ohne Verweise und Zitate aus. In Seminaren, in privaten sowie in öffentlichen Gesprächen wird das freie Denken durch die Anrufung berühmter Personen eingeschränkt. Nicht nur in dem Text „Der soziale Faktor“ wimmelt es von Namen bekannter und berühmter Philosophen (keine *innen). Diese Autoritäten anzurufen hat mehrere Funktionen. Man verweist darauf, dass ein Gedanke nicht an den Haaren herbeigezogen ist, nicht in der Luft hängt, sondern im Gegenteil auf den Schultern von Riesen steht. Man sichert sich ab, zollt den Kollegen Respekt, bezieht sich auf bereits Gedachtes und nimmt den Faden des uralten Gesprächs zwischen freien Geistern auf. Man zeigt an, dass das Denken an diesen Stellen vertieft werden kann. Die entsprechenden Quellen werden vermerkt, damit die Leser*innen dort eigenständig nachprüfen und weiterlesen können. Dies alles sind respektable Verfahren, um nicht ein ums andere Mal von vorne beginnen zu müssen.

Und doch: hier ist eine Ursache, die zum Verfall der Philosophie in Deutschland seit dem Tod Adornos geführt hat. Der ständige Verweis auf die berühmten Urväter des philosophischen Denkens lähmt uns. Er schließt diejenigen aus dem Gespräch aus, die den Jargon nicht beherrschen. Er bricht das öffentliche Denken ab, weil die Nennung eines großen Namens suggeriert, dass damit alles gesagt sei. Das Gegenteil ist der Fall. Wer im philosophischen Gespräch sich des Name-Dropping bedient, bricht das Denken ab. Statt sich Kraft des eigenen Verstandes durch die Probleme hindurchzudenken, versteckt man sich hinter den großen Namen. Zu faul, um die Probleme eigenständig zu durchdringen, zu feige, um die Überlieferung kritisch zu hinterfragen. Als wäre mit dem Kampf der Aufklärung gegen die Scholastik die Sache ein für alle Mal entschieden, und als hätte sich die Sache mit der Dialektik der Aufklärung erübrigt. Als kenne niemand mehr die Kraft des kritischen Denkens aus eigener Erregung, als fehle die Bereitschaft, um mit offenem Visier in den Kampf gegen die Bürokratisierung des Geistes zu ziehen. Überall stehen die Zeichen auf Anbetung der Toten.

Die Anrufung von Autoritäten, namentlich: toter Männer – ist das Unheil aller zeitgenössischen Philosophie! 

Wir fallen in religiöse Denkmuster zurück, der Wert von selbständig gedachten Gedanken zerbröselt vor den verstaubten Regalwänden. Wir gehen vor den Gesamtausgaben unserer Klassiker in die Knie, vielerorts ist die wissenschaftliche Philosophie zur historischen Philologie geschrumpft. Dieser Geisterbeschwörung zu entsagen und dieser Sackgasse zu entkommen ist die wichtigste philosophische Aufgabe unserer Generation. Mehr dürfen wir nicht hoffen.
Wohin und was die nächsten denken werden, steht in den Sternen. Dies zu antizipieren ist unsere Aufgabe nicht. Aber ein neues Feld zu finden, ein freies, weites Feld, und einige Werkzeuge dort zu lassen: genaues Beobachten, Zuhören, Analyse, Synthese, Strenge, Güte – das ist alles, was der Weltgeist von uns erwartet.

Erstellungsdatum: 08.09.2024