„Kriege lass andere führen, du glückliches Österreich, heirat‘! / Denn was den anderen Mars, Venus, die Göttin gibt’s dir.“ Mit diesem Distichon – im lateinischen Original heißt es „Tu felix Austria“ – umschrieben die Habsburger ihren Landgewinn durch Heiratspolitik. Venus hat sich jetzt offenbar entfernt. Die politischen Verhältnisse haben einen rechtsextremen Mann an die Regierung gebracht, der aus Österreich ein ganz anderes Land machen will. Matthias Buth kommentiert die Situation.
Denk ich an Öst ‘reich in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
Heinrich Heine kam nicht aus Wien, er kam aus dem Rheinland, aus Düsseldorf und starb 1856 in Paris, im Marseillaise-Land, das ihn aufnahm. Seine Heimat hatte er mitgenommen: seine Sprache. Sie hielt ihn über Wasser bis zum Tod, dieses mitreisende Vaterland blieb ihm. Deutschland „das kerngesunde Land“ ist Heine-Land, das Sprachland, keine ethnische Wagenburg.
Aber spricht Heine heute nicht auch von der Alpenrepublik, das uns Deutschen Heimat ist, auch Heimat ist, weil auch hier die deutsche Sprache wohnt? Wer will eine „Festung Österreich“, wer sprach nochmal von der „Alpenfestung“? Nein, wir haben in Berlin, Köln, Hamburg, Dresden oder München immer Sehnsucht nach Österreich, ein Mutterland, ein Land der Musik und des Unterwegsseins zu sich. Und umgeben von Tabus.
Erwin Chargaff, 1905 in Czernowitz geboren, als die Bukowina noch Habsburger Kronland war, er also Österreicher, der große Essayist und Biochemiker, der die DNA entschlüsselte und fast hundertjährig 2002 in New York starb, hat allen in Österreich und Deutschland eine klassische Erkenntnis hinterlassen, nämlich: „Wer zuweilen im Zwischenreich leben darf, verlässt es niemals ganz. Es ist, als lebte er glücklich gespalten in zwei Welten“. Herrlich, ein Satz wie eine Lupe – auf Österreich, auf Deutschland, ja, auf jeden Menschen. Das ist ein Denken in der Geistestradition des Böhmen Karl Kraus, der 1936 in Wien zu Grabe getragen wurde und damit die Zeitschrift „Die Fackel“, die er 37 Jahre herausgab und überwiegend selbst schrieb.
Österreich ist uns in Deutschland nie egal, nie irgendwie abseitig, sondern ist ein Kristallisationspunkt für unser nationales Selbstverständnis. Wir sind eben verschwistert. Das wollen manche nicht wahrhaben, meinen, wir seien die „Piefkes“ und Österreich sei von der deutschen Kulturnation (von der „europäisch gewachsenen Kulturnation“, wie es im Deutsche Welle Gesetz heißt) weit entfernt.
Blickt man auf die Geschichte, stellen sich andere Befunde ein. Besonders das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war mehr als eine Klammer, es bildete einen politischen wie kulturgeschichtlichen Gestaltungsraum vieler Völker, besonders der dominierenden sieben deutschen Kurfürstentümer. Der Zusatz „Deutscher Nation“ wurde ab dem späten 15. Jahrhundert gebräuchlich (auch im sogenannten Kölner Reichsabschied von 1515 dokumentiert) zur Selbstbezeichnung jenes Reiches, das dem Imperium Romanum folgen sollte unter christlichem Impetus. Der Zusatz „Deutscher Nation“ wird in der Wiener Geschichtsschreibung schon mal weggelassen aus Sorge um das eigene staatliche und so österreichische Selbstverständnis.
Zehn Herrscher aus der Dynastie der Habsburger waren Kaiser eben dieses Reiches. Als Napoleon das Heilige Römische Reich zerschlagen wollte und mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 die Enteignungen der Klöster in Gang brachte, brachen die Strukturen und das Reich wankte. Napoleon wollte es beseitigen. Kaiser Franz II. kam ihm zuvor und legte die Krone am 6. August 1806 nieder. Seitdem liegen die Kaiserinsignien in der Wiener Hofburg und werden nie für Ausstellungen herausgegeben – gehütet wie der heilige Gral.
Und wer waren jene Habsburger Kaiser? Es waren Rudolf I. (1273-1291), Maximilian I. (1493-1519), Karl V. (1576-1556), Rudolf II. (1576-1612), Ferdinand II. (1619-1637), Ferdinand III. (1637-1657) Leopold I. (1658-1705), Karl VI. (1711-1740), Franz I. (1745-1765) bis eben Franz II. (1792-1806), der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ins Grab legte. Der Begriff „Deutsch“ hatte in diesem Reich zwei Aspekte, zum einen wurde es von den Herrscherdynastien (und eben nicht vom Demos, vom Volk, durch die Französische Revolution von 1789) geprägt und zum anderen von der Sprache, eben des Deutschen, das sich aus der französischen Sprache der Höfe und der lateinischen der Klöster heraus emanzipierte – als Sprache des Rechts und der Verständigung. Deutsch und deutsch sind etymologisch verbunden. Die Bibelübersetzung durch Martin Luther führte zum Verständnis der Sprachnation der deutschen Territorien, das erst 1871 zum Begriff Deutschland führte, aber schon in Namen „Deutscher Bund“ von 1815 bis 1866 implementiert war, jenen Staatenverbund, zum dem das 1804 neu entstandenen Habsburger Kaiserreich bis 1866 gehörte. Franz II. wollte in Konkurrenz zu Napoleon, der durch Selbstkrönung am 2. Dezember 1804 als Kaiser firmierte, erblicher Kaiser eines eigenen Staates sein, denn das Heilige Römische Reich war ein Staatenbund, ähnlich wie die Europäische Union heute.
Österreich war bestimmend für die deutsche Geschichte in Europa und blieb nach 1789, wo in der Französische Revolution die Idee des Nationalstaates entwickelt wurde, oft in einem Zwischenstadium, immer bemüht, eine neue staatliche Rolle und Identität zu finden, so wie andere Länder auch, eine Entwicklung, die schon mit den Religionskriegen des Dreißigjährigen Krieges begann. Der Westfälische Friede von 1648 war nur eine Wegmarke.
Dass Österreich sich als deutschen Staat verstand, dokumentierte sich im 20. Jahrhundert zwei Mal. Nach dem Ersten Weltkrieg beschloss am 12. November 1918 die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich den drei Tage „Deutschösterreich“ genannten Staat als demokratische Republik. Die Siegermächte unterbanden jedoch den Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich 1919 im Vertrag von Saint-Germain, indem in Artikel 88 ein förmliches Unabhängigkeitsgebot für Österreich bestimmt wurde. In Österreich und Deutschland wurde der Artikel als Anschlussverbot bezeichnet. Die Initiative zum Anschluss ging besonders stark von Wien aus.
Adolf Hitler wurde vom Reichspräsidenten v. Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Kanzler ernannt, nachdem in der demokratischen Reichstagswahl vom November 1932 die NSDAP mit 33,1 % die stärkste Partei geworden war. Zum Diktator wurde er erst durch das sogenannte Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, RGBl. I S. 141), als er diktatorische Macht an sich riss und Deutschland „gleichschaltete“, d.h. Reichstag und Reichsrat ausschaltete und auch ohne Gegenzeichnung des Reichspräsidenten Gesetze erlassen konnte. Dadurch entstand auch für Österreich eine neue Lage. Durch die NSDAP betrieb der geborene Österreicher Hitler die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Der Anschlussgedanke war bei den meisten Österreichern, die sich als Deutsche verstanden, seit 1918 populär geblieben.
Der 13. März 1938 – der Anschlusstag – war ein schauerliches Ereignis, die Szenen auf dem Wiener Heldenplatz sind eintätowiert in die Gedächtnishaut der Österreicherinnen und Österreicher, aber auch der Deutschen. Auf diesen Tag lief eine Entwicklung zu, die man gerne verdrängt und die doch Deutschland und Austria verbindet, verbindet im Schrecken: der austrofaschistische Staat unter Seyß-Inquart besiegelte am 13. März die staatliche Vereinigung mit Deutschland durch das von der Bundesregierung beschlossene Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Damit endete die rechtliche Existenz des diktatorischen österreichischen Bundesstaates und seine Bundesbürger wurden rückwirkend zu deutschen Staatsbürgern. Der Begriff „Wiedervereinigung“ passte indes 1938 genauso wenig wie am 3. Oktober 1990, als die DDR sich der Bundesrepublik Deutschland anschloss. Am 27. April 1945 wurde der sogenannte Anschluss als ex tunc, also als von Anfang für nichtig erklärt; die Rote Armee hatte Wien erobert und bestand darauf – und forderte vom demokratischen Österreich die immerwährende Neutralität.
Ich habe mich zwar hingegeben, doch nur weil ich gemußt.
Geschrien habe ich nur aus Angst und nicht aus Liebe und Lust.
Und daß der Hitler ein Nazi war – das habe ich nicht gewußt
Der Dichter Erich Kästner brachte es auf den Punkt. Gedichte wissen oft mehr. Österreich als Opfer des NS-Terrorstaats Deutsches Reich? Geschichte ist immer Gegenwart und stets Teil der Politik, welche die Wahrnehmung historischer Ereignisse steuert, genau, ungenau und oft auch verfälschend. Putin ist ein Beispiel: Er sieht die russische Welt ist „dem Westen“ überlegen, dem Heiligen nah.
Ja, und im Österreich der Gegenwart breiten sich Sorgen aus. Politische Befürchtungen, die in der Geschichte wurzeln. Die FPÖ ist vom SS-Führungsleuten gegründet worden, was schon bemerkenswert ist. Wichtiger und ein Indikator für das Österreich der nahen Zukunft ist die Sprache der Politik, also das, was Herr Kickl sagt, verbunden mit dem erkennbar Ungesagten.
Österreichs Liedermacher Rainhard Fendrich („Es lebe der Sport“, „I am from Austria“) hat größte Bedenken angesichts einer sich abzeichnenden Regierungsübernahme durch die rechte FPÖ. „Ich habe Angst vor der Rohheit der Sprache und vor einer Isolation Österreichs in der Weltgemeinschaft“, sagte der Sänger der Deutschen Presse-Agentur.
Er habe sich noch nie so um die Demokratie gesorgt. Schon jetzt würden sich viele seiner Künstler-Kollegen aus Angst vor einem rechten Shitstorm nicht mehr öffentlich äußern, sagte der 69-Jährige.
Ausgehend vom Memorandum von 150 Kulturschaffenden Anfang Januar 2025 von Eva Menasse, Erika Pluhar, Michael Köhlmeier, Esther Kinski und Elfriede Jellinek bis zu den Senatsratsvorsitzenden der Universitäten haben die Proteste nun die Straßen erreicht. 25.000 waren es auf Demonstrationen in Wien, wo zu lesen war „Heil Kickl hört sich echt scheiße an“. Kickl sieht im Ungarn-Orban seinen Eideshelfer, sieht sich getragen auf einer Welle der Rechtspopulisten in Europa. Italiens Regierungschefin Meloni hat keine Berührungsängste mit einem Mussolini-Staatsverständnis, in Frankreich befeuert Frau Le Pen ein Denken, das die EU zerstören will, die Europäische Union, das größte Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg. In Österreich ist deutsche Geschichte der Gedankenboden. Was in der Alpenrepublik gesagt und gefordert wird, geht uns in Deutschland etwas an. Zeitungen wie „Der Standard“ fürchten, dass sie ihren Status als freies Medienunternehmen verlieren werden. Ähnliche Sorgen gibt es beim ORF.
„Dass jemand, der sich selbst Volkskanzler titelt – ein Titel, den sich zuletzt Adolf Hitler gegeben hat –, nun möglicherweise österreichischer Bundeskanzler werden soll, weckt in uns jungen Jüdinnen und Juden und in der jüdischen Gemeinde ganz dunkle Erinnerungen.“ Das sagte Alon Ishay, Präsident der Jüdischen österreichischen HochschülerInnen (JöH). Wen lassen solche Worte kalt? Mich nicht, denn ich liebe Österreich, das Schubert-Land, die Wiener Klassik, liebe das Land von Joseph Roth, Stefan Zweig und Georg Trakl sowie von Paula Ludwig, Hertha Kräftner, Friederike Mayröcker, Daniel Kehlmann oder besonders Ruth Klüger.
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe
Das dichtet uns seit 1953 Ingeborg Bachmann immer noch zu, auch jetzt im Jahr 2025. Gestundete Zeit? Wir wollen es nicht glauben. Austria in uns? Heine meinte im „Wintermärchen“ vielleicht auch Deutschlands nahe Schwester oder die kranke Mutter, die uns erhalten bleiben muss als freies Land der Dichtung und Musik.
Liebe ist ein süßes Licht.
Wie die Erde strebt zur Sonne,
Und zu jenen hellen Sternen
In den weiten blauen Fernen,
Strebt das Herz nach Liebeswonne.
Diese Verse von Ludwig Rellstab setzte Franz Schubert in Musik. Und so ist Österreich. So muss es bleiben.
Erstellungsdatum: 29.01.2025